Demokratische Normalität

Besorgnis überall bis hinauf zum Bundespräsidenten: In Thüringen droht sich eine Regierung unter linker Führung zu bilden; die SPD-Parteimitglieder stimmten mehrheitlich dafür. Aber die meisten Bedenken gehen an der Sache vorbei. Regierungen zu bilden ist kein geschichtspolitischer Akt, sondern eine pragmatische Entscheidung auf wenige Jahre.


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Seit Geschichtsbewältigung in Deutschland als politische Kategorie Einzug gehalten hat, hat sie nur Unheil gestiftet. Sie führt zur Beurteilung aktueller Politik nach Kriterien, die Jahrzehnte alt sind und mit heutigen Problemen herzlich wenig zu tun haben. Auch wenn wir es manchmal anders wahrnehmen, Politik, zumal Landespolitik, findet nicht zuerst an Gedenktagen und Mahnmälern statt. Politik befasst sich mit Steuern, mit Straßenbau, mit Gewerbeansiedlung, mit Arbeitsschutzbestimmungen und dergleichen mehr. Das ist ihre Aufgabe; dafür werden Politiker gewählt und bezahlt. Ob dagegen ein CDU-Mann 1985 den Satz „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung“ unterschrieb oder nicht, änderte an der Regierungsfähigkeit seiner Partei null Komma wenig; ob ein Linken-Politiker heute „DDR“ und „Unrechtsstaat“ in einen Satz bringt, ist genauso irrelevant. Es ist nämlich höchst nachrangig, was Politiker über Geschichte denken; den allermeisten wird man nicht zu nahe treten, wenn man attestiert, dass sie für ein fundiertes Urteil von der Geschichte gar nicht genug wissen, wie 95 % der übrigen Bevölkerung auch. Geschichte ist in erster Linie Sache der Historiker.

Politik wird in der Gegenwart gemacht

„Kann man denn im Angesicht der Opfer…“? Man kann. Opfer verdienen Respekt, Zuwendung, Mitgefühl; eine besonders privilegierte Deutungshoheit über politische Go’s und NoGo’s haben sie nicht. Verwandte von Maueropfern wissen nicht besser oder schlechter, was eine gute Regierung ausmacht oder nicht; sie haben eine Stimme in demokratischen Wahlen wie alle anderen auch. Solche Wahlen haben stattgefunden, allgemein, frei, geheim, direkt, unmittelbar. Die Linke hat so gut abgeschnitten, dass eine Regierungsbildung ohne sie nicht einfacher ist als eine Regierungsbildung mit ihr. Eine Partei, die an die dreißig Prozent der Stimmen erhält, ist keine Randerscheinung mehr, sondern eine politische Realität.

„Wieviel SED steckt noch in der heutigen Linkspartei?“ Eine gute Frage. Aber die Beweislast liegt beim Ankläger, nicht beim Angeklagten. Die institutionelle Kontinuität reicht nach mehrfacher Umbenennung, nach Fusion mit der WASG und Aufnahme vieler westdeutscher Gewerkschafter wie Bodo Ramelow als Argument kaum mehr aus; dass einige SED-Mitglieder von früher und gar ehemalige Stasi-Leute in der Partei mitwirken und Mandate innehaben, für sich genommen auch nicht. Menschen können lernen; Menschen können sich wandeln. Ganz sicher über einen Zeitraum von zwei Jahrzehnten. In der Großen Koalition von 1966–69 war der Bundeskanzler Kiesinger einstmals in der NSDAP gewesen, ebenso wie der Wirtschaftsminister Professor Schiller von der SPD; Ex-SA-Mann Gerhard Schröder von der CDU war Verteidigungsminister und wäre 1969 beinahe Bundespräsident geworden. Trotzdem war diese Regierung eine der fähigsten der bundesrepublikanischen Geschichte; und zwar nicht obwohl, sondern weil die Minister gereifte Charaktere mit Brüchen im Leben und reicher, oft auch leidvoller Erfahrung waren.

Ein linker Putsch steht nicht bevor

Auch gilt, was Gregor Gysi einmal richtig sagte: 10 Prozent Idioten gibt es in jeder Partei; auch in den meisten anderen Organisationen übrigens und im Volk insgesamt. Entscheidend sind nicht die Ränder, entscheidend ist die Mitte einer Partei und sind vor allem die gewählten Funktionsträger; mit ihnen müssen die politischen Freunde und Feinde umgehen. Mit ihnen werden nun auch SPD und Grüne eine Koalitionsvereinbarung schließen müssen. Geeignetes Personal und konsensfähige Ziele für fünf Jahre werden gesucht. Werden die gefunden – warum soll die Koalition dann nicht gebildet werden dürfen? Was soll qualitativ anders sein als bei bisherigen Koalitionen? Dass die Linke den Ministerpräsidenten stellt und mehr Einfluss hat? Den Befehl über ein bisschen Landespolizei wird Herr Ramelow wohl kaum für einen Putschversuch benützen.

Wirklich wesentliche innenpolitische Unterschiede gibt es zwischen den drei Parteien übrigens nicht. Das gleiche Rufen nach dem Hochsteuerstaat und nach sozialer Umverteilung, nach nachfrageorientierter Wirtschaftspolitik und schuldenfinanzierten Investitionsprogrammen, nach der zentralistischen Einheitsschule und maximal ausgebauter staatlicher Kinderbetreuung, nach Frauenquote und Gender-Sprache; die gleiche Protektion zum Teil selbst radikaler, gewaltbereiter Kräfte im „Kampf gegen Rechts“, die gleichen Radikalen in den eigenen Jugendorganisationen, mit denen schon Willy Brandt zu kämpfen hatte. Unterschiede gibt es in der Außenpolitik, in der Haltung zu Washington, zu Moskau, zu Nato und EU. Das alles zählt in Thüringen aber nicht, so wie es in der Kommunalpolitik nicht zählt, wo man lange schon gut zusammenarbeitet.

Gewählt auf Zeit

Was die drei designierten Regierungsparteien an Politik fabrizieren werden, kann man mit einigem Recht ganz furchtbar finden. Da sie nun aber gewählt sind, haben sie die demokratische Legitimation dazu. CDU, FDP, AfD hätten nur mehr Stimmen erreichen müssen, um es zu verhindern; darin haben sie versagt. Dass es womöglich eine rot-rot-grüne Zusammenarbeit geben werde, stand vor der Wahl deutlich im Raum; ein hinreichend starkes Argument für hinreichend viele Wähler, die anderen Parteien auf dem Stimmzettel anzukreuzen, war es augenscheinlich nicht.

Nun muss die Linke sich bewähren, ernsthaft Verantwortung übernehmen, zeigen, wie sie ein Land führen, ob sie die widerstreitenden Interessen der Mehrheit ihrer Klientel und des Landes insgesamt verbinden kann oder nicht. Sie ist gewählt, sie soll ihre Chance bekommen; das ist demokratische Normalität. Versagt sie, kann der Wähler seine Entscheidung in fünf Jahren korrigieren; demokratische Normalität auch das.


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