Der laizistische Irrtum

Politischer Atheismus nennt sich Laizismus: Verbannung der Religion aus dem öffentlichen Raum, Lösen der Verflechtung von Kirche und Staat, Abschaffung veralteter Privilegien. In Wahrheit ist der Laizismus mindestens so anachronistisch wie die Kirchensteuer und ein gutes Beispiel dafür, wie auch Atheisten dogmatischen Glaubenssätzen verfallen können.


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S005_Irrtum_2Als Benedikt XVI. vor vier Jahren als bislang letzter Papst Deutschland besuchte und im Reichstag seine wegweisende staatsphilosophische Rede hielt, entspann sich im politischen Berlin eine merkwürdige Debatte darüber, ob ein Kirchenführer im Parlament eines qua Verfassung religiös neutralen Staates überhaupt als Gastredner sprechen dürfe. Wohlmeinende Staatsrechtler wiesen darauf hin, der Papst sei auch als Oberhaupt des Vatikanstaates geladen, was aber an der eigentlichen Frage vorbeiging und wenig half. Am Ende blieben etwa fünfzig kirchenkritische Abgeordnete aus den sozialistischen Fraktionen der Rede fern, und Benedikt blickte in dem Parlament, das ihn eingeladen hatte, zu seiner Linken auf halbleere Bänke. – Seinen Nachfolger Franziskus ereilte es bei der Rede vor dem Europaparlament in Straßburg übrigens etwas weniger schlimm; dort entschlossen sich nur einige spanische Kommunisten und französische Laizisten zum Protest.

Laizismus und Neutralität

Anlässe wie diese, bei denen diskutiert wird, wie strikt Staat und Kirche zu trennen sind, gibt es immer wieder, und zunehmend in dem Maße, in dem die christliche Leitkultur schwächer wird und die Zahl der kirchenfernen Bürger wächst. Rechtlich steht der Laizismus hierzulande zwar auf schwachem Fuß, weil die Bundesrepublik Deutschland, anders als unser französischer Nachbar, kein laizistischer Staat ist; im Grundgesetz heißt es lediglich: „Es besteht keine Staatskirche“ – der Staat ist konfessionell neutral, aber keineswegs areligiös. Anders links des Rheins gleich in Artikel 1 der Constitution: „La France est une République indivisible, laїque, démocratique et sociale.” Die Rechtslage hindert die Verfechter der strikten Trennung von Staat und Kirche aber nicht, jede Verflechtung der beiden Sphären zu kritisieren, zumal die Wirklichkeit hier dem Buchstaben der Verfassung entspricht und es diese Verflechtungen sehr zahlreich gibt.

Die Bundesrepublik ist ein Staat, in dem der Bundespräsident Weihnachtsfeiern veranstaltet und dabei aus dem Evangelium vorliest; in dem die Mitgliedsbeiträge der Glaubensgemeinschaften Kirchensteuer heißen und von staatlichen Finanzbehörden eingezogen werden; in dem Bischöfe ihre Gehälter und Pensionen gemäß Beamtenvergütung aus den Landeshaushalten beziehen und die Kirchen mit dreistelligen Millionenbeträgen vom Staat subventioniert werden; in dem der Staat kirchlich betriebene karitative Einrichtungen finanziert, die aber, was etwa Arbeitnehmerschutz und Kündigungsregeln angeht, dem kirchlichen Recht unterliegen; in dem an staatlichen Schulen Religionsunterricht gegeben wird; in dem christliche Hochfeste bundeseinheitliche Feiertage und – Stichwort Karfreitagsruhe – zum Teil besonders geschützt sind. Und so weiter, und so fort. Staat und Kirche sind in Deutschland also durchaus nicht getrennt, sondern sehr eng – wenn man will, symbiotisch – miteinander verbunden. Vieles davon wäre in Frankreich undenkbar.

Im Anfang war die Revolution

Woher kommen nun diese Unterschiede, und welches Modell, wohlwollende Neutralität oder Laїcité, ist das bessere? Zum Verständnis lohnt es sich, auf die historische Entwicklung des Verhältnisses von Staat und Kirche einen Blick zu werfen – in Deutschland und in Frankreich, denn beide Geschichten sind trotz unterschiedlichen Resultats gegenseitig beeinflusst.

In Frankreich ist die Feindschaft zwischen Republik und (katholischer) Kirche eine alte Tradition, die bis zur großen Revolution von 1789 zurückreicht. Vorher, im Ancien Régime, war die Kirche Teil und feste Stütze des Herrschaftssystems gewesen. Die Könige aus dem Haus der Kapetinger, später Bourbonen, waren selbst tief gläubig und der Kirche eng verbunden, am bekanntesten Ludwig der Heilige; zugleich betrachteten sie in ihrem Streben nach einer absolutistischen Monarchie eine Staatskirche als nötiges Gegenstück zum Einheitsstaat: „Ein König, ein Glaube, ein Gesetz“. Protestanten und Juden waren Verfolgungen ausgesetzt. Die Kirche ihrerseits war stark verwildert; der höhere Klerus feudalisiert, besaß ein Zehntel des Landes und stellte oft kaum mehr als einen Versorgungsposten für nachgeborene Adelssprösslinge oder auch die Durchgangsstation für eine politische Karriere dar. Talleyrand etwa, später Napoleons berühmter Außenminister, trug 1789 einen Bischofstitel.

Somit war es unvermeidlich, dass die Revolution sich nicht nur gegen den König und den Adel, sondern auch gegen die Kirche richtete und die verschiedenen Stufen der Radikalisierung jedes Mal eine Verschärfung der Kirchenpolitik mit sich brachten. Die Revolutionsregierung „nationalisierte“, also: enteignete das Kirchengut einschließlich der Klöster und benutzte es zur Deckung des neu eingeführten Papiergeldes („Assignaten“). Für den Klerus wurde eine Zivilverfassung verabschiedet, die ihn auf die Seelsorge beschränkte und ihm den politischen Einfluss nahm. Zugleich wurde von Priestern verlangt, einen Eid auf die neue Verfassung zu schwören. Wer das verweigerte, wurde eingekerkert. – Nach inneren Aufständen, an denen auch Priester führend beteiligt waren, etwa in der Vendée, und nach der Intervention des Auslandes, mit dem König und Adel paktierten, radikalisierte sich die Revolution. Unter den Sansculotten wurden Hunderte inhaftierte Priester guillotiniert und das öffentliche Leben gezielt entchristianisiert: Kirchen wurden zu Tempeln der Vernunft umgeweiht, Heiligenbilder durch Porträts von Revolutionsmärtyrern ersetzt und ein neuer Kalender eingeführt, der nicht mehr ab der Geburt Christi, sondern in Revolutionsjahren zählte, die Wochen mit dem christlichen Sonntag durch Dekaden ersetzte und die Monate mit neuen Phantasienamen bezeichnete – Vendémaire, Brumaire, Frimaire und so fort.

Zwischen Republik und Kirche bestand seither eine tiefe Erbfeindschaft, und jeder, der eine kirchenfreundlichere Politik trieb, besaß die Unterstützung der Bischöfe, Napoleon ebenso wie die restituierten Bourbonen. Der Klerus blieb royalistisch und geriet nach 1871 in einen Dauerkonflikt mit der Dritten Republik, den er schließlich verlor. Nach der Dreyfus-Affäre, in der katholische Antisemiten eine ungute Rolle gespielt hatten, wurde die Kirche qua Gesetz zunehmend aus dem öffentlichen Raum verdrängt, christliche Schulen geschlossen, Ordensgemeinschaften aufgelöst, 1905 das Gesetz zur strikten Trennung von Kirche und Staat beschlossen, dessen wesentliche Grundsätze auch von den konservativen Parteien übernommen wurden; unter Charles de Gaulle, als die eigentlichen Konflikte zwischen Republik und Kirche schon lange Geschichte waren, erhielt der Laizismus schließlich Verfassungsrang.

Im Anfang war Napoleon

Im deutschen Sprachraum ist diese Geschichte völlig anders verlaufen. Schon ihr Ausgangspunkt ist, trotz gewisser Ähnlichkeiten, ganz verschieden zum französischen.

Ähnlich ist immerhin dies. Auch in Deutschland gab es zum Ende des 18. Jahrhunderts einen stark verkirchlichten Staat, eine stark feudalisierte, moralisch nicht sonderlich hochstehende Kirche. Auch hier der höhere Klerus ein Adelsvorrecht, sogar weitergehend als in Frankreich, da es im Heiligen Römischen Reich auch viele geistliche Fürstentümer gibt bis hinauf zu den drei Kurfürst-Erzbischöfen von Mainz, Köln und Trier. Auch hier verlotterte Klöster, in denen die Mönche als Saufbrüder und Kneipenschläger berüchtigt sind. Auch hier seit Mitte des 19. Jahrhunderts ein aufklärerischer, antiklerikaler Zeitgeist unter den Intellektuellen.

Schwerer aber wiegen die Unterschiede. Im Kern sind es diese. Einen deutschen Nationalstaat kennt diese Zeit noch nicht, somit auch keine Staatskirche, sondern viele Landeskirchen. Eine vorherrschende Glaubensrichtung besteht auch nicht, Deutschland ist zwischen Katholiken und Protestanten gespalten, wobei viele Fürsten Untertanen beider Konfessionen haben. Auch das, was wir heute unter einem Staat verstehen, also eine funktionierende Verwaltung, gibt es in vielen der verrotteten Feudalstaaten nicht, muss erst noch geschaffen werden; die Milchstraße von Kleinstaaten, die sich Heiliges Römisches Reich nennt, ist diesbezüglich weit hinter dem Frankreich der Bourbonen zurück. Schließlich, und vielleicht am wichtigsten: In Deutschland ist es keine Revolution aus dem Volk, die das Verhältnis von Staat und Kirche neu bestimmt. Der Anstoß kommt von außen, durch Napoleon.

Aus den Revolutionskriegen seit 1792 geht Frankreich am Ende siegreich hervor und eignet sich links des Rheins Gebiete an, die zuvor von deutschen Fürsten regiert wurden. Die verlangen „Kompensation“ und finden sie rechts des Rheins durch „Säkularisation“, indem sie sich geistliche Fürstentümer einverleiben und auch andere, ehemals reichsunmittelbare Reichstädte oder Reichsritterschaften; man nennt das „Mediatisierung“. Oft nehmen sich die Fürsten mehr, als sie an die Franzosen verloren haben. Die so betriebene großflächige Flurbereinigung wird schließlich 1803 im sog. Reichsdeputationshauptschluss in einer der letzten Handlungen des sterbenden deutschen Kaisertums rechtlich abgesichert. Sie findet keinen nennenswerten Widerstand in der Bevölkerung; zu offenkundig sind die Schwächen der alten Ordnung.

Mit am ärgsten in diesem Spiel trieben es übrigens der bayerische Kurfürst, später König Max Joseph und sein leitender Minister, Montgelas, die sich etwa achtzig neue Territorien aneigneten. Am schnellsten war man auch bei der Enteignung der Klöster, was bei dieser Gelegenheit miterledigt wurde und der klammen, durch Kriege, Besetzung und die Soldaten, die man Napoleon stellen musste, stark belasteten Staatskasse helfen sollte – und wohl auch den Beamten, die mit Insiderwissen günstig einkaufen konnten; Minister Montgelas etwa erwarb zwei Klosterbrauereien – der Mann wusste, wo die wahren Werte lagen … Dies führte zu einer großen Landreform, denn die Klöster hatten in Bayern gut die Hälfte des Bodens besessen; in protestantischen Staaten, die während der Reformation schon ihren ersten Klostersturm erlebt hatten, war das natürlich weniger, aber auch dort ließ man sich die Gelegenheit nicht entgehen, Kirchengüter aus ehemaligem Klosterbesitz zugunsten der Staatskasse zu enteignen.

Bei alledem ging es in Deutschland dennoch deutlich zivilisierter zu als in Frankreich. Kein Umsturz; wohl die eine oder andere Konfiskation durch unfreundliche Beamte, aber keine Plünderung und Brandschatzung; keine Hinrichtungen, sogar Entschädigung für vertriebene Mönche, wenn auch oft verspätet und auf bescheidenem Niveau. Und alles eben auf rechtlicher Basis durch eine Obrigkeit, die sich in teils deutlich vergrößerten Staaten mit oft gemischtkonfessioneller Bevölkerung um Akzeptanz bemüht und überall mit großen Reformen, fast einer Neugründung ihres Staates beschäftigt ist, bei der sie die Kirche braucht.

Nach 1800 durchdringt der moderne Verwaltungsstaat vielerorts Zonen des Lebens, die vorher ständisch, feudal organisiert waren, er dehnt seine Zuständigkeiten aus und bindet dabei bestehende Kräfte ein, die nun fast zu Staatsorganen werden. Man kann es auf eine einfache Formel bringen: Im Feudalismus war der Staat verkirchlicht gewesen; nun wurde die Kirche verstaatlicht, der weltlichen Obrigkeit ein- und untergeordnet. Priester wurden beinahe zu Staatsbeamten, die hoheitlich gewordene Aufgaben wahrnahmen – Schulunterricht, Eheschließung –, die von der Kanzel offizielle Verlautbarungen verlasen und die Gläubigen auch im Sinne des Staates lenkten, in ländlichen Gebieten etwa bestimmte Methoden des Ackerbaus anpreisen sollten. Darum greift der Staat in den Bereich der Kirche ein, erhält oft ein Mitbestimmungsrecht bei der Einsetzung der Bischöfe, macht Vorgaben für Predigt, Liturgie, selbst die Haartracht der Priester. Dies geht umso leichter, wenn der Fürst zugleich auch oberster Bischof ist, Summus Episcopus, wie etwa der König von Preußen bis 1918. Da die Kirche nun beinahe zu einer staatlichen Behörde wird, liegt auch ihre Finanzierung beim Staat, der zieht die Kirchensteuer ein, besoldet die Bischöfe und zeigt sich auch sonst als spendabel. So dass die geistigen Verletzungen aus der Säkularisationszeit bald verheilen.

An dieser Ordnung ändert sich im weiteren Verlauf der deutschen Geschichte vieles im Detail, aber nicht in der grundsätzlichen Ausrichtung: die Kirchen bleiben staatsfreundlich, der Staat kirchenfreundlich. Die vielen Brüche der deutschen Geschichte stürzen dieses Verhältnis aus jeweils eigenen Gründen nicht um. Die 1848er-Revolutionäre sind keine Aufklärer des 18. Jahrhunderts mehr, sondern fromme Romantiker; im übrigen gelangen sie nicht wirklich zur Macht. So wenig wie die weit weniger fromme proletarische Revolte 1918, die nach der einen historischen Tat, die Monarchie zu stürzen, alsbald zusammengeschossen wird; die Weimarer Verfassung ordnet das Verhältnis zur Kirche zwar neu, lässt wie auch in Verwaltung und Justiz aber vom bewährten System aus dem Kaiserreich vieles bestehen; das wiederum als Fürstenbund 1871 die Kirchenpolitik seiner Einzelstaaten nicht umgestürzt hatte. Nach dem Zusammenbruch von 1945 schließlich gab es keinen Anlass für den Staat, kirchenfeindlich zu agieren; die Obrigkeit, die – wiederum von außen – gestürzt worden war, hatte nicht mehr viel Christliches an sich gehabt, und nach dem moralischen Tiefpunkt der Nazibarbarei schien das Volk einer Rückbesinnung auf das Christliche sogar zu bedürfen. Somit wurden auch die neuen Bundesländer und die Bundesrepublik 1949 kirchenfreundliche Staaten. Und seither verhindern die beiden Parteien mit dem „C“ im Namen hier umstürzende Reformen, wiewohl es manchen Sozialisten danach gelüsten mag.

Anachronismen überall

Wie man sieht, ist das Verhältnis von Staat und Kirche beiderseits des Rheins historisch vorbelastet. Wenn in Deutschland Kritiker der engen Finanzverflechtung von Staat und Kirche einwenden, dass diese auf geschichtlichen Voraussetzungen beruhe, die gar nicht mehr bestünden, ist das nicht ganz falsch. Denn anders als 1815 ist die Kirche heute keine quasi-staatliche Behörde mehr; der Staat setzt keine Bischöfe ein, schreibt keine Liturgie vor und keine Predigttexte. Freilich ist nach dieser Logik das französische System mindestens genauso veraltet, denn das Feindschaftsverhältnis zwischen Kirche und Staat besteht dort schon lange nicht mehr. Die französische Kirche ist keine Bastion republikfeindlicher Royalisten mehr, war das schon zu Charles de Gaulles Zeiten nicht und vielleicht nicht einmal mehr 1905; hier wurden post festum Konflikte ausgetragen, deren Ursachen seit Generationen überholt waren. Wenn die Kirchensteuer in Deutschland ein lastender Anachronismus ist, dann der französische Laizismus in gleicher Weise. –

Gibt es für Deutschland Anlass, dem französischen Modell nachzueifern, Staat und Kirche stärker zu trennen? Mit einer Untersuchung, was „zeitgemäß“ ist, lässt sich die Frage nicht beantworten, denn zeitgemäß im strengen Sinne sind beide nicht. Man kann sich aber durch zwei Vergleiche der Frage annähern: einen geschichtlich-internationalen und einen rechtlich-kulturellen.

Man ist in Deutschland gelegentlich geneigt, von historischen Sonderwegen zu sprechen. Das hat allerlei Nachteile, setzt es doch voraus, dass es eine Art göttlichen Normalfahrplan für die Entwicklung von Nationen gibt. Gleichviel; jedenfalls kann man in dieser speziellen Frage feststellen, dass es in Sachen Laizismus einen deutschen Sonderweg nicht gibt. Wenn ein Sonderweg existiert, dann ist es eher der französische.

Die Französische Revolution mit ihren blutigen Verwerfungen hat sich anderswo nicht wiederholt, der Weg der evolutionären Reform von der absoluten Monarchie zur parlamentarischen Demokratie ist in West- und Mitteleuropa eher die Regel als die Ausnahme. Es gibt heute auf der Welt neben Frankreich keine zwanzig Staaten, die qua Verfassung laizistisch sind – darunter so renommierte Rechtsstaaten wie Kuba, Aserbaidschan und die Volksrepublik China. Das französische Modell ist nicht illegitim, hat für sich genommen seine historischen Gründe. Aber der Normalfall der Geschichte ist es nicht. Deutschland ist durchaus nicht die letzte Insel, auf der wegen lastender Anachronismen der fortschrittliche laizistische Geist noch nicht Einzug gehalten hat; Frankreich nicht der Vorreiter einer Weltbewegung, eher ein in Europa recht einsamer Reiter.

Keine Berührungsängste

Bleibt der zweite Vergleich: zwischen den Kirchen und anderen Kulturorganisationen und wie deren rechtliche Situation in Sachen Trennung vom Staat sich darstellt.

Wobei man hier zwei Ausprägungen unterscheiden muss. Trennung von Staat und Kirche im eigentlichen Sinn bedeutet: Der Staat übt keinen Zwang in Glaubenssachen aus, wird nicht von der Kirche regiert; die Kirche ihrerseits ist in ihren inneren Angelegenheiten frei von staatlicher Beeinflussung. Diese Art der Trennung von Staat und Kirche ist schon im neunzehnten Jahrhundert weitgehend erreicht worden und hat sich bewährt; sie hat den Aufbau des modernen Verwaltungsstaats ermöglicht und die Kirche „entweltlicht“, wie Papst Benedikt gesagt haben würde – also von Feudalpfründen und politischer Korruption befreit und damit spiritualisiert. Für die Kirche, speziell die katholische, war die Säkularisation langfristig gesehen ein Segen. – In diesem Sinne ist die Trennung von Staat und Kirche heute selbstverständlich und nicht anders als die Trennung von Staat und Gewerkschaften, Staat und Industrieverbänden, Staat und ADAC und anderen Großorganisationen. Sie wird nur deshalb besonders betont, weil sie vor zweihundert Jahren alles andere als selbstverständlich war.

Worauf der modische, atheistische Laizismus hinaus will, ist jedoch etwas völlig anderes, nämlich die Trennung von Religion und Öffentlichkeit, die Verdrängung des Glaubens ins Private. Dafür, also letztlich für das Bestreben, Atheisten im öffentlichen Raum nicht durch Religiosität zu belästigen, hat ein freiheitlicher Staat keine Handhabe, noch gibt es für ihn die Verpflichtung, mit Rücksicht auf Nicht- und Andersgläubige jede Kooperation mit den Glaubensgemeinschaften zu unterlassen.

Der Staat muss die Religionsgemeinschaften nicht subventionieren. Aber er darf es. Er subventioniert auch Opern, Theater, Sportvereine, ohne damit Nichtoperngänger, Theaterferne und Fußballhasser zu diskriminieren. Er betreibt damit sozusagen kulturelle Landschaftspflege. Nun, ein Sportverein ist keine Bekenntnisgemeinschaft, das ist wohl richtig. Aber auch Organisationen wie Parteien, die sich das öffentliche, politische Wirken als Existenzzweck gewählt haben, erhalten staatliche Unterstützung. Die Bundesrepublik ist, wie auch ihre historischen Vorgänger, ein in der Tendenz etatistischer Staat, kein libertärer. In einem Land mit an die 50 % Staatsquote gibt es naturgemäß nur sehr wenige Bereiche, die vom Staat völlig getrennt sind. Ein Kooperationsverbot speziell für die Kirchen zu formulieren, mit Argumenten, die im wesentlichen aus der Zeit der Französischen Revolution stammen – das wäre diskriminierend. Ob ein Staat Religionsgemeinschaften zu Körperschaften öffentlichen Rechts erklären und ihre Mitgliedsbeiträge erheben – was in der Tat eine deutsche Besonderheit ist –, sie diesbezüglich also privilegieren muss, ist eine andere Frage. Wo in dieser – bezahlten – Dienstleistung des Staates allerdings die signifikante Gefährdung der staatlichen Neutralität liegen soll, wäre noch zu beweisen.

Ähnlich steht es mit der Vielzahl an Symbolthemen, die immer wieder einmal in der Diskussion kurz aufscheinen. Wer sich von Religion im Allgemeinen und vom Christentum im Besonderen bei jeder Begegnung belästigt fühlt, mag wohl Anstoß daran nehmen, wenn sich hier und da im öffentlichen Raum ein Kreuz findet, wenn der Staat, der das früher kirchliche Vorrecht der Schulbildung übernommen hat, der Kirche das Restrefugium eines freiwilligen Religionsunterrichts belässt, wenn es einen christlichen Feiertag mit allgemeinem Ruhegebot im Jahr gibt oder wenn ein Parlament, das sich Künstler, Professoren, Intellektuelle zur Horizonterweiterung als Gastredner gönnt, auch einmal einen Papst ans Rednerpult einlädt.

Wo hierin Verstöße gegen das Neutralitätsgebot liegen sollen, ist dann allerdings im Einzelfall gründlich nachzuweisen. Die Beweislast liegt beim Ankläger. Empörung an sich ist jedenfalls noch kein Argument; nicht jedes Gemaule eines kleinen Haufens Querulanten sofort ein Grund, deren Religionsfreiheit gefährdet zu sehen. Die garantiert eine Freiheit des Bürgers zur Religion (oder Nichtreligion); nicht die Freiheit des öffentlichen Raums von Religion.


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