Der Stratege

Unter den alliierten Generalen gilt er als eigentlicher Bezwinger Napoleons. Aber Gneisenaus Stern stieg mit dem korsischen Eroberer auf und sank, als die Bedrohung schwand. Denn den Machthabern in Berlin ging er mit seinen Reformideen zu weit.


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gneisenauMan hat gelegentlich ein Omen darin sehen wollen, dass August Wilhelm Antonius von Neidhardt, später Gneisenau genannt, 1760 unter dem Donner preußischer Kanonen geboren wurde. Doch dies Schicksal war im kriegerischen achtzehnten Jahrhundert so ungewöhnlich nicht. Zum Tross der Fürstenheere, die quer durch Europa zogen, gehörten recht oft auch Frauen und Kinder der Soldaten; in den Einheiten, die Gneisenau später befehligte, war es nicht anders. Der Vater diente in der Reichsarmee, die auf Seiten der Kaiserin im Siebenjährigen Krieg gegen die Preußen zu Felde zog, und so kam es eben, dass seine Gattin in Schildau bei Torgau niederkam, als just das Heer Friedrichs des Großen nahte.

Langes Warten

Kindheit und Jugend des heranwachsenden Gneisenau sind wechselhaft und anfangs von Armut geprägt. Eine Ausnahme bildet die Zeit bei den Eltern der früh verstorbenen Mutter, einer alten Würzburger Offiziersfamilie, vom siebten bis dreizehnten Lebensjahr. Neben der katholischen Lehre, die dem Jungen wenig behagt, erfährt er dort ein bürgerliches Heim und vor allem viel Bildung, in den lateinischen Klassikern wie auch der im Aufstieg befindlichen deutschen Literatur und Philosophie. Gneisenau wird zeitlebens ein fleißiger Leser bleiben und auch selbst oft zur Feder greifen.

Den Weg zum Militär findet er, nach Rückkehr zum Vater und schnell wieder abgebrochenen Studien der Mathematik und Baukunst, mit achtzehn Jahren. Die Anfangszeit führt in österreichische und ansbachische Dienste, kurzzeitig, unter englischem Befehl, in den nordamerikanischen Unabhängigkeitskrieg. Im Todesjahr Friedrichs des Großen wechselt Gneisenau zum preußischen Heer, wo er sich auch gut bewährt und es zum Hauptmann bringt und damit zu genügend Einkommen zur Gründung einer Familie. Doch die große Herausforderung bleibt aus, Kasernendienst und Manöver prägen den Alltag, unterbrochen durch wenig ruhmreiche Engagements gegen polnische Rebellen und aufrührerische Bauern.

Aufstieg und Fall mit Bonaparte

Immerhin dienen diese trüben Jahre Gneisenau zum Studium, auf vielen Gebieten, in der Literatur, wo er Goethe, Schiller und Lessing mit Begeisterung liest, ebenso wie im Militärfachlichen. Dort erringt vor allem ein korsischer General seine Aufmerksamkeit, der die französische Revolutionsarmee gegen die Koalitionsheere von Sieg zu Sieg führt. „Bonaparte war mein Lehrmeister in Krieg und Politik“, hat Gneisenau später bekannt. Tatsächlich war er noch mehr: Erst Napoleon bringt Preußen in die militärische und politische Notlage, in der für neue Männer und Ideen Raum ist. Vorher wollte niemand hören, als Gneisenau vor den Schwächen der alten friderizianischen Armee warnte und Reformen anmahnte. Nach der Katastrophe von Jena und Auerstedt erhält er zunächst seine persönliche Bewährungschance, als Kommandant der Hafenstadt Kolberg in Hinterpommern, die er zur Festung ausbaut und gegen die französischen Belagerer bis zum Waffenstillstand erfolgreich verteidigt. Danach wird er vom König in die Militärreformkommission unter Vorsitz Scharnhorsts berufen, die Schlüsse aus der Niederlage ziehen und Reformen konzipieren soll. Gneisenau stellt die radikalsten Forderungen auf, die über rein militärische Erwägungen hinausgehen. Allgemeine Wehrpflicht, Aufbau der Landwehr; freie Offizierswahl, Abschaffung der erniedrigenden Bestrafung von Soldaten durch Stockschläge und Spießrutenlauf; Zurückdrängung der Adelsprivilegien, Vergabe der Ränge nach Leistung statt nach Herkunft. Für Preußen fordert er den Erlass einer Verfassung.

Manchen in Berlin schrillen die Alarmglocken angesichts solcher Ideen; zunächst aber benötigt man Gneisenau für den militärischen Teil der Reform, die Neuorganisation der Festungen und der Landwehr vor allem. Er erhält den Pour le mérite und wird zum Oberst befördert. Politisch kann er sich jedoch mit der Lage Preußens als besiegter abhängiger Halbverbündeter Napoleons nicht abfinden, fordert wiederholt den allgemeinen Volks-, ja Partisanenkrieg, wie er ihn in Amerika studieren konnte. Der König findet das „als Poesie gut“, aber nicht umsetzbar und vor allem gefährlich revolutionär. Gneisenau nimmt schließlich seinen Abschied vom Militär und 1812 aus Protest gegen einen Bündnisvertrag mit Frankreich überhaupt aus dem preußischen Staatsdienst.

Als nach dem gescheiterten Russlandfeldzug der Sturm gegen Napoleon losbricht, kehrt er zurück, nun als General und Stabschef der Schlesischen Armee unter dem „Marschall Vorwärts“ Gebhard von Blücher. Hier kann er seine Fähigkeiten voll ausspielen, bereitet den Franzosen schwere Niederlagen, treibt die alliierten Heere durch gewagte Manöver immer wieder vorwärts und gilt als eigentlicher Architekt des Sieges über Napoleon in Sachsen 1813. Freilich hört er im Moment des Sieges auf, für Preußen unverzichtbar zu sein, und bei den Politikern in Berlin schaden ihm nun seine „jakobinischen“ Reden aus der Reformzeit. „Zu einer Revolution würde ein Volkskrieg führen? Ja, wenn die Völker, von ihren Regierungen verraten und verlassen, zur Selbsthilfe greifen werden! Dann möchten die Regenten leicht über glücklicheren Anführern vergessen werden.“ Seinen politischen Einfluss, den er auf Souveräne und Regierungen in ganz Europa zeitweise hatte, verliert er, als der Feind abhanden kommt.

Die Entscheidung bei Waterloo

Zuvor jedoch hat der Stratege Gneisenau, inzwischen Mitte fünfzig, noch eine letzte große Stunde. Als Napoleon 1815 von Elba wiederkehrt und der Krieg erneut entbrennt, gehen die englische und die preußische Armee in den Niederlanden zuerst gegen den Feind. Die preußische wird bei Ligny geschlagen; Blücher, dem man das Pferd unter dem Leib erschossen, ist verschollen, kann das Kommando nicht führen; der Befehl geht zeitweise über an seinen Stabschef. Was ist zu tun? Mit Gewalt nach Norden marschieren, über aufgeweichten Boden, der Stadt Wavre zu, mit der Chance, von dort aus Lord Wellington beizustehen, der nun allein gegen die Franzosen zu unterliegen droht? Oder einstweilen sich geordnet in Richtung Maas zurückziehen, um die angeschlagene Armee neu zu formieren, wie alle taktische Vernunft zu gebieten scheint? Generalleutnant von Gneisenau befiehlt: „Die Armee geht nach Norden.“ Und entscheidet damit endgültig Napoleons Schicksal.


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