Die Schule der Präsidenten

Sie ist die bekannteste aller Grandes Ecoles, Kaderschmiede der französischen Beamtenelite und zugleich ein Stein des Anstoßes. Was ist dran am „Mythos ENA“? Erfahrungen und Eindrücke von Thomas Pickartz aus seiner Zeit an der Ecole Nationale d’Administration.


ALLE Artikel im Netz auf aka-bklaetter.de lesen und auch das Archiv?

Jetzt kostenlos

Anmelden


ena
Was verbindet den amtierenden französischen Staatspräsidenten François Hollande mit seinen Vorgängern Jacques Chirac und Valéry Giscard d’Estaing, mit sieben ehemaligen Premierministern, den amtierenden Kabinettsmitgliedern Laurent Fabius (Außen), Pierre Moscovici (Finanzen), Michel Sapin (Arbeit) und Fleur Pellerin (Innovation und KMU), dem ehemaligen EZB-Chef Jean-Claude Trichet, dem WTO-Generaldirektor Pascal Lamy und mit amtierenden wie ehemaligen Unternehmenslenkern vom Schlage eines Louis Gallois (EADS), Jean-Cyrill Spinetta (Air France-KLM), Henri de Castries (Axa) und Gérard Mestrallet (GDF Suez)? Sie alle haben – wenn auch zu unterschiedlichen Zeiten – dieselbe Schule besucht, die Ecole Nationale d’Administration (ENA).

Sinn und Zweck

Gegründet von Charles de Gaulle im Oktober 1945 nur wenige Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, sollte die ENA eine von der Kollaboration des Vichy-Regimes unbelastete Beamtenelite ausbilden, die sich dem Wiederaufbau der französischen Staatsverwaltung widmen sollte. Seither haben Generationen von Führungskräften in Politik, Wirtschaft und Verwaltung die direkt dem Premierminister unterstellte Einrichtung durchlaufen. Zunächst in Paris, im Zuge der französischen Dezentralisierungsbemühungen der frühen neunziger Jahre dann auch zunehmend in Straßburg. Anno 2005 wurde die gesamte Ausbildung der Enarchen nach Straßburg verlegt.

Wer sich als Franzose in einem der drei knallharten Auswahlverfahren der ENA (concours externe für Hochschulabsolventen, concours interne für französische Beamte mit mindestens vierjähriger Berufserfahrung, troisième concours für Bewerber mit mindestens achtjähriger Berufserfahrung in der Privatwirtschaft) gegen die große Masse seiner Mitbewerber durchgesetzt hat, hat das wichtigste Ziel bereits erreicht. Er ist verbeamtet (stagiaire fonctionnaire) und kann sich nun darauf konzentrieren, im Ranking des Jahrgangs (dem zwar bis zum Ende der Scolarité nicht öffentlichen, aber doch allgegenwärtigen Classement) möglichst gut abzuschneiden, um einen der begehrten Posten in den Grands Corps – dem Staatsrat (Conseil d’Etat), der mächtigen Generalinspektion für Finanzen (Inspection générale des finances) oder dem Rechnungshof (Cour des comptes) – zu ergattern.

Bei der Mehrzahl der rund 80 ENA-Schüler pro Jahr handelt es sich um Absolventen des Concours externe, die wiederum mehrheitlich am Science Po Paris, dem berühmten Pariser Institut für politische Studien, studiert haben. Anders als in Deutschland, wo die höhere Beamtenschaft vielerorts noch vom Juristenmonopol geprägt ist, stellen unter den französischen Spitzenbeamten somit Politik- und Sozialwissenschaftler die Mehrheit.

Lehrinhalte

Die gut zweijährige Scolarité der französischen ENA-Schüler setzt sich aus drei interdisziplinär gestalteten Modulen zusammen, die in einen stark verschulten theoretischen und einen praktischen Teil unterteilt sind. Im Modul „Europe“ werden die künftigen Spitzenbeamten zunächst in Vorlesungen (grandes conférences), Seminaren, Teamarbeiten und aufwendigen Verhandlungssimulationen mit den Grundzügen der europäischen und internationalen Politik und der Arbeitsweise der EU-Institutionen vertraut gemacht, bevor sie eine viermonatige „Stage“ (Praxiszeit) bei den EU-Institutionen, der Ständigen Vertretung Frankreichs bei der EU, einer französischen Auslandsvertretung, der Ministerialverwaltung eines befreundeten Mitgliedstaats oder einer Internationalen Organisation absolvieren. „Klassisch“ ist etwa der Einsatz von Enarchen im Kabinett eines EU-Kommissars, im Generalsekretariat des Rates der EU, in der Welthandelsorganisation, der OECD, der französischen Botschaft in Washington oder auch im deutschen Auswärtigen Amt.

Das anschließende Modul „Territoire“ vertieft sodann die Kenntnisse des Enarchen hinsichtlich der Aufgaben der französischen Territorialverwaltung. Der praktische Teil ist durch eine fünfmonatige Stage in der französischen Verwaltung gekennzeichnet. Die Mehrheit der ENA-Schüler wird in dieser Zeit dem Kabinett eines Präfekten zugeordnet. Dieser agiert in den 100 französischen Départements – einschließlich der Überseedépartements Guadeloupe und Martinique – als Repräsentant des Zentralstaates. Ihm unterstehen zahlreiche Behörden, die in der föderalen Bundesrepublik Deutschland in die Kompetenz der Länder fallen würden (z. B. Polizei und Gendarmerie, Schulämter). Die allermeisten Präfekten und Unterpräfekten (sous-préfets) haben selbst die ENA durchlaufen, können also gut abschätzen, welchen Einsatz sie von ihren Schützlingen erwarten können.

Im dritten und letzten Modul „Gestion et management publics“ werden den angehenden Spitzenbeamten schließlich noch Fähigkeiten im Verwaltungsmanagement vermittelt. Dazu gehört eine viermonatige Stage in einem privaten Unternehmen. In allen drei Modulen ist regelmäßiger Sprachunterricht in Englisch und einer weiteren Fremdsprache Pflicht. Sowohl hinsichtlich der Auswahl an Fremdsprachen (im Angebot sind z. B. auch Chinesisch, Arabisch und Russisch) als auch in punkto Arbeitsweise (Kleingruppen, ggf. auch Individualunterricht möglich) werden keine Kosten und Mühen gescheut. Zudem muss jeder ENA-Schüler zu Beginn eine Sportart auswählen, in der er am Ende der Scolarité ebenfalls bewertet wird. Im (von der ENA komplett finanzierten) Angebot ist nahezu alles von Fußball und Tennis über das Fechten bis zum Reiten oder Golf.

Jedes Jahr verstärken rund 20 bis 40 ausländische Hochschulabsolventen und Nachwuchsbeamte aus aller Welt die französischen ENA-Jahrgänge im Rahmen des internationalen Aufbaustudiengangs Cycle international long. Die Ciliens, wie sie von ihren französischen Kollegen liebevoll genannt werden, kommen überwiegend aus Europa und (dem frankophonen) Afrika, aber auch Asiaten und Südamerikaner sind keine Seltenheit. Die Ciliens absolvieren nur die ersten beiden der drei Module der Scolarité (Europe und Territoire), gehören dem ENA-Jahrgang also „nur“ während der ersten 18 Monate an. Zudem unterliegen sie nicht dem Classement. Im übrigen werden sie jedoch – égalité sei Dank – wie ihre französischen Kollegen behandelt, besuchen dieselben Seminare, absolvieren dieselben Stages und schreiben dieselben Prüfungen.

Erfahrungen

Ich gehörte mit vier weiteren Deutschen zu insgesamt 34 Ciliens, die von Dezember 2006 bis Mai 2008 die Reihen von 93 französischen Enarchen verstärkten. Die Deutschen stellen an der ENA traditionell die größte nicht-französische Gruppe. Nicht nur wegen der besonderen Bedeutung der deutsch-französischen Freundschaft, die von Konrad Adenauer und Charles de Gaulle im Elysée-Vertrag vom 22. Januar 1963 besiegelt wurde, sondern auch deshalb, weil der Deutsche Akademische Austauschdienst jedes Jahr fünf gut dotierte Stipendien für den Cycle international long der ENA anzubieten hat. Die bekanntesten deutschen ENA-Absolventen dürften der ehemalige UN-Botschafter Gunther Pleuger und der Richter am Europäischen Gerichtshof, Professor Dr. Thomas von Danwitz, sein.

Unser ENA-Jahrgang hat sich den Namen „Willy Brandt“ gegeben. Willy Brandt setzte sich im Finale gegen Winston Churchill mit 71 gegen 49 Stimmen durch. Es ist das erste Mal, dass ein ENA-Jahrgang den Namen eines Deutschen trägt. Meine Erinnerungen und Eindrücke von der Zeit an der ENA sind durchweg positiv. Während meiner beiden Stages in der Abteilung Handelspolitik der Ständigen Vertretung Frankreichs bei der EU und im Kabinett des Präfekten des Département de l’Ain wurde ich wie ein echter Stagiaire ENA als vollwertiges Teammitglied behandelt und mit verantwortungsvollen Aufgaben betraut. Während der Vorlesungen, Seminare und Gruppenarbeiten habe ich viele französische Mitschüler kennen und schätzen gelernt. Ob es sich dabei um künftige Präsidenten, Minister oder Konzernchefs handelt, wird die Zukunft zeigen. In jedem Fall bleibt es beim Du.

In der Diskussion

Seit jeher ist an der ENA auch Kritik geäußert worden. Im Präsidentschaftswahlkampf 2007 forderte der Kandidat des Mouvement Démocrate François Bayrou gar ihre Abschaffung. Neben plakativ-populistischen Vorwürfen, die ENA produziere eine volksferne, technokratisch denkende Politiker- und Beamtenkaste, die sich später gegenseitig protegiere, wird von Kritikern eine gewisse empirisch durchaus belegbare Herkunftshomogenität der Enarchen kritisiert. So sind farbige oder muslimische Enarchen unter den französischen ENA-Schülerinnen und -Schülern tatsächlich seltene Ausnahmen. Auch kommen fast alle ENA-Absolventen aus der gut situierten bürgerlichen Mittelschicht.

In Umfragen aus dem Jahr 2007 sprachen sich gleichwohl nur 27 % der Franzosen für eine Abschaffung der ENA aus. Die große Mehrheit der Grande Nation steht weiterhin zu ihrer prestigeträchtigen Grande Ecole.

Bewerbung an der ENA
Der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) stellt Hochschulabsolventen aller Fachrichtungen großzügig dotierte Stipendien für ein Studium an der ENA zur Verfügung. Bewerbungsschluss für den 18-monatigen Cycle international long, der Anfang Dezember 2014 beginnt, ist der 20. Dezember 2013. Informationen zu den Bewerbungsvoraussetzungen und dem Bewerbungsverfahren bietet die Website des DAAD.


...mehr Lesen in den akademischen Blättern oder ganze Ausgaben als PDF?


Jetzt hier kostenlos Anmelden