Das Schachspiel

1813, das Jahr des Befreiungskrieges gegen Napoleon, ist seit zweihundert Jahren Gegenstand zahlreicher Heldenepen. Politische Reformer und militärische Befehlshaber spielen darin zumeist die Hauptrolle. Wichtiger für den Ausgang der Ereignisse war aber ein gänzlich unmilitärischer, den Krieg hassender politischer Reaktionär. Die Entscheidung des Jahres 1813 fiel im Rahmen eines diplomatischen Schachspiels.


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voelkerschlacht_leipzig„Alle Kriege des Kaisers Napoleon waren auf kurze Dauer berechnet“, schrieb im Mai 1812 der preußische Militärstratege Gneisenau in einer Denkschrift an den russischen Zaren. Das konnten sie sein, da sie auf engem geographischen Raum stattfanden, in Norditalien und in Deutschland. Gegen einen Gegner mit hinreichenden Raumreserven, der dem Kampf ausweichen konnte, wenn er wollte, sah die Lage anders aus. In den Weiten des Ostens versagten die Mittel des korsischen Eroberers. Von Napoleons riesigem Heer, das im Sommer 1812 nach Russland aufgebrochen war, kehrten nur Bruchstücke zurück.

Mit der Entscheidung des Zaren, den Kampf über die russischen Grenzen hinauszutragen und zum Befreier Europas vom französischen Joch zu werden, kehrten sich die strategischen Vorzeichen freilich erneut um. Der Krieg kehrte in die Enge Deutschlands zurück. Das Schicksal Napoleons, der sich noch auf dem Rückzug von seiner zerfallenden Armee entfernte, um sein Reich zu retten, war zu Anfang des Jahres 1813 noch lange nicht besiegelt.

Der Krieg kommt nach Preußen

Er hatte ein Heer verloren, doch noch stand halb Europa, vom Atlantik bis zur Elbe, unter französischer Besatzung. Auch die anderen Mächte waren von den vergangenen Kriegen noch geschwächt, durch Kontributionen und die Folgen der Kontinentalsperre oft auch in wirtschaftlicher Not.

Vor allem galt das für Preußen, wohin der Krieg nach dem Willen des Zaren als nächstes getragen werden sollte. In der nationalen Geschichtsschreibung ist nachher die These verbreitet worden, Preußen habe durch seine großen Reformen die Fehler seiner Geschichte behoben und 1813 mit alter Stärke mutig die Gelegenheit zur Befreiung ergriffen. In der Tat ist der Eifer beeindruckend, mit dem das besiegte, verkleinerte und geschundene Preußen nach der Katastrophe des Krieges von 1806 und 1807 an das Reformwerk ging. Verwaltungsreform, Landreform, Bildungsreform, Wirtschaftsreform, Heeresreform. Allein, das meiste davon brauchte viel mehr Zeit, um zu wirken. Preußen war 1813 keine starke und entschlossene Macht, und ob es im Bund mit Russland in der Lage sein würde, Napoleon militärisch zu besiegen, war höchst unsicher. Der König, Friedrich Wilhelm III., ohnehin ein entschlussschwacher Mensch, zweifelte jedenfalls daran und musste zum Krieg gedrängt werden. Die Initiative übernahmen andere. Der General Yorck etwa, der eigenmächtig mit den Russen verhandelte und das Hilfskorps von immerhin 20.000 Mann, das Preußen Napoleon im Russlandfeldzug zu stellen gehabt hatte und das, als Flankenschutz eingesetzt, die Katastrophe weitgehend unbeschadet überstanden hatte, in der Konvention von Tauroggen neutralisierte; Stein, der ehemalige preußische Minister, nun in russischen Diensten; Hardenberg, sein Nachfolger. Am Ende blieb Friedrich Wilhelm keine Wahl. Von Osten her fluteten russische Truppen in sein Land, im besetzten Westen standen die Franzosen. Preußen würde Schlachtfeld sein, so oder so. Im Februar stellte es sich auf die russische Seite und erklärte Frankreich den Krieg. Aber sehr glücklich und zuversichtlich war Friedrich Wilhelm nicht.

Der König hatte nicht unrecht mit seiner Skepsis. Napoleon hatte nichts von seiner Energie und Willenskraft eingebüßt. In Windeseile gelangte ernach Paris und begann mit der Aushebung neuer Truppen. Kein halbes Jahr später stand eine neue Grande Armée an der Elbe. Auch das Feldherrngenie des Kaisers war ungebrochen. Zweimal schlug er die verbündeten Preußen und Russen, bei Großgörschen und bei Bautzen, und schien zu beweisen, dass er ihnen gegenüber immer noch der Stärkere war. Dann schloss er den Waffenstillstand, zunächst auf sieben Wochen befristet. Später hat er das als seinen größten Fehler bezeichnet; im Moment der Tat glaubte er ihn zu brauchen. Durchaus nicht ohne Grund. Die neue Armee war Frankreichs letztes Aufgebot, mit vorzeitig einberufenen Jahrgängen, blutjungen, unzureichend ausgebildeten Soldaten. Es fehlte an Pferden – zu viele waren in Russland zugrunde gegangen – und vor allem an erfahrenen Offizieren. Die Generale waren kriegsmüde. Napoleon wollte Zeit gewinnen, um physisch und moralisch wieder aufzurüsten.

Napoleon und Metternich im Duell

Doch auch die Gegenseite rüstete nach. Und sie hatte die größeren Reserven; vor allem das Heer der formal noch mit Napoleon verbündeten, aber passiven Österreicher. Auf sie kam nun alles an. Politiker und Militärs der Koalition drängten Kaiser Franz und seinen leitenden Minister, Graf Metternich, zum Seitenwechsel.

In Wien war man vorsichtig geworden. Wieder und wieder hatte Österreich gegen das revolutionäre und dann das napoleonische Frankreich Krieg geführt; wieder und wieder war es geschlagen worden und hatte die Erfahrung gemacht, dass auf Preußen und Russland als Verbündete nicht immer Verlass war. Die Friedensschlüsse, Campo Formio, Lunéville, Pressburg, Schönbrunn, hatten es riesige Gebiete und seine Stellung als Großmacht gekostet. Eine weitere Niederlage mochte die Existenz der Monarchie gefährden. Zudem hatte Kaiser Franz seine Tochter Marie-Louise mit Napoleon verheiratet, der Imperator war Vater seines Enkels, welcher den Titel eines Königs von Rom trug. Und immerhin war man der Form nach mit Frankreich verbündet, und so einfach ließ sich der Bündnisverrat mit dem Ehr- und Familiengefühl des Habsburgerkaisers nicht vereinbaren.

Schließlich: Die Interessen Österreichs als Vielvölkerstaat in der Mitte Europas lagen durchaus anders als die der Flankenmächte. Ein Übergewicht Russlands und des wankelmütigen Zaren war aus Sicht Wiens ebenso zu fürchten wie das Übergewicht Frankreichs; ein Totalsieg der Koalition, eine Ausschaltung Frankreichs als Großmacht lag damit nicht im österreichischen Interesse. Ebensowenig der Charakter des Krieges, den die führenden Männer in Preußen nun propagierten, der fraglos eine nationalrevolutionäre Tendenz hatte und für Österreich damit eine gefährliche Sprengkraft besaß.

Wie Metternich im Lauf des ersten Halbjahres 1813 dennoch Österreichs langsames Hinübergleiten ins Lager der Koalition betrieb, ohne zunächst den Verdacht der Franzosen zu erregen, ohne seinen skeptischen Kaiser zu verprellen, und am Ende, obwohl die militärische Initiative anderswo lag, zur politisch führenden Figur der Alliierten wurde, ist eine seither kaum wieder erreichte Glanzleistung der Diplomatie gewesen. „Als Konstrukteur der Weltkriegskoalition“, urteilt Günter Müchler, „ist Metternichs Anteil an Napoleons Fall größer als der Blüchers oder Wellingtons oder gar des preußischen Landsturms“. – „Napoleon wurde nicht von Generälen besiegt, sondern von einem Diplomaten.“ Zwischenergebnis des diplomatischen Prozesses war die im Geheimen geschlossene Konvention von Reichenbach. Die Übereinkunft lautete, dass Österreich der Koalition beitreten werde, zunächst aber ein mit vergleichsweise bescheidenen Forderungen verbundenes Friedensangebot mit Napoleon verhandelt werden solle.

Die Stunde der Entscheidung

Der schlug derweil sein Hauptquartier in Dresden auf, der Hauptstadt des rheinbündischen, mit ihm verbündeten Königreichs Sachsen. In dessen Ebenen, orakelte er, werde das Schicksal Deutschlands entschieden. Die diplomatische Entscheidung stand nun kurz bevor; die militärische sollte bald danach folgen. Ende Juni suchte Graf Metternich den Imperator im Palais Marcolini auf. Das fast neunstündige Gespräch der beiden hat Berühmtheit erlangt. Was genau besprochen wurde, wird freilich auf ewig geheim bleiben, da die beiden großen Männer alleine sprachen und niemand Protokoll führte; beider spätere Äußerungen widersprechen sich in zentralen Punkten. Das Ergebnis jedenfalls war: Napoleon ging auf Metternichs bescheidene Forderungen nicht ein. Der Kaiser verstand nicht viel von Diplomatie und der Kunst des Kompromisses, seine Außenpolitik bestand aus Drohungen, nicht aus Angeboten. Im Moment des Zurückweichens werde seine Macht, der die Legitimität der älteren Monarchien Europas fehle, zerbröseln. „Innerhalb und außerhalb Frankreichs regiere ich nur durch die Angst, die ich einflöße.“ –  „Ich werde nicht einen Zoll Erde abtreten.“ – „Es kann mich den Thron kosten, aber ich werde die Welt in seinen Trümmern begraben.“ – „Ein Mann wie ich schert sich nicht um das Leben einer Million Soldaten.“ Das und mehr soll Napoleon laut Metternich gesagt haben; ob es wirklich so war, weiß niemand. Aber der Kaiser tat dergleichen Äußerungen öfter, so dass man davon ausgehen kann, dass die Worte seine wahren Gedanken widerspiegeln. Er stand unter dem Gesetz des Eroberers, der sich ein Nachgeben nicht gestatten durfte.

Ein Krieg, von dem die Kronen wissen

Mit dem Duell von Dresden war die diplomatische Entscheidung gefallen. Der folgende Friedenskongress, der in Prag abgehalten wurde, war nur noch Maskerade. Von Mitte August an sprachen wieder die Waffen. Gegen Frankreich und die Rheinbundstaaten stand nun die große Koalition der drei Ostmächte Russland, Preußen und Österreich, dazu Schweden unter Napoleons früherem Marschall Bernadotte und, natürlich, der alte Gegner England, der die Koalition mit Subsidien unterstützte und selbst in Portugal und Spanien gegen die Franzosen Krieg führte. Dieser Übermacht ist Napoleon am Ende, trotz allen Feldherrngeschicks, erlegen. In der Entscheidungsschlacht standen knapp zweihunderttausend Soldaten seiner Grande Armée gegen über dreihundertfünfzigtausend Soldaten der Koalition. Mit der Niederlage bei Leipzig war Napoleons Herrschaft über Deutschland gebrochen, jedenfalls militärisch und politisch; als Feindbild blieb er im Geist der Deutschen lange mächtig, mächtiger vielleicht als im Geist der Franzosen. Golo Mann schrieb einmal: „Den Franzosen galt der Kaiser am Ende als der Besiegte – ein glorreicher, jedoch abgetaner Schädling. In Deutschland labte man sich an größerem Hasse wie an größerer Bewunderung Napoleons ein gutes Jahrhundert lang.“

Die Realität war zunächst nüchterner. Wenige Tage vor der Völkerschlacht gelang Metternich ein weiterer diplomatischer Coup: Er bewog das Königreich Bayern zum Frontwechsel. Das war weniger militärisch als politisch entscheidend: Österreich zeigte damit, dass es willens war, mit den Rheinbundstaaten seinen Frieden zu machen. Der Traum der Nationalrevolutionäre, die napoleontreuen Fürsten davonzujagen und die Karte Deutschlands mit dem Ziel eines einigen Nationalstaats neu zu ordnen, war damit zerstoben.

Überhaupt verlief der Befreiungskrieg, anders, als die Erinnerung es später sehen wollte, nicht sehr nach dem Geschmack der Freiheitskämpfer. „Es ist kein Krieg, von dem die Kronen wissen, es ist ein Kreuzzug, ’s ist ein heilger Krieg“, hatte Theodor Körner gedichtet. Aber das war Poesie. Die Realität war eine andere. Es war ein Krieg der Kronen, der Politiker, der Generale und der stehenden Heere. Auf den Volksaufstand hatten die nationalbegeisterten Schriftsteller, die Kleist und Arndt und Görres, 1809 schon gehofft, als Österreich, noch alleine, gegen Napoleon losgeschlagen hatte. Er war damals nicht gekommen und kam auch diesmal nicht. In den Rheinbundstaaten und überall, wo die Franzosen noch die Herrschaft hatten, blieb es bis auf wenige Ausnahmen ruhig. Große patriotische Begeisterung gab es in den unbesetzten Gebieten Preußens, es kam zur Gründung von Freiwilligenverbänden und des Landsturms. Ehrenwerte, tapfere Männer kämpften und starben dort. Aber am Ende entschieden sie nichts. Geschlagen wurde Napoleon von Heeren alten Stils, mit neuer Taktik, wohl auch von neuem Geist erfüllt; aber nicht von revolutionären Volksmassen. Der Krieg von 1813 war nicht der Krieg der Patrioten, er war Metternichs Krieg.

„Das schwache Österreich war – sozusagen in der Hinterhand geblieben – zum Zentrum der Koalition geworden und Metternich ihr Quasi-Ministerpräsident. Er hatte endgültig aus dem Krieg der Völker den Krieg der Mächte gemacht; nicht Befreiung, Freiheit oder gar nationale Einheit, sondern Ordnung und Wiederherstellung eines Gleichgewichts waren das Ziel des Krieges. Das war möglich, weil natürlich auch Russland und Preußen letzten Endes antirevolutionäre Mächte waren.“ So sieht es Thomas Nipperdey in seiner monumentalen Deutschen Geschichte. Freilich, Preußen und Russland machten, Jahrzehnte später, ihren Frieden mit dem Nationalismus, jedenfalls dem deutschen und dem slawischen. Österreich, Metternichs Österreich, konnte das nicht. Es blieb im ewigen Konflikt mit dem neuen Geist der Zeit. Die übernationale österreichische Monarchie sollte noch ein gutes Jahrhundert bestehen. Als sie schließlich in sich zusammenbrach, riss sie ganz Europa mit sich, und der Konflikt der Habsburger mit dem Nationalismus der Balkanvölker entzündete den nächsten großen Krieg.

Doch das ist eine andere Geschichte.


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