Der Fluch des Christentums?

Vor zehn Jahren veröffentlichte der Philosoph Herbert Schnädelbach einen kontroversen Artikel über die historischen Auswirkungen des Christentums. Knut Henke wirft einen Blick zurück – und ist heute noch so empört wie damals.


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Der Fluch des Christentums – unter dieser Überschrift, aber ohne Fragezeichen hat Herbert Schnädelbach, Philosophie-Professor an der Humboldt-Universität, in der „Zeit“ vom 11.5.2000 einen Artikel veröffentlicht. Er hätte diesen Aufsatz auch „Warum ich kein Christ bin“ oder aber „Kritik der Vernunft an Theorie und Praxis des Christentums“ überschreiben können. Er aber sprach vom Fluch. Schlaglichtartig erhellt diese Überschrift die geistige Situation unseres Landes am Beginn des 21. Jahrhunderts.

Alles, was religiös wertvoll sei am Christentum, stamme aus dem Judentum, schreibt Schnädelbach. Ja, das Christentum ist eine Tochterreligion des Judentums, ohne einfach dessen Exportausgabe zu sein. Die Kirche hat das immer gewusst, weder vergessen noch geleugnet. Zuerst gegen Marcion und zuletzt gegen Adolf von Harnack hat sie am Alten Testament als Teil der christlichen Bibel festgehalten und sich so zur biblischen Heilsgeschichte bekannt.

Die christliche Lehre von der Erbsünde sei eine Erfindung des Apostels Paulus. Bei aller Wertschätzung des Apostels Paulus scheint mir das eine Übertreibung zu sein. Und auf dem Hintergrund von Texten wie z. B. 1. Mose 8, 21: „…denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf“, Psalm 51, 7: „…siehe als Sünder bin ich geboren“ und des Wortes Jesu Joh. 8, 7: „… wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein“ sollte man eher von einer Entdeckung als von einer Erfindung reden. Die Lehre von der Erbsünde sei menschenverachtend. Ist sie menschenverachtend oder realistisch angesichts der Macht des Bösen, das sich nur zu oft hinter unseren guten Absichten verbirgt und Menschen schuldig werden lässt auch gegen ihren Willen? Angesichts unserer bösen Gewohnheiten, die uns gefangen halten und des Teufelskreises von Gewalt und Gegengewalt, den wir erleben?

An der Entwicklung des europäischen Begriffes der Menschenwürde habe das Christentum keinen Anteil. Seine Wurzel liege in dem jüdischen Gedanken der Gottesebenbildlichkeit des Menschen und der antiken Idee der Humanitas. Nun entstammt der Gedanke der Gottes- Ebenbildlichkeit zwar dem Alten Testament (1. Mose 1, 26 und 27), der Bibel des Judentums. Aber es war das Christentum, das seit der Spätantike die Religion der Völker Europas wurde, das diesen Gedanken ebenso wie die Zehn Gebote in Europa einführte und heimisch machte. Der Beitrag des Judentums an diesem Prozess der Verbreitung der Bibel beschränkt sich für Europa auf die Übersetzung des Alten Testamentes in das Griechische, die Septuaginta, die dann zur Bibel der ersten Christen wurde.

Die antike Humanitas (feine Bildung) war ihrem Wesen nach die Sache einer kleinen Bildungselite. Im Gegensatz zum Christentum, dessen missionarische Stärke gerade darin lag, dass es Zugang zu allen Schichten der Bevölkerung fand.

Aber wie keine andere Religion hat sich das Christentum mit der antiken Philosophie auseinandergesetzt. Es ist von allem Anfang an geprägt von einer solchen Auseinandersetzung. Am Beginn steht das hellenistische Judentum, die Frucht einer  intensiven Auseinandersetzung des Judentums mit dem hellenistischen Geist. Art und Intensität der Auseinandersetzung schwankten von vollständiger Anpassung und Selbstaufgabe über vielfältige Formen der Beeinflussung und Auseinandersetzung (z. B. Philo von Alexandria) bis zu vollständiger Ablehnung (Qumran). Hervorgegangen aus dem hellenistischen Frühjudentum, haben außer den Epikuräern mit ihrem praktischen Atheismus alle großen philosophischen Schulen ihre Spuren im christlichen Denken hinterlassen. Wenn auch der Briefwechsel zwischen Paulus und Seneca eine Fälschung ist, so sind doch Spuren stoischen Denkens in den Paulus-Briefen unübersehbar, z. B. „das Haben, als hätten wir nicht“ im 1. Korinther-Brief (1. Kor. 7, 29–31). Schon Paulus war im Sinne antiker Popular-Philosophie ein gebildeter Mann. Bei den Kirchenvätern kommt es zur Auseinandersetzung und gegenseitigen Durchdringung von christlicher Verkündigung und antiker Philosophie. Dieser Prozess fand seinen Höhepunkt für die griechischsprachige Welt bei Origenis und in der lateinischen Welt mit Augustinus.

Nach der Katastrophe der Völkerwanderung mit dem vollständigen Zusammenbruch des antiken Bildungswesens auf dem Gebiet des weströmischen Reiches waren es die Schreibstuben der Klöster, denen wir die Grundlagen unserer Kultur verdanken. Ohne Vorbehalte wurde dort kopiert und vervielfältigt, wessen immer man an Texten habhaft wurde. Nicht nur die Bibel, die Kirchenväter, Plato, Aristoteles und Plotin, sondern selbst Plautus’ Komödien sind auf diesem Wege überliefert worden. Ohne den Fleiß der Mönche wäre unsere Kultur nicht nur um vieles ärmer, sondern sie hätte nach der Völkerwanderung als eigenständige geistige Leistung gar nicht entstehen können.

Ein zweiter Strom antiker Überlieferung kam über das seit 711 maurische Spanien und über das ebenfalls zeitweilig islamische Sizilien. Jedoch auch hier sind es syrische Christen gewesen, die den islamischen Arabern die antike Geisteswelt erschlossen, ihnen eigenständige Beschäftigung damit erst ermöglicht haben. Während aber die islamische Theologie die Auseinandersetzung mit der antiken Philosophie abbrach, waren es christliche Theologen wie Thomas von Aquin, die nicht nur das theologisch Bedenkliche, sondern auch den geistigen Reichtum des aristotelischen Denkens erkannten und dem Abendland erhielten, indem sie es dem christlichen Denken eingliederten.

Leibfeindlich sei das Christentum. Leibfeindlich war aber nicht nur und nicht einmal in erster Linie das Christentum, sondern die ganze antike Geisteswelt. Nur die Seele galt als unsterblich, vereinte die Menschen mit den Göttern. Der Körper dagegen war sterblich, verband Mensch und Tier. Deshalb galt der Körper als Gefängnis der unsterblichen Seele. Auf diesem Hintergrund haben die beiden zentralen christlichen Glaubenssätze von der Inkarnation und der Auferstehung die Kritik, ja den Spott heidnischer Philosophen herausgefordert (Apo. 17, 32) „… selbst wenn unter den Griechen einer stumpfsinnig genug wäre anzunehmen, dass die Götter in Standbildern hausen, so hätte er eine viel weniger trübe Vorstellung als derjenige, der glaubt, dass die Gottheit in den Leib der Jungfrau Maria eingegangen sei, dass sie zum Fötus geworden und nach der Geburt in Windeln gelegt worden sei, bedeckt vom Blut des Mutterkuchens, von Galle und noch viel größeren Widerwärtigkeiten“, schreibt der heidnische Philosoph Posphyrios. Und Celsus äußert sich über die Auferstehung wie folgt: „… es ist das eine Hoffnung, die geradezu für Würmer passend ist. Denn welche menschliche Seele dürfte sich wohl nach einem verwesten Leib sehnen?“ Die Philosophen würden sich nicht klar machen, hielt Augustinus dagegen, dass es ihre Sünden seien und nicht ihr Körper, die sie von Gott fernhielten. Sie wollten nicht einsehen, dass Gott selbst bereits zu ihnen herabgestiegen war, indem er menschliches Fleisch angenommen hatte, das sie auf immer hinter sich lassen wollten.“ Gegen zeitgeistbedingte Leibfeindlichkeit hat die christliche Kirche daran festgehalten, dass der Mensch nach Seele und Leib von Gott geschaffen ist und die Welt Gottes gute Schöpfung ist und bleibt. Mit der Bibel Alten und Neuen Testamentes hat sie gegen Gnostiker, Manichäer und mittelalterliche Katharer bekannt, dass der Schöpfer und der Erlöser ein und derselbe Gott ist. Durch diesen Glauben wird die sichtbare Welt zwar relativiert, aber nicht entwertet. Der Mensch braucht ein Mehr als Welt, um ein Mehr an Welt zu gewinnen. Ohne dieses Mehr als Welt wird die Welt selbst zu einem Mehr als Welt; werden Geschichte und Natur mit ihren vermeintlich ewigen Gesetzen zu Götzen. Dass die reale vergängliche Welt dagegen bloß ein Schein sei ist, buddhistisch, aber nicht christlich. „Im Mensch gewordenen Christus hat Gott den einzigen Weg angeboten, auf dem die ganze Menschheit zu ihm heimkehren könne“. In dieser Menschenliebe Gottes wurzelt die christliche Mission, die Zuwendung des Christentums zu allen Völkern, die Öffnung für alle Menschen ohne Ansehen ihrer Herkunft. Im Gehorsam gegen Matthäus 28 erkennt die Kirche in jedem den Bruder oder die Schwester, geschaffen und geliebt. Sie sieht in ihm den Nächsten, dem das Leben dieselben Fragen stellt wie mir und der deshalb auch aus derselben Quelle Trost und Hoffnung schöpfen, von derselben Instanz Antwort auf seine Fragen und Zweifel erhoffen darf. Woher kommt der Mensch, wozu lebt er, wohin geht er?

Was können wir glauben, was dürfen wir hoffen, was sollen wir tun?

Etwa dreihundert Jahre ist die Kirche als immer wieder schikanierte und verfolgte Minderheit für ihre Antworten auf diese Fragen eingetreten, hat unter den Menschen des Römischen Reiches für den Glauben an und das Vertrauen zu Jesus Christus geworben. Durch ihre Treue zum ersten Gebot – „Ich bin der Herr dein Gott, du sollst keine anderen Götter haben neben mir“ – hat sie staatlicher Willkür und Manipulation auf dem Felde der Religion widersprochen. Ist es ein Zufall, dass der Gedanke der Religionsfreiheit im christlich geprägten Europa entstand? Toleranz in Fragen der Religion gab es im christlichen Mittelalter in Europa ebenso wie unter dem Vorzeichen des Islam. Toleranz jedoch war und ist ihrem Wesen nach begrenzt, ein auch von Nützlichkeitserwägungen beeinflusster Gnadenakt des Stärkeren gegenüber dem Schwächeren. Religionsfreiheit ist kein Gnadenakt, sondern ein Rechtsanspruch. Er beruht darauf, die religiösen Bindungen, das an Gott gebundene Gewissen des Menschen ganz ernst zu nehmen. Im Verhältnis des Menschen zu Gott, zwischen Schöpfer und Geschöpf ist kein Platz für staatlichen Zwang und Willkür, darf es keine zynische Gleichgültigkeit und opportunistische Anpassung geben.

Seit 380 kam es unter der Herrschaft christlicher Kaiser wieder zu einer Vermischung von Politik und Religion, Staat und Kirche, zu wechselseitigem Ge- und Missbrauch staatlicher und religiöser Macht. Aber es gab keine Identifikation von Staat und Kirche, Politik und Religion. Es blieb bei einem spannungsvollen Miteinander, das auch einen Raum geistiger Freiheit bot. Im Zeichen der Staatskirche gab es auch Taufzwang. So seit Dagobert III. im Frankenreich. Das war ein Rückfall in alte Zeiten, in denen man sich eher eine Stadt in den Wolken als eine Stadt ohne Religion vorstellen konnte und die Teilnahme am Staatskult mehr eine Frage staatsbürgerlicher Loyalität als persönlicher Überzeugung war. Es war ein Rückfall, aber keine christliche Erfindung.

Das hellenistische Frühjudentum, das z. Zt. Jesu mit seinem Glauben an den einen Gott, seiner klaren Ethik und seinen alten Offenbarungschriften große Anziehungskraft auf die heidnischen Völker des Mittelmeerraums besaß und dabei war, sich zu einer Weltreligion zu entwickeln, hat sich nach der Katastrophe des Jahres 70 n. Chr. ganz auf sich selbst zurückgezogen, sich zur reinen Volksreligion zurückentwickelt, ähnlich wie später einige oriententalische Kirchen nach dem militärischen Siegeszug des Islam. Deshalb stellt sich ihm die Frage der Mission nicht mehr. Anders war es vor 70. Damals gab es nicht nur die Proselyten-Taufe, sondern auch Fälle der Zwangsbeschneidung. Herodes der Große gehörte zur Volksgruppe der Idomäer. Diese waren unter der Herrschaft der Hasomäer, des letzten souveränen jüdischen Königsgeschlechtes, durch Zwangsbeschneidung dem jüdischen Volk eingegliedert worden.

Das Verhältnis von Staat und Kirche war auch in der Zeit des Kolonialismus und Imperialismus nie spannungsfrei. Hier ist z. B. an die Missionsarbeit der Herrnhuter Brüdergemeine zu erinnern. Das Verhältnis war auch dort nicht spannungsfrei, wo es von Anfang an besonders eng war, nämlich zwischen der kath. Kirche und der Krone Spaniens. Erinnert sei an den Kampf des Bischofs Bartholomä de las Casas für die Indianer und das Wirken der Jesuiten in Südamerika.

Die Summe christlicher Verkündigung ist das Wort vom Kreuz (1. Kor. 1, 18). Im Zentrum des christlichen Glaubens steht der gekreuzigte Jesus von Nazareth. Er ist Grund und Inhalt des Glaubens an einen Gott, der nicht erwartungsgemäß auf Seiten der stärkeren Bataillone steht, menschliche Lieblosigkeit, Gemeinheit und Brutalität nicht mit gleicher Münze vergilt und dennoch nicht harmlos ist. Ein Gekreuzigter und ein Geschundener, nicht wie im Mithraskult ein Gewalttäter, steht im Mittelpunkt des christlichen Glaubens. Deshalb hat das Christentum auch ein besonderes Verhältnis zum Leiden und zu den Leidenden. „Eine mentale Vorbereitung auf eigene Gewalttätigkeit im Namen Christi“ ist der Glaube an den gekreuzigten Jesus Christus nicht. Durch das Kreuz Christi wurde alles überwunden, was bis dahin Opfer geheißen hatte, ob Tier- oder Menschenopfer. Vom Kreuz wird alles in Frage gestellt, was noch heute Opfer heißt.

Natürlich sind Christen Kinder ihrer Zeit, den Einflüssen und Versuchungen des jeweiligen Zeitgeistes ausgesetzt. So hat seit dem 13. Jahrhundert der bis dahin kirchenrechtlich verbotene Glaube an die Existenz von Hexen, ein Rest überwundenen und zum Aberglauben verkommenen Heidentums, Eingang in das christliche Denken gefunden, mit verheerenden Folgen. Im 19. und 20. Jahrhundert sind auch viele Christen den Versuchungen des Nationalismus erlegen. Aber dass der Nationalismus eine Erfindung des seinem Wesen nach übernationalen Christentums sei, kann niemand behaupten. Nur noch ärgerlich ist es, wenn das Christentum selbst für die Untaten und Verbrechen der von Anfang an militant atheistischen Kommunisten und der weithin neuheidnischen, zunehmend kirchen- und christentumsfeindlichen Nationalsozialisten gemacht wird. Unter den Vollstreckern des großen Mordes an den europäischen Juden gab es keine praktizierenden Christen. Die bei weitem meisten von ihnen gaben als Konfession „Gottgläubig“ an. Das ist die von den Nationalsozialisten verwendete Bezeichnung für einen, der aus der Kirche ausgetreten ist. Deren Gott war eben nicht der Gott der Bibel.

Die Kommunisten waren von Anfang an Atheisten. „…ubi Lenin ibi Jerusalem“, schreibt Schnädelbach, Bloch zitierend – eben! Hier ist an die Stelle Jesu, an die Stelle Gottes ein Mensch, eben Lenin, und später die Partei, die immer recht hat, getreten.

Die Offenbarung des Johannes aber, die in diesem Zusammenhang bemüht wird, war ihrem Ursprung nach ein Trostbuch, für eine um ihres Glaubens willen verfolgte Minderheit. Die Quelle des Trostes ist der Glaube an Gott. Sich selbst als Mensch an die Stelle Gottes zu setzen, macht das Wesen und den Kern der Ursünde aus. Der Mensch soll und darf Mensch bleiben. Er braucht sich weder zum Übermenschen zu entwickeln noch selbst zum Gott zu machen.

Nein – trotz aller Fehler, aller Versäumnisse und Schuld der Christen, die Menschen sind und bleiben, war und ist das Christentum kein Fluch, sondern ein Segen für die Welt. Weil in ihm, mit ihm und unter unserem Reden und Handeln dem Menschen der lebendige Gott begegnet.


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Knut Henke

geb. 1951, Pfarrer i. R., VDSt Berlin & Charlottenburg.

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