Der Unglücksmann

Die preußische Heeresgeschichte hat ihren glorreichen und ihren tragischen Moltke. Der Ältere siegte bei Königgrätz und Sedan und wurde zur nationalen Legende; der Jüngere scheiterte 1914 mit seinem Westfeldzug und starb bald darauf vereinsamt und verbittert. Vorher schon hielt sich der weiche, emotionale Mann nicht für seinen Posten geeignet – und forderte dennoch ungeduldig den Krieg.


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Unglueck_1Es ist nicht leicht, Epigone zu sein, zeitlebens im Schatten eines größeren Vorgängers zu stehen. Für Helmuth von Moltke, den Jüngeren, begann dies Schicksal mit zwanzig Jahren, als er in die preußische Armee eintrat, deren Generalstabschef und damals schon gefeierter Kriegsheld sein gleichnamiger Onkel war. Gewiss, der berühmte Name öffnete Türen; ohne ihn wäre der jüngere Moltke wohl ein tüchtiger Offizier geworden, aber kaum an die Spitze des Heeres gerückt. Doch er war auch ein Fluch. Denn er brachte den empfindsamen, lethargischen Mann, der jahrelang als Adjutant des großen Feldmarschalls, dann des Kaisers diente, mit wenig Bewährung im Truppendienst und im Generalstab, in eine Stellung, von der er im innersten wusste, dass er sie nicht auszufüllen vermochte.

Die Mechanik des Krieges

Das hinderte Moltke nicht, die historische Forschung hat es nachgewiesen, als Chef des Großen Generalstabes vor 1914 die Reichsleitung wiederholt zum Präventivkrieg zu drängen. Aber man soll daraus nicht ableiten, er sei einer jener tatendurstigen Haudrauf-Offizier gewesen, deren es in Preußen so viele gab. Im Gegenteil. Er war ein sanfter, belesener Mann, sehr kultiviert, spielte Cello, malte, dichtete. Auch ein Imperialist war er nicht. Über die China-Expedition von 1900 schrieb er einmal mit bitterem Spott: „Wir wollten Geld verdienen, Eisenbahnen bauen, Bergwerke in Betrieb setzen, europäische Kultur bringen, das heißt in einem Wort ausgedrückt, Geld verdienen. Darin sind wir keinen Deut besser als die Engländer in Transvaal.“ Moltke wünschte den Krieg nicht. Aber die militärischen Kräfteverhältnisse in Europa, die sich für Deutschland, nur mit dem schwachen Österreich verbündet, zwischen England, Frankreich und Russland eingeklemmt, ungünstig verschoben, trieben ihn dazu, den Konflikt zu suchen, solange er noch gewinnbar schien; und von dem er in düsterem Pessimismus ahnte, dass er ohnehin irgendwann kommen musste, obgleich er „die Kultur fast des gesamten Europas auf Jahrzehnte hinaus vernichten wird.“

Gelegentlich freilich ging Moltke über den bloßen Rat zum Kriege hinaus. Am Ende der Juli-Krise 1914, deren meiste Zeit der kränkliche Mann auf Kur in Karlsbad verbracht hatte, drängte er die Österreicher an Kanzler Bethmann Hollweg vorbei zur Generalmobilmachung, also nicht nur gegen Serbien, sondern auch gegen Russland; und sicherte dabei, klärlich seine Kompetenzen überschreitend, deutsche Solidarität zu. „Für Österreich-Ungarn zur Erhaltung durchhalten des europäischen Krieges letztes Mittel. Deutschland geht unbedingt mit.“ Was den österreichischen Außenminister zu dem Ausruf veranlasste: „Das ist gelungen! Wer regiert: Moltke oder Bethmann …?“

Vermutlich entschied Moltke damit nichts; in Wien war man ohnehin zum Krieg entschlossen. Aber eine ans Ungeheuerliche grenzende Eigenmächtigkeit war es dennoch.

Das Scheitern an der Marne

Was Moltke so zur Eile veranlasste, war der deutsche Kriegsplan, der ganz auf Schnelligkeit gebaut war: der berühmt-berüchtigte Schlieffenplan. Vermeidung des Zweifrontenkriegs durch zwei kurz aufeinanderfolgende Einfrontenkriege, Blitzsieg gegen Frankreich in sieben Wochen, Marsch durch das neutrale Belgien, der – je nach Blickwinkel – Grund oder Vorwand für die englische Intervention werden musste. Begann die russische Mobilmachung oder die Vorbereitung dazu, begann auch die Uhr für Moltkes Plan zu ticken und mussten die Mittelmächte losschlagen.

Den Schlieffenplan hatte Moltke geerbt, nicht erfunden, aber er war es, der ihn 1913 als alternativlos annahm und alle anderen Aufmarschpläne zu den Akten legte. So fand sich der Kaiser bei Kriegsausbruch in der denkwürdigen Situation, einen Aufmarsch im Osten befehlen zu wollen, um Englands Neutralität zu erhalten, dies aber nicht zu können, weil sein Generalstabschef nur einen einzigen Aufmarschplan für alle denkbaren politischen Konstellationen zur Hand hatte.

Wäre das Vabanque-Spiel gut gegangen, die Geschichte hätte Moltke gleichwohl zum großen Feldherrn erklärt. Aber es ging eben nicht gut. Der General scheiterte 1914 in der Schlacht an der Marne.

Man hat Moltke später strategische Fehlentscheidungen vorgehalten; dass er gegenüber dem ursprünglichen Schlieffenplan den rechten Flügel empfindlich schwächte und im entscheidenden Moment sechs Divisionen nach dem Osten verlegen ließ, wo Hindenburg auch ohne ihre Mitwirkung siegte. Ob ohne diese Maßnahmen ein Sieg möglich gewesen wäre, ist wiederholt spekuliert worden. Man mag es so sehen oder anders. Hinterher ist man immer klüger. Entscheidend waren wohl weniger die Entscheidungen, die Moltke traf, als jene, die er nicht traf. Dass das deutsche Westheer die Marneschlacht auf dem falschen Fuß anfing, rührte ganz wesentlich daher, dass Moltke eben nicht entschied und durchgriff, sondern es zuließ, dass jeder seiner Armeeführer seinen eigenen Krieg führte und so die verhängnisvolle Lücke in der deutschen Front entstand.

Seinen Untergebenen hat Moltke dies mit altbewährten preußischen Führungsprinzipien begründet: Führen durch Auftrag, Führen von vorne; der Generalstab gibt nur das Ziel vor, über das Wie der Durchführung entscheiden die Befehlshaber vor Ort. Allein, in einem Feldzug, der präzise ablaufen sollte wie ein Uhrwerk, gab es für derlei Freiheitsgrade keinen Raum. Moltke hatte sich angemaßt, die gesamte auswärtige Politik des Reiches seinem Kriegsplan unterzuordnen; seine eigenen Armeeführer so zu disziplinieren, dass der einmal begonnene Feldzug unfallfrei und ohne Eigenmächtigkeiten ablaufen konnte, fand er nicht die Kraft.

Nach der verlorenen Schlacht stellte der Kaiser seinen General, den er so lange protegiert hatte, aufs Abstellgleis. In der Form schnöde und unritterlich; in der Sache aber wohl mit Recht.


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