Jedem das Beste

In Hamburg wurde der Spieß umgedreht. Fühlten sich bundesweit Eltern, Schüler und Lehrer jahrelang als Spielball bildungsideologischer Kämpfe und schulischer Systemexperimente, müssen sich Politiker nun mit der Realität auseinandersetzen. Befürworter längeren gemeinsamen Lernens behaupteten stets, die Mehrheit der Eltern stünde hinter ihnen – ohne dies je bewiesen zu haben. Ich beglückwünsche die Hamburger Eltern ausdrücklich zu ihrem Erfolg.


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Keiner weiß um den Nutzen und Mehrwert des teuren Hamburger Primarschulexperiments, abgesehen von denjenigen, die sich entweder heimlich oder ganz offen den Traum von der Fusion aller Schularten und damit die Abschaffung des Gymnasiums  erträumen. Wir müssen aber den konkreten Wert für die Schüler und Schulen erfragen. Professor Baumert, Leiter der ersten PISA-Studie und Direktor am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, wurde dazu am 8. März 2010 im Tagesspiegel mit folgender Aussage zitiert: „Es lässt sich nicht beweisen, dass die sechsjährige Grundschule der vierjährigen überlegen ist oder umgekehrt.“ Selbst die OECD schrieb 2004: „Es besteht kein statistisch signifikanter Zusammenhang zwischen dem Alter, in dem die Selektion stattfindet, und den Durchschnittsergebnissen der Länder.“ („Lernen für die Welt von morgen. Erste Ergebnisse von PISA 2003“)

Der Gedanke vom Dorf und getriebenem Borstenvieh mag hier gerne bemüht werden.

Befürworter der Einheitsschule gehen von der Annahme aus, dass Intelligenz und Bildung in der Regel nicht korrelieren und alle Schüler grundsätzlich mit der Einschulung die gleiche Chance haben auf das Gymnasium zu gehen – wäre da nur nicht das böse Schulsystem. Chancengleichheit beginnt aber schon im Elternhaus und in der frühkindlichen Förderung. Die Primarschulen in Hamburg hingegen sollten mit der Abschaffung der Vorschulen (!) räumlich ermöglicht und finanziert werden. Die Befürworter der Einheitsschule argumentieren einseitig mit dem Übertritt auf das Gymnasium nach der vierten Jahrgangsstufe. Der Wechsel von der vierten auf die fünfte Jahrgangsstufe ist aber nicht lebensbestimmend. Der Besuch eines Gymnasiums ist überhaupt nicht zwingend notwendig für eine glückselige Zukunft. In Bayern erreichen zum Beispiel 45 Prozent die Hochschulreife gerade nicht über das Gymnasium. Eltern schicken dort zu einem hohen Prozentsatz ihre Kinder an die Realschulen, obwohl diesen Gymnasialeignung bestätigt wird. Viele Eltern umgehen damit die Schulzeitverkürzung am Gymnasium. Sie entscheiden sich bewusst nicht für den einen scheinbaren „Königsweg“. Gute Bildung erfordert für Schüler unterschiedliche Angebote, die ihnen ermöglichen, ihr Leben und ihren Beruf in Eigenverantwortung zu gestalten. Diese sind in einem differenzierten Schulsystem sowohl innerhalb des Schulsystems als auch innerhalb der Schulart und innerhalb einer einzelnen Schule möglich.

Aber wer weiß auch zum Beispiel, dass bei der PISA-Studie die angeblich so vorbildlichen skandinavischen Länder im Vergleich zu Deutschland nicht alle so gut dastehen und Norwegen gar in allen Bereichen hinter Deutschland gefallen ist. Freilich sind dort die Probleme ähnlich gelagert, wie zum Beispiel die mangelnde Bildungsintegration der Zugewanderten. Und wer kritisiert schon die Länder, in denen sich die soziale Selektion in das ausgeprägte Privatschulsystem verlagert hat.

Über Schulsysteme mögen sich Bildungsideologen gerne streiten. Die konkrete Politik sollte sich jedoch zunächst um Rahmenbedingungen kümmern, die nachgewiesen einen tatsächlichen Bildungserfolg versprechen. Dazu gehören ein angemessenes Schüler-Lehrer-Verhältnis, eine angemessene materielle Ausstattung der Schulen und eine angemessene Anzahl pädagogischen Personals mit Sozialpädagogen und Psychologen. Es gehören aber auch Ruhe, Kontinuität und Verlässlichkeit dazu.

Einige dieser Rahmenbedingungen wurden in Hamburg erfreulicherweise mit der Schulreform angegangen. Auch die Hamburger Eltern sind mit diesen Teilen der Reform voll einverstanden.


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Florian Dagner

geb. 1980, Pädagoge, VDSt Erlangen.

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