Chinas zweite Kulturrevolution

Chinas Aufstieg gründet sich nicht nur auf billiger Arbeitskraft, sondern auch auf dem Wiedererstarken der konfuzianischen Philosophie, von Harmoniestreben und Bildungsfleiß. Eine Herausforderung für den Westen? Manfred Osten analysiert.


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China ist jenes Land, an dessen Grenze zu Russland Alexander von Humboldt 1829 zu seinem großen Bedauern umkehren musste, um nach St. Petersburg zurückzukehren. Bei seinem starken Interesse für Asien hat er möglicherweise Kenntnis gehabt von der bahnbrechenden Schrift Novissima Sinica (1697) des Philosophen Leibniz, in der bereits das Phänomen beschrieben wird, das als das eigentliche Betriebsgeheimnis der rasanten Erfolgsgeschichte Chinas in den letzten 30 Jahren bezeichnet werden kann: Die bislang kaum beachtete Wirkmächtigkeit der zentralen konfuzianischen Wertorientierung (Bildung und lebenslanges Lernen) ist einer der wichtigsten Erfolgsfaktoren Chinas im Prozess der Globalisierung. Das gilt vor allem für den Aspekt des Know-how-Transfers und die rasche Entwicklung einer chinesischen Wissens-Rückgewinnung der ursprünglichen szientistischen und technologischen Überlegenheit Chinas gegenüber dem Westen. Daraus ergeben sich Konsequenzen für die Zielsetzungen der chinesischen Industrie-, Wirtschafts- und Wachstumspolitik vor dem Hintergrund der (vom Westen weitgehend ignorierten) soziokulturellen und historischen Bedeutung des Konfuzianismus vor allem für die Bereiche Erziehung, Bildung, Exzellenz-Förderung, Grundlagenforschung und Rezeption westlicher Spitzentechnologien. Doch zunächst zurück zu Leibniz.

Seine Informationen über China stützte Leibniz im 17. Jahrhundert auf Bücher, Gespräche und Briefwechsel mit Jesuiten, die bei einem der mächtigsten Kaiser der chinesischen Geschichte, K’anghsi, in hohem Ansehen standen. Leibniz wollte es allerdings nicht bei diesen hilfreichen Missionaren des Westens in China belassen. Er forderte vielmehr – mit erstaunlicher Kühnheit – in der Novissima Sinica China ausdrücklich auf, auch seinerseits nunmehr Missionare in den Westen zu entsenden, „zur richtigen Anwendung und Praxis des Verhaltens der Menschen untereinander“.

Leibniz verlangte vor allem eine gründliche Analyse des Konfuzianismus, die dazu beitragen könnte, auch etwaige Konvergenzen mit christlichem Gedankengut sichtbar werden zu lassen. Er krönte diese Vision eines Transfers konfuzianischen Denkens nach Europa schließlich mit einer noch kühneren Idee, deren Brisanz für das 21. Jahrhundert auf der Hand liegen dürfte. Er plädierte nämlich in der Novissima Sinica für eine neue Weltsprache und war davon überzeugt, dass die chinesische Schrift und Sprache hierfür optimal geeignet sei. Er schlug daher kurzerhand vor, einen „Clavis Sinica“ zu entwickeln. Das heißt, einen Schlüssel zum erleichterten Erlernen und Beherrschen der chinesischen Sprache und Schrift in Europa.

Mit über dreihundertjähriger Verspätung haben nun zumindest einige Leibnizsche Überlegungen überraschend Aussichten, realisiert zu werden. Nachdem China im 20. Jahrhundert noch zweifelte, ob sich das Land überhaupt ausländischen Einflüssen öffnen und seine Kultur offensiv im Ausland präsentieren sollte, ist nun eine Wende vollzogen. Nach dem wirtschaftlichen Aufschwung sind offensichtlich Energien und Ressourcen frei, sich der kulturellen Identität und deren Export zu widmen.

Sicher ist, dass China offenbar von der Überlegenheit seiner Sprache gegenüber der westlichen, alphabetischen Sprache überzeugt ist, wie auch der seit zehn Jahren stattfindende massive Aufbau von Konfuzius-Instituten im Ausland zeigt.

In seinem bahnbrechenden Werk Poesie der Tang-Epoche (1862) hatte Marquis d’Hervey Saint-Denys bereits ausführlich das System des chinesischen Piktogramms vorgestellt und positiv auf dessen bildliche Korrespondenz zu elementaren Naturphänomenen hingewiesen. Inzwischen werden alle diese Lobpreisungen der chinesischen Sprache auf moderne Weise bestätigt, nämlich neurowissenschaftlich. Denn in den Proceedings (Band 102) der amerikanischen Nationalen Akademie der Wissenschaften lassen sich die Forschungsergebnisse der Universitäten in Hongkong und Washington zum Erwerb der chinesischen Sprache nachlesen: Zur hohen Ausbildung akustischer und visueller Kompetenz gesellt sich unter anderem die intellektuelle Fähigkeit rascher Worterkennung und entsprechender Lesefähigkeit. Wobei die notwendigen Handbewegungen bei der Fixierung der Schriftzeichen auch noch den Vorteil haben, dass die Zeichen offensichtlich auf Grund dieser Schreibbewegung besonders gut neuronal gespeichert werden und damit also die Memorierfähigkeit deutlich gefördert wird.

Konfuzius

Wer war dieser chinesische Denker, der dem Prinzip des lebenslangen Lernens zu höchstem Ansehen verholfen hat? Sein Name steht weltweit für die wichtigste philosophische, ethische und gesellschaftspolitische Gedankenströmung Chinas, den Konfuzianismus. Es war und ist ein rationalistisch argumentierendes und zusammenhängendes Denksystem, das erste dieser Art in der chinesischen Geschichte. Und es ist ein Denksystem, dessen Wirkmächtigkeit bis in die Gegenwart hineinreicht. Wie die Große Mauer ist Konfuzius zum Symbol für China geworden. Und es ist dieser Konfuzianismus, der als prägendes kulturelles Gedanken- und Wertesystem für die gesamte ostasiatische Region steht.

Nach 1978 wurde Konfuzius aber auch auf dem chinesischen Festland wieder aufgewertet als aufgeklärter, um die Staatsordnung verdienter Geist. Das heißt, die Rückbesinnung auf Konfuzius (nach seiner Diskreditierung während der Kulturrevolution) setzte bezeichnenderweise ein, als mit Deng Xiaoping erfolgreich Reformen in Richtung (Staats-) Kapitalismus auf den Weg gebracht wurden. Und dies in einer notorischen Händlernation, die eindeutig zu den Globalisierungsprofiteuren zählt. Denn China verfügt heute über jene drei großen Parameter, die die Wirtschaft boomen lassen wie in keinem anderen Land der Welt: Kapital, Arbeitskraft, Know-how.

Eine wirtschaftliche Erfolgsgeschichte, bei der inzwischen freilich erhebliche Kollateralschäden ökologischer, demographischer und sozialer Natur sichtbar werden. Von den genannten drei großen Parametern des chinesischen Wirtschaftserfolgs ist allerdings der Faktor Know-how im Westen bislang erstaunlich wenig wahrgenommen worden. Und es ist dieser geistige Faktor, dessen Erfolgsgeschichte im Bereich Bildung und Wissenschaft seit Deng Xiaoping vor allem der chinesischen Konfuzius-Renaissance geschuldet ist. Eine Renaissance, die aber auch innenpolitisch inzwischen an Bedeutung gewonnen hat. Bietet sich doch das Prinzip des Gemeinsinns im Sinne der traditionellen chinesischen Familiensolidarität als ein mögliches Rettungsmittel an, um im Felde der Sozialpolitik diese durch die 1-Kind-Politik schwer angeschlagene Tugend wieder zu revitalisieren. So erscheint es denn rückblickend auch als konsequent, dass der alle konfuzianische Tugenden vermittelnde Begriff der „Harmonie“ spätestens 2007 zur Universalformel der chinesischen Politik und Staatsdoktrin und schließlich auch zur Zentralformel der olympischen Eröffnungszeremonie avancierte.

Harmonie als Universalformel

Man erinnerte sich an die Einsicht des Konfuzius im Lun Yü, wo es heißt: „Der Edle harmonisiert, aber er macht nicht alles gleich; der Gewöhnliche macht alles gleich, aber er harmonisiert nicht.“ Mittlerweile ist der Begriff zur Universalformel geworden, die von Funktionären, Fernsehmoderatoren und anderen bei jeder Gelegenheit in den Mund genommen wird. Ob es um die Reform der Hochschulen oder neue Umweltgesetze, um die Ausbreitung des Buddhismus oder die Regulierung des Internets, um Familienplanung oder Leseförderung geht: immer ist der Aufbau einer „harmonischen Gesellschaft“ das letzte Ziel.

Konfuzius also als der wiederentdeckte Garant zur Erhaltung der Stabilität und Ordnung, der sich gleichzeitig auch eignet als Referenzgröße für eine inzwischen auch von chinesischen Diplomaten gern erwähnte „harmonische Weltordnung“. Das heißt vor allem: friedlicher Interessenausgleich und die Verteidigung einer multipolaren Weltordnung. Was für China vor allem bedeutet: strikte Ablehnung jeder „Einmischung in innere Angelegenheiten“ – zum Beispiel auch dort, wo es um die Frage der „Menschenrechte“ geht. Konfuzianische Stabilität und Chaos-Überwindung also als eine geniale Spagatübung zur Rechtfertigung gesellschaftlicher Restriktionen einerseits und zur Legitimierung kultureller Identität andererseits. Die „Harmonie“ des Konfuzius als die große innenpolitische Neutralisierungsformel, die zwar den wachsenden Pluralismus in China begünstigt – aber immer unter der Bedingung, dass alle Äußerungen dieses Pluralismus ihr, der „Harmonie“, nicht widersprechen.

Nach den intellektuellen und wirtschaftlichen Verwüstungen der Kulturrevolution unter Mao Zedong (1966–1977) – im Namen übrigens einer aus Deutschland importierten Ideologie – besinnt sich das moderne China also auf seine eigenen kulturellen Ressourcen. Und damit zugleich auch auf die Tatsache, dass China die älteste Hochkultur der Welt ist, die nicht unterging oder zu einem kleinen heutigen Staat erodierte, wie z.B. die Hochkulturen Ägyptens oder Griechenlands.

Leibniz hatte in der Novissima Sinica vorgeschlagen, dass China auch in Sachen der harmonischen Gesellschaft eigentlich Europa belehren müsste, denn die „Lage unserer Verhältnisse scheint solcherart zu sein, dass ich, da die Verderbnis der Sitten ins Unermessliche anschwillt, es fast für nötig halte, dass chinesische Missionare zu uns gesandt werden, welche uns den Zweck und die Übung natürlicher Theologie lehren, wie wir Missionare zu ihnen schicken, um sie in der geoffenbarten Religion zu unterrichten. Daher glaube ich, dass, wenn ein weiser Mann zum Richter bestellt würde – nicht über die Gestalt der Göttinnen, sondern über die Vorzüglichkeit der Völker –, er den goldenen Apfel den Chinesen reichen würde.“

Die Lerngesellschaft

Neben dem Gedanken der Harmonie-Gesellschaft ist für das moderne China von größter Wirkmächtigkeit der konfuzianische Gedanke der Lerngesellschaft. Bekanntermaßen wird im konfuzianischen Begriff des Lernens eine Quasiidentität des Lernens mit dem Phänomen des Nachahmens (und Kopierens) als selbstverständlich vorausgesetzt. Mit der natürlichen Folge, dass der Lehrende damit zugleich avanciert zum Idealtypus desjenigen, den es nachzuahmen, dem es nachzueifern gilt. Ein Zusammenhang, der zusätzlich erhellt, warum die konfuzianische Lerngesellschaft dem Lehrer in der geistig-sozialen Hierarchie die höchste Stellung zuweist. Eine Tatsache, die unverändert auch heute wieder für das chinesische Bildungssystem gilt, mit der bewährten Zielsetzung, die Chu Hsi als Wort des Konfuzius überliefert hat: „Wer es versteht, das Alte lebendig zu machen, um neue Erkenntnisse daraus zu gewinnen, den kann man als Lehrer gelten lassen.“ Das aber heißt, dass Bildung durchaus verstanden wird als gedächtnisgestützte Urteilskraft, in der Zukunftskompetenz verschwistert ist mit Herkunftskompetenz. Eine Einsicht, die schon Kierkegaard auf die im Westen zunehmend in Vergessenheit geratene Formel gebracht hat, dass das Leben zwar nach vorwärts gelebt wird, aber nur nach rückwärts verstanden werden kann.

Schließlich zeichnet sich die konfuzianische Lernkultur durch die Tatsache aus, dass sich aus dem Respekt gegenüber dem Lehrer konsequent alle Sekundärtugenden ableiten, wie: Verantwortung, Dankbarkeit, Höflichkeit, Disziplin usw. Und es liegt auf der Hand, dass für diese Lerngesellschaft die Sekundärtugenden zugleich verstanden werden als Primärtugenden der Harmonie- und Konsenskultur.

Hinzu kommt das Bewusstsein, dass China noch bis zum 17. Jahrhundert die technologisch fortschrittlichste Nation der Welt war. Diesen Status gilt es jetzt wieder zu erreichen durch Rückgriff auf die 2.500 Jahre alte Hochschätzung der Bildung durch den Philosophen Konfuzius in einem rohstoffarmen Land. In der Folge macht China vor allem in den technischen Disziplinen zunehmend Boden gut. Zum Vergleich: Deutschland, stellt die OECD fest, sei weder in der Lage, die frei werdenden Arbeitsplätze bei Ingenieuren oder Lehrern in den nächsten Jahren mit eigenem Nachwuchs zu besetzen, noch kann es auf den weiteren Trend zur Höherqualifizierung reagieren. Auf 100 aus Altersgründen ausscheidende Ingenieure kämen in Deutschland nur 90 Nachwuchskräfte: International aber stünden für 100 Ingenieur-Pensionäre 190 Absolventen zur Verfügung – ein Überangebot statt des Mangels hierzulande, das vor allem für China gilt, wo jährlich 600.000 Ingenieure die Hochschulen verlassen.

Zurück ans Heimatufer

China erlebt inzwischen eine intellektuelle Renaissance, die durchaus vergleichbar ist mit der Aufbruchstimmung der europäischen Renaissance im 16. Jahrhundert. In China – mit demnächst 1,4 Milliarden Menschen – haben in den letzten 20 Jahren von 250 Millionen Grundschülern jährlich über fünf Millionen die horrend schwierigen Aufnahmeprüfungen an den Universitäten bestanden. Ein gnadenloses Aufnahmeverfahren rekrutiert auf diese Weise ein ständig wachsendes Heer gut ausgebildeter Arbeitskräfte. China hält hierbei weltweit auch den Rekord an Studenten, denen ein Studium im Ausland ermöglicht wurde. Dies gilt vor allem für Studierende in den USA und in Großbritannien, wo Chinesen schon seit Jahren den größten Anteil an ausländischen Studierenden stellen.

China hat diese Entwicklung gefördert und genau verfolgt. Und es beginnt jetzt, seit etwa zehn Jahren, diese Auslandstudenten wieder an China zurückzubinden durch massives Werben mit Fördermöglichkeiten im Inland. China ist hierdurch erfolgreich bei dem Versuch, den akademischen Braindrain, vor allem nach den USA, umzukehren: Von den 600.000 chinesischen Auslandsstudenten der letzten 20 Jahre sind inzwischen über 200.000 nach China zurückgekehrt als sogenannte hai gui. Wobei hai das chinesische Wort für das Meer ist. Und gui steht für Zurückkehren, aber auch für die Schildkröte. Womit sich die Vorstellung verbindet, dass der an chinesischen Ufern geborene Nachwuchs im amerikanischen Meer aufwächst, um dann ans Heimatufer zurückzukehren.

Das Ergebnis ist jedenfalls eine rapide wachsende Wissensgesellschaft in einem Land, das noch einen weiteren Weltrekord im Know-how-Bereich aufweisen kann. In keinem anderen Land steigen zurzeit so sprunghaft die privaten Bildungsausgaben und -rücklagen wie in China. Nach Expertenschätzungen investierten auf diese Weise chinesische Eltern 2007 über 90 Milliarden Dollar für die Ausbildung ihrer Kinder. Über 50 Prozent chinesischer Teenager gaben im übrigen nach jüngsten Meinungsumfragen eine erfolgreiche Karriere als höchstes Lebensziel an.

Die Leistungs- und Motivationsgrundlagen für diese ehrgeizigen Zielsetzungen werden in China – anders als im Westen – bewusst im frühestmöglichen Kindesalter – also in der Zeit größtmöglicher Plastizität des menschlichen Gehirns – gelegt. Das heißt, es gilt bereits bis zum vierten und fünften Lebensjahr mehrere hundert chinesische Ideogramme zu beherrschen, um die Aufnahmeprüfung in einem guten, nach Möglichkeit privaten Kindergarten zu bestehen. Denn der Trend weg vom staatlichen zum privaten Kindergarten setzt sich in China unvermindert fort. Entsprechend teure Kindergartenplätze werden ohne Zögern bezahlt – nach Angaben amerikanischer Unternehmen in einigen Fällen sogar bis zu 10.000 Dollar im Jahr. Diese sehr frühe Förderung ist in China inzwischen routinemäßig verbunden mit gezieltem frühkindlichem Erwerb englischer Sprachkenntnisse und einer starken Ausbildung musischer Kompetenz vor allem durch Ballett- und Klavierunterricht.

Der frühe intellektuelle Wettbewerbsdruck setzt sich dann von der Kindheit an fort und kulminiert in den erwähnten dreitägigen rigorosen Aufnahmeprüfungen der Universitäten. Eine Prüfungstradition, die zum festen Kanon des Konfuzianismus spätestens seit der Han-Zeit (also seit 200 Jahren nach Christus) zählt. Auf Grund des von Konfuzius propagierten Prinzips des Bildungsadels (anstelle des europäischen Prinzips des Erbadels) hatten auf diese Weise seit Jahrtausenden in China junge Menschen auch aus der Provinz die Chance, aufzusteigen in die höchsten Sphären der kaiserlichen Macht und Verwaltung.

So, wie bei den Herausforderungen Chinas als Wirtschaftsmacht der Einwand naheliegt, dass diese Entwicklung konterkariert werden könnte durch große ökologische, soziale und demographische Probleme, so sehr liegt gegenüber dem chinesischen Lern- und Erziehungsdrill auch der Einwand nahe, dass es sich hierbei um ein System mit möglichen Stressfolgen und geringem kreativen Reflexionsvermögen handelt.

Bildungsreform

Aber auch diesem Einwand, der letztlich für die gesamte konfuzianisch geprägte Region Asiens gilt, begegnet China bereits seit Ende der neunziger Jahre mit einem umfassenden und gezielten Bildungsreform-Programm. Es ist nämlich geplant, die erkannten Nachteile zu korrigieren durch neue Curricula, neue Schulbücher und einen stärker diskurs- und dialogorientierten Englischunterricht unter der Mitwirkung angelsächsischer Reformpädagogen. China hofft, auf diese Weise demnächst auch zur Weltspitze der Nobelpreisträger vorzustoßen.

Ähnlich ehrgeizige reformorientierte Lehrpläne unter Mitwirkung ausländischer Professoren verfolgen bereits seit einiger Zeit die beiden Eliteuniversitäten mit Vorbildfunktion für weitere Spitzenuniversitäten des Landes: die Beida- und die Tsinghua-Universität in Peking. Beide Universitäten folgen dem Prinzip amerikanischer Eliteuniversitäten und damit auch letztlich der Denkschrift Wilhelm von Humboldts: dass nämlich ein für die akademische Elitebildung optimales Zahlenverhältnis angestrebt werden sollte, von einem Professor mit wenig mehr als zehn Studenten. Mit der Folge, dass jährlich unter riesengroßem Andrang nur 2.000 Studenten in die Tsinghua-Universität und 3.000 Studenten in die Beida-Universität aufgenommen werden.

Und Konfuzius? Kann er als Namenspatron seiner Institute im Westen wirklich auf eine Renaissance hoffen? Als besonders effizient erweist sich jedenfalls in China das große, auf Familienbasis praktizierte Interesse im Bereich der erwähnten hohen privaten Bildungsinvestitionen. Gerade hier zeigen sich Besonderheiten, die unser westliches Bildungssystem in vielerlei Betracht als Herausforderung verstehen könnte. Dazu zählt das ausgeprägte Verantwortungsbewusstsein der Eltern als primär zuständige Referenzadresse für die Entwicklung hoher Lern- und Leistungsbereitschaft der Kinder im Vorschulalter. Das heißt, anstelle der notorischen westlichen Forderung nach der Zuständigkeit und Verantwortung des Staates auch für diesen Bereich gilt in China die Einsicht der Weimarer Klassik: „Man könnte erzogene Kinder gebären, wenn die Eltern erzogner wären.“ (Goethe)

Wichtig ist in China jedenfalls das Bewusstsein, dass in einem rohstoff-, energie- und nahrungsmittelarmen Land allein die Investition in die Köpfe zählt, das heißt, Bildung, Wissenschaft und Grundlagenforschung entscheidend sind für die Schaffung intelligenter neuer Berufe und Produkte. Ein für den westlichen Betrachter hierbei besonders auffälliges Resultat dieser Einsicht ist die Tatsache, dass in China allein die Durchschnittszahl der Schulstunden pro Jahr und Kind doppelt so hoch ist wie z. B. in Deutschland mit nur 625 Schulstunden.

Wichtig wäre die Einsicht, dass auch wir der Bildung wieder höchste Priorität zukommen lassen sollten. Es versteht sich von selbst, dass hiermit auch eine deutliche soziale Aufwertung des Lehrerberufs einhergehen müsste. Vielleicht ließe sich auch der Bildungsnotstand zum Teil kurieren, wenn man ihn im Lichte der neurowissenschaftlichen Erkenntnis frühkindlicher Lernfähigkeit definieren würde als Erziehungsnotstand. Um daraus dann Folgerungen zu ziehen für neue Konzepte frühkindlichen Lernens, für die die konfuzianische Lerngesellschaft Orientierungshilfe geben könnte. Außerdem sollte Bildung nicht nur verstanden werden als Bologna-Prozess-beschleunigter Erwerb von Zukunftskompetenz ohne Herkunftskenntnisse. Bildung sollte sich – nicht zuletzt im Interesse von Identitäts-Bewusstsein – vielmehr auch wieder verstehen als gedächtnisgestützte Urteilskraft.


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