Einheit, ohne Zusatz

Normalerweise lohnt es nicht, auf die Baukastenformeln in Politikerreden näher zu schauen, von Redenschreibern und Pressesprechern vorgestanzt, um jedes Anecken zu vermeiden. Aber an nationalen Weihetagen, wie der Tag der Einheit gerade im großen Jubiläumsjahr einer ist, lohnt es manchmal doch, denn manche der Formeln sind verräterisch. Eine dieser Formeln, die am 3. Oktober immer vielfach Verwendung findet, ist der Dreiklang von der „Einheit in Frieden und Freiheit“. Er klingt wohlgeformt, aber er ist eine Relativierung der Bedeutung dieses Tages, und die Politiker sollten ihn sich abgewöhnen. Denn Friede und Freiheit haben eigene Gedenktage und brauchen diese doppelte Würdigung nicht.


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Die Begriffsklaubereien kommen natürlich nicht von irgendwoher. Sie stammen aus den Tiefen der deutschen Geschichte, von der ersten deutschen Vereinigung von 1871, als Bismarck zwar den deutschen Nationalstaat schuf, ihm aber noch keine vollparlamentarische, demokratische Verfassung gab. „Einheit vor Freiheit“, „Einheit ohne Freiheit“, „Einheit um den Preis der Freiheit“ sind Formeln, die die Historiker, in Abgrenzung vor allem zur gescheiterten liberalen Revolution von 1848/49, für diesen Vorgang gefunden haben. Die Formel sind allesamt verkürzend, vergröbernd, unter mancherlei Blickwinkel vielleicht sogar falsch, aber lassen wir sie einmal so stehen. Jedenfalls empfand man das Bedürfnis, die Einheit von 1990 davon abzugrenzen; denn das Deutschland von 1990 war zweifelsohne demokratisch, und anders als Bismarcks Deutschland war es ohne Krieg entstanden. Deshalb die Formulierung von der Vollendung der Einheit „in Frieden und Freiheit“.

Gewiss brachte der Fall des Eisernen Vorhangs, der Sturz der Regime von Warschau bis Bukarest, von Budapest bis Ost-Berlin mehr Frieden und mehr Freiheit. Das Wegfallen der Blöcke eliminierte das Risiko des Dritten Weltkrieges, das bis in die Achtziger hinein immer wie ein dunkler Schatten über Europa gelegen hatte. Und die Völker, die jahrzehntelang unter der Knute der Einparteienherrschaft gelebt hatten, wurden frei und tasteten sich vorsichtig vorwärts in Richtung Demokratie. Das alles ist ganz ohne Zweifel erinnerns- und bejubelnswert, ein Gottesgeschenk und ein unglaubliches Glück, wie es die Völker Europas in ihrer Geschichte selten hatten.

Aber es ist, jedenfalls für Deutschland, nicht die ganze Geschichte. Wenn es so wäre, könnte man die Erzählung im März 1990 enden lassen, mit der ersten freien Volkskammerwahl, in der die DDR-Bürger souverän wurden, und sich auf den 9. November als großen Jubiläumstag beschränken. Was in der Bürgerbewegung, die eine reformierte DDR zunächst durchaus erhalten wollte, ja auch eine historisch legitime Wurzel hat. Und dann könnte man, wie ja auch bereits überlegt worden ist, in Berlin kein reines Einheitsdenkmal bauen, sondern ein Einheits- und Freiheitsdenkmal; oder, auch die Forderung konnte man schon hören, die Einheit im Titel vielleicht doch lieber ganz weglassen.

Allein, die Geschichte ist eben anders verlaufen, man ist nicht bei der individuellen Freiheit, die man in Kleinstaaten oder einem Weltstaat genauso haben kann, stehengeblieben, man hat wieder einen Nationalstaat geschaffen. Gegen die einheitsskeptischen Intellektuellen in Ost und West, von denen Günter Grass nur das krasseste Beispiel war, gegen viele Leitmedien, gegen manche Bedenken der Nachbarn. Das ist Helmut Kohls bleibendes Verdienst. Für den katholischen Pfälzer war, anders als vielleicht für seinen Mentor Adenauer, die Einheit Deutschlands – wie auch Europas – immer eine Herzensangelegenheit. Und im Herzen ist sie richtig angesiedelt. Die Einheit der Nation ist ein Wert an sich. Dass ein Volk nicht durch Grenzen getrennt wird, die fremde Mächte festgelegt haben, dass es in einem Staat leben kann, wenn es das möchte, ist keine Frage von Staatsverträgen und Gebietsverwaltung; es ist ein Naturrecht, ein heiliges Recht, gegeben wie die Wälder, die Flüsse und die Berge, und es zu verwehren ist ein Frevel, wie Naturzerstörung ein Frevel ist. Kohl hat nicht zufällig eine Landschaftsmetapher verwendet, als er in jenem berühmten Gespräch mit Gorbatschow meinte, so wie die Wasser des Rheins unweigerlich ins Meer mündeten, so sei unvermeidlich, dass die Deutschen beiderseits von Mauer und Stacheldraht eines Tages wieder zusammenfänden. Gar nicht so unähnlich, wie Bismarck 1866 einmal meinte: „Man hat die Main-Linie als eine Mauer zwischen uns und Süddeutschland aufrichten wollen, und wir haben sie akzeptiert, weil sie unserm Bedürfnis und unserm realen Interesse entsprach; aber sollte man sich darüber getäuscht haben, daß sie nicht eine wirkliche Mauer, sondern eine ideale Grenze – um im Gleichnis zu bleiben, gewissermaßen ein Gitter ist, durch welches der nationale Strom – dessen Unaufhaltsamkeit man in dem Vorbehalt der liens nationaux anerkennen mußte – seinen Weg findet?“

Das deutsche Volk, geformt durch Abstammung, Kultur, Sprache, Jahrhunderte gemeinsamer Geschichte, historisch eine eigene Realität von eigenem Rang, wurde 1990 vom Objekt wieder zum Subjekt der Weltgeschichte. Dessen zu gedenken ist Anlass zum Feiern genug. Auch im europäischen Zeitalter, denn Europa ersetzt nicht die Nation; wenn sich das Volk entscheidet, seine Souveränität zu teilen und in einem größeren Ganzen, in einem einigen Europa aufzugehen, so tut es das nun freiwillig, es ist nicht Vasall eines Imperiums, Gliedstaat in einem System von Sklavenstaaten wie die DDR einer war.

Der 9. November 1989 bleibt der große Tag der Freiheit. Der 3. Oktober ist der Tag der Deutschen Einheit. Ohne Zusatz.


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