Freiheit, aber bitte keinen Liberalismus

Die Deutschen wollen Freiheit, aber das Ansehen der entsprechenden politischen Richtung, des Liberalismus, schwächelt dramatisch. Das liegt nicht nur am Versagen der liberalen Partei, sondern auch an der argumentativen Lufthoheit seiner Gegner und seiner unangenehmsten Eigenschaft: der Verknüpfung von Freiheit und Verantwortung.


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„Wovon man vor 200 Jahren anfing zu träumen, das prägt in Skandinavien sämtliche Sphären des Alltags wie der Institutionen. Gleichberechtigung der Geschlechter, Gewaltfreiheit in der Erziehung, eine auf Chancengerechtigkeit angelegte Bildungslandschaft, gute Sozialsysteme: All das ist so erfolgreich, dass es etwa Neoliberalen Angst machen kann.“(1)

Dieser kurze Abschnitt aus einem Artikel auf der Seite des Tagesspiegels fasst das zusammen, was man in Deutschland mit Liberalismus – oder noch schlimmer: Neoliberalismus (2) – verbindet; kurz: alles Schlechte der modernen Welt, alles was bei aufgeklärten Mitteleuropäern teutonischer Abstammung Schnappatmung auslöst.

Wenn man allein diesem bundesdeutschen Verständnis von Liberalismus folgen würde, müssten doch eigentlich Parteien wie die FDP endlich einsehen, dass die Deutschen sie nicht wollen. Eigentlich. Wäre da nicht eine repräsentative Umfrage des Instituts Allensbach, die bescheinigt, dass sich insgesamt 47 Prozent der Befragten als liberal bezeichnen, sogar 40 Prozent der Wähler der Linken.

Was diesem eigenartigen Verhältnis zugrunde liegt, lässt sich wohl am ehesten mit einer Mischung aus Tradition, Kollektivgedanken, selbstverschuldeter Unmündigkeit und schließlich einer schlichtweg falschen Begriffsnutzung erklären.

Kind der Aufklärung

Nähert man sich dem Liberalismus zunächst von philosophischer Seite, fällt auf, dass dieser entgegen anderen politischen Strömungen das Individuum in den Mittelpunkt stellt. Kein Kollektiv, keine übergeordnete Macht ist Ziel und Antrieb, er folgt einer intrinsischen Motivation. Ein zentrales Element dabei ist das Eigentum. Zunächst in Form der „Self-Ownership“, des Eigentums an sich selbst, was auch eine Gleichheit aller Menschen in ihren Rechten impliziert.

Alles was der einzelne Mensch mit seiner Lebenskraft – seiner Zeit, seinem Geist und seiner Hände Arbeit – erarbeitet und schafft, gehört ihm. Mit seinem Leben und seinem Eigentum kann er tun, was immer ihm beliebt. Leben, Freiheit, Eigentum und die damit einhergehende Verantwortung für sich und für andere bilden dabei eine Einheit. Hierbei kann die persönliche Freiheit nur soweit gehen, bis sie die Freiheit einer anderen Person einschränkt. Nur freiwillig ausgehandelte Absprachen oder Verträge sind Grundlage für soziale Interaktion oder können die Freiheit in bestimmten Bereichen einschränken, in aller Regel für eine Gegenleistung.

Letztgenanntes Konzept ist nicht neu. Bereits Konfuzianismus, Buddhismus, griechische Philosophie, Judentum oder Christentum setzen sich mit den Themen Eigentum und Verantwortung auseinander. Sei es Platon, „Niemand soll sich nach Möglichkeit an meinem Eigentum vergreifen und auch nicht das Geringste davon verrücken, ohne irgendwie meine Zustimmung erlangt zu haben. Nach demselben Grundsatz muß ich auch mit dem Eigentum anderer verfahren, wenn ich bei gesundem Verstand bin“ (3), oder im Alten Testament unter Tobias 4, 15 bzw. im Neuen Testament unter Matthäus 7, 12 mit dem altbekannten Satz „Alles nun, was ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch.“

Der moderne Liberalismus ist dennoch ein Kind der Aufklärung, der Vernunft und somit des rationalen Arguments. Die extremste Form findet sich im Libertären, auch Anarchismus, der nicht viel mit dem heute weitverbreiteten Verständnis dieses Begriffs gemein hat. Es ist hierbei das Vertrauen in die vernunftbegabten Wesen, die in freiheitlicher und friedlicher Weise miteinander interagieren, ähnlich dem Urzustand, den der englische Philosoph John Locke (1632–1704) dem Naturzustand, dem egoistischen Krieg „aller gegen alle“, von Thomas Hobbes (1588–1679) entgegensetzt.

Dem immer noch weitverbreiteten Staatsverständnis eines Leviathan, den Hobbes als Basis eines möglichen gesellschaftlichen Zusammenlebens sieht, steht der Gesellschaftsvertrag von John Locke entgegen. Der Staat ist nicht Primat über den Menschen, der Staat hat allein für die Sicherstellung der Grundfreiheiten zu sorgen. Das Individuum verzichtet hierbei in einem freiwilligen Akt auf Gewalt und gesteht dem Staat eine ordnende bzw. rechtssprechende und schützende Funktion zu.

Gesellschaftlicher Fortschritt fordert nach diesem Verständnis nicht mehr, sondern im Gegenteil, weniger Staat. Sozialistische oder konservative und somit staatszentrierte Wertemodelle, die dem Individuum nicht die Kapazitäten zusprechen, zunehmend komplexere Probleme lösen zu können, gehen davon aus, dass der Staat a priori Fortschritt, Bedarf oder Gemeinwohl bestimmen kann.

Mit der höheren Komplexität und Vernetzung, aber vor allem mit dem Anstieg der Zahl von Dienstleistern, wird de facto die Aufgabenmenge geringer, die der Staat exklusiv anbieten kann. Infrastruktur, Telekommunikation und Postwesen sind hier nur einige Beispiele.

Wirtschaftliche Freiheit und Korporatismus

Wirtschaftliche Freiheit ist eine der zentralen Grundvoraussetzungen für Entwicklung. Dass dabei die Eigentumsrechte eine zentrale Rolle spielen, haben unter anderem der Nobelpreisträger Milton Friedman und in jüngerer Zeit der schwedische Autor Johan Norberg dargelegt. Letzterer hat in seinem Buch „In Defence of global Capitalism“ (zumindest im Titel wenig rühmlich als „Das kapitalistische Manifest“ übersetzt“) asiatische und afrikanische Staaten verglichen, die mit einsetzender Dekolonialisierung relativ ähnliche Startvoraussetzungen hatten.

Staaten, die Eigentum sichern, die Wirtschaft wenig regulieren und unternehmerischer Tätigkeit weiten Raum lassen, weisen alle ähnliche Merkmale auf. Das Einkommen – auch der Ärmsten –, Wachstum und Lebenserwartung sind signifikant höher, während Armut und Analphabetismus deutlich geringer sind als in Vergleichsstaaten.(4)

Jedoch sind gerade diese Wellen der „Liberalisierung“ oder besser der Privatisierung in den Zeiten der Globalisierung Wasser auf den Mühlen der Kritiker. Und das nicht ohne Grund, wurde doch eines der zentralen Elemente oft vollkommen vernachlässigt: die Verantwortung.

So leben wir nicht in einer vom liberalen Kapitalismus sondern vom Korporatismus geprägten Welt. Gehen Banken pleite, müssen diese gerettet werden, sind es Unternehmen, soll bitte auch der Staat einspringen. Alles andere ist systemgefährdend und alternativlos. Dass eben diese Sichtweise an den Grundfesten unseres Zusammenlebens rüttelt – sei es auf nationaler oder EU-Ebene – wird mit dem Argument der sozialen und gesamtgesellschaftlichen Verantwortung vom Tisch gewischt. Mit ESM und EFSF werden in Europa quasi übergesetzliche Notstandsregimes geschaffen, die parlamentarische und rechtsstaatliche Prinzipien aushebeln und sich damit exzellent in das gemeinwohlfördernde Selbstverständnis der EU-Bürokratie eingliedern.

Marktwirtschaft verunsichert Menschen – sei es, weil sie diese nicht verstehen und ihre Aktivitäten nicht vorhersehen können oder weil Märkte auch immer eine Konkurrenzsituation bedingen, ein „Survival of the Fittest“ (5). Doch letzteres ist nichts Schlechtes. Joseph Schumpeter beschreibt die „schöpferische Zerstörung“ als einen positiven Akt der ständigen Erneuerung, während der Theoretiker Marx dies noch als Gefahr ansah.

Um der Konkurrenzsituation und den Marktkräften zu entgehen, wird das angewandt, was Ralf Dahrendorf als Pumpkapitalismus beschreibt, jenen falsch verstandenen Keynesianismus, der die Staatsschulden in kaum noch fassbare Höhen geschraubt hat. Wer soll es den Politikern jedoch verübeln, ist er doch ein scheinbar leichter Weg aus Krisen und entspricht dem von ihren Beratern gelernten IS-LM-Modell. Der Staat erzeugt künstliche Nachfrage und kurbelt damit die Wirtschaft an. Die Folgen haben wir in der Finanzkrise 2007 erleben müssen: Die Blase platzte, welche die USA durch Freddie Mac und Fannie Mae aufgepumpt hatten. Die aktuelle Finanz- und Staatsschuldenkrise daher als Ergebnis einer überliberalisierten Wirtschaftspolitik zu sehen, mag zwar opportun und bequem sein, es verfehlt den Schuldigen jedoch bei weitem. Durch die Aufblähung des Staatsapparates, die Überschuldung und die Verabschiedung vom strikten Haftungsprinzip wird den Grundsätzen der Österreichischen Schule der Nationalökonomie als volkswirtschaftlicher Basis des Liberalismus diametral entgegengearbeitet.

Verhält sich die Regierung in diesem Sinne liberal, wird ihr Kälte, gar Rechtspopulismus, vorgeworfen, wie zuletzt der slowakischen SaS, die unter Hinweis auf diese Prinzipien der „Euro-Rettung“ nicht zustimmte.

Gemischter Opferbrei

Was für die staatliche Ebene gilt, gilt erst recht für die private. Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen, scheint viele zu überfordern. Anstatt Eltern beispielsweise für den Bewegungsmangel und die zunehmende Adipositas im Kindesalter verantwortlich zu machen, sucht man den Schuldigen lieber in der Fast-Food-Industrie. Anstatt Eltern für die mangelnde Bildung ihrer Kinder in Haftung zu nehmen, sind die Lehrer schuld.

Werden diese Themen jedoch angesprochen, setzt sich die bundesdeutsche Empörungsindustrie in Gang. Alle sind Opfer, und in diesem gemischten Opferbrei trägt keiner Verantwortung. Hier folgen die Deutschen der paternalistischen Mentalität der Grünen und der naiven Verantwortungslosigkeit der Piraten. Anstatt die Probleme der Gesellschaft anzugehen, parliert man lieber über die weitere Institutionalisierung der Verantwortungslosigkeit für das eigene Leben wie das bedingungslose Grundeinkommen. Ob und wie es bezahlt wird, ist dabei nebensächlich. Arbeit wird als etwas Böses verteufelt und gar Hartz IV als Arbeitszwang verurteilt. Die Tatsache, dass man noch nie so viel zur Verfügung hatte wie heute – seien es Zeit oder Güter – wird dabei vollkommen ignoriert, Geld kommt aus der Wand. Dass Menschen schon immer arbeiten mussten, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, verkommt dabei zur Nebensache.

Da hat es das liberale rationale Argument nicht leicht, da es nicht auf den Wohlfühlfaktor setzen kann und den Blick auf die unangenehme Wahrheit lenkt. Liberalismus ist eine tolle Sache, leider sind ihre Anwälte in der deutschen Gesellschaft nicht die besten und genießen kaum gesellschaftliche Anerkennung. Angefangen bei Unternehmern bis hin zur FDP, die derzeit der argumentative Sargnagel für diese politische Richtung ist. Als Partei des organisierten Liberalismus bietet sie Gegnern und Medien mit ihrer schwächsten Regierungsbeteiligung und mit Umfragewerten von teilweise deutlich unter fünf Prozent eine formidable Zielscheibe. Um die scheinbare „soziale Kälte“ zumindest sprachlich zu überwinden, wurde der mitfühlende Liberalismus erfunden und somit dem Druck zum Konformismus weiter nachgegeben. Ein Konformismus, der ein abstraktes Gemeinwohl und eine politische Korrektheit in den Mittelpunkt stellt. Was es nicht geben darf, kann es nicht geben, wer wir sein werden, hat eine kleine Gruppe a priori festgelegt. Dennoch sollen Menschen leben, wie es ihnen gefällt. Dieses schizophrene Verhältnis zur Freiheit kann man verstehen, wenn man das Dilemma der Anhänger und Nachfolger der 68er-Bewegung betrachtet. Sie wollten frei sein, haben sich jedoch Vorbilder wie Mao oder Che Guevara gesucht und flüchteten in eine sozialistische Idealwelt. Sie verfügen jedoch über zwei entscheidende Vorteile: den moralischen Holzhammer und die argumentative Lufthoheit, mit denen sie die politische Debatte bestimmen. Auch Voltaires Toleranzbegriff scheint nur solange zu gelten, wie er in das eigene Weltbild passt. Jedoch zeigt zum Beispiel Stuttgart 21, dass nicht der, der am lautesten schreit, auch automatisch die Mehrheit hinter sich hat; eine Erkenntnis, die sich in der Politik leider derzeit nicht durchgesetzt hat.

Freiheit als Selbstverständlichkeit

So ist der Kampf um die Freiheit in Deutschland für viele oberflächlich gewonnen. Vergessen die Bewegung im Vormärz, vergessen die freiheitlichen Bestrebungen in der Weimarer Republik, verklärt die 68er- und die Frauenbewegung. Freiheit ist etwas Selbstverständliches geworden. Dabei hauptsächlich jedoch die eigene Freiheit, nicht so sehr die der anderen. Auch hier äußert sich das schizophrene Verhältnis zur Freiheit. Der Staat soll bitte alles regeln, seien es Mindestlöhne, Quoten, Altersversorgung, Geld für den, der nicht arbeitet, und eine Strafsteuer für den, der mehr verdient als ich. Die Rechte und Annehmlichkeiten, die der Staat im Namen der individuellen Sicherung der Freiheit bietet, werden mehr als ausgeschöpft. Die Pflichten, die mit unserem freiheitlichen Prinzip einhergehen, bleiben weitestgehend unberührt und unerfüllt, etwa das Subsidiaritätsprinzip.

Doch die Freiheit ist nicht selbstverständlich, sie muss jeden Tag aufs neue gelebt und erkämpft werden. Liberale Werte müssen aktiv geschützt werden, vor allem vor den Feinden der Freiheit, sei es Totalitarismus, Religion oder Paternalismus.

Der neue Bundespräsident Joachim Gauck stellt Freiheit und Verantwortung wieder in Beziehung zueinander, wenn er sagt „Wir rufen: Vater Staat, sei väterlich! Da läuft man Gefahr, in den Status des Kindes herabzusinken.“ Freiheit ist anstrengend; man muss sich entscheiden oder es wird über einen entschieden. Damit fordert sie jedoch auch Mut, Mut zum Ausgang aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit. Dies schafft Chancengerechtigkeit und damit Gerechtigkeit, in ihrer Form der Verfahrensgerechtigkeit. Das erfordert jedoch auch die Wertschätzung von Freiheit, von Fairness, Leistung und Verantwortung, aber auch von Bildung. Diese Werte müssen selbstbewusst vorgelebt und positiv neu besetzt werden, um dem unreflektierten Antiliberalismus der Deutschen (6) die Stirn zu bieten.

 

Anmerkungen:

(1) http://www.tagesspiegel.de/meinung/breivik-prozess-norwegen-verteidigt-seine-werte-vorbildlich/6512382.html
(2) Das ordoliberale Prinzip bildet die Grundlage der Sozialen Marktwirtschaft als aktives Eingreifen des Staates in den Wirtschaftsprozess zur Verhinderung von Mono- und Oligopolen.
(3) Nomoi XI 913a, Klaus Schöpsdau: Platon, Nomoi IV-VII: Übersetzung und Kommentar. (= Platon, Werke. Übersetzung und Kommentar. Im Auftrag der Kommission für Klassische Philologie der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz hrsg. von E. Heitsch und C. W. Müller, Abt. IX 2, zweiter Teilband); Göttingen 2003)
(4) Economic Freedom of the World: 2011 Annual Report, Fraser Institute, http://www.freiheit.org/files/100/EFR-2011.pdf.
(5) Das Überleben des bestangepassten Unternehmens.
(6) Frei nach Bundespräsident Theodor Heuss.


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Daniel Kaddik

geb. 1981, Staatswissenschaftler, VDSt Straßburg-Hamburg-Rostock.

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