Leben auf der Insel

Eine Generation lang galt Gustaf Gründens als singuläre Gestalt auf der Bühne, von vielen bewundert, von manchen gehasst, in der späten Weimarer Zeit, unter der Nazi-Diktatur ebenso wie in der frühen Bundesrepublik. Vor fünfzig Jahren erfuhr Deutschland vom Tode seines skandalumwitterten großen Theatermannes.


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Was den Nachruhm angeht, sind Theaterschauspieler unter den Künstlern im Nachteil. Romane bleiben, Skulpturen bleiben, Filme bleiben; die Bühnenkunst ist für den Augenblick gemacht. Kritiken, Memoiren, Schilderungen aus zweiter, dritter Hand geben nachher noch Zeugnis von ihr. Mehr als ein müder Abglanz ist das nicht. Dauer verspricht am Ende nur die Partitur. Lessing, Schiller, Brecht sind Namen für die Ewigkeit; die Schauspieler, die ihr Werk interpretieren, sind nach kurzer Zeit vergessen.

Mit Gustaf Gründgens, der für bald dreißig Jahre als der deutsche Schauspieler galt, steht es im Grunde nicht anders. Auch sein Ruhm ist verblasst, da die Generation, die ihn in ihrer Jugend noch auf der Bühne erlebte, langsam dahinscheidet. Wenn der Prozess des Vergessens ein wenig langsamer voranschreitet und vielleicht nicht ganz so vollständig enden wird wie bei anderen, so hat das freilich Gründe. Nicht hauptsächlich, aber doch ein wenig gewiss den, dass Gründgens in modernen Zeiten wirkte und auch Filmzeugnisse von ihm erhalten sind: die Rollen der dreißiger und vierziger Jahre, kleine wie in Fritz Langs M oder Max Ophüls‘ Liebelei, große wie der Professor Higgins in Pygmalion oder der Friedemann Bach; schließlich die Filmversion der Faust-I-Inszenierung von 1960 mit Will Quadflieg als Faust und Gründgens in seiner berühmtesten Rolle als Mephistopheles.

Wichtiger aber ist der andere Grund, der in Gründgens‘ Vita selbst liegt. Darin ist so viel Stoff für Drama, dass der Mensch Gründgens Gegenstand nicht nur biographischer Betrachtungen, sondern leidenschaftlichen Streits, inbrünstiger Verehrung und kalten Hasses geworden ist. Sein schillerndes Leben, sein herrisches und zugleich hysterisches Wesen, sein kalter selbstdarstellerischer Ehrgeiz wie seine rührende Sorge um seine Kollegen machen ihn selbst zu einem vielschichtigen Charakter und zu einer Theaterfigur von Rang mit einer mittlerweile beträchtlichen Rezeptionsgeschichte in Literatur, Drama und Film. Es ist nicht ohne Ironie, aber kaum zu leugnen, dass gerade die Schmähschriften, von denen Klaus Manns Schlüsselroman Mephisto die berühmteste geblieben ist, zu Gründgens Nachruhm wahrscheinlich ebensoviel beitrugen wie seine großen Leistungen als Schauspieler, Regisseur, Intendant; ohne die es freilich zu den Schmähschriften nicht gekommen wäre, denn Niemande schmäht man nicht im Roman und im Drama.

Ein blonder Rheinländer

Werfen wir also einen Blick auf dieses Leben. Es beginnt unspektakulär. Gustav Gründgens, damals noch mit „v“ geschrieben, wird 1899 im rheinischen Düsseldorf geboren, „Vom Vater her aus Aachen, von der Mutter her aus Köln stammend“, wie Gründgens selbst in einer autobiographischen Skizze aus den 1950ern schreibt. Dort steht weiter: „Beide Familien hatten ihre große Zeit. Die Familie meines Vaters mit holländischem Einschlag ist durch viele Heiraten weit verzweigt und stellte einen großen Teil der rheinischen Industrie. Die Familie meiner Mutter hatte unter anderem einen sehr bekannten Kölner Oberbürgermeister und beherrschte eine Zeitlang die Rheinschiffahrt. Der Verfall dieser Familien setzte aber bereits vor meiner Geburt ein.“

Zum Verfall trägt der mäßige geschäftliche Erfolg des Vaters Arnold Gründgens bei, der sich als Fabrikant und als Kaufmann mehrfach versucht, ohne den Durchbruch zu schaffen. Zum Vater pflegt Gründgens junior zeitlebens ein distanziertes Verhältnis; die Mutter, Emilie, verehrt er bis zu ihrem Tode 1935 und darüber hinaus. Mit der Schwester Marita, die später eine bekannte Chansonnière wird, übt der junge Gustav sehr früh Konversations-, Gesangs- und Pianostücke ein. Außer dem kindlichen Berufswunsch, Schmierseife abwiegen zu wollen, bekennt er später, habe er nie etwas anderes als Schauspieler werden wollen. Der Vater gibt dem zunächst nicht nach; Gustav beginnt eine kaufmännische Lehre bei einem Großwerkzeugmaschinenhersteller in Düsseldorf. Dort ist er unglücklich. Die Einberufung zum Militär – wir schreiben mittlerweile das Jahr 1917 – kommt wie eine Erlösung, obwohl draußen der Weltkrieg tobt.

Tatsächlich hilft der glückliche Zufall: Ernsthaft in Kampfhandlungen wird Gründgens nicht verstrickt. Eine Unfallverletzung führt ihn ins Militärlazarett, dort steckt er sich mit Krankheiten an und muss sich erst einmal gründlich auskurieren. Quasi vom Krankenbett weg meldet er sich zum Fronttheater, schwindelt dabei Bühnenerfahrung vor, die er gar nicht besitzt, und wird tatsächlich an die Volksbühne Saarbrücken übernommen, die den grenz- und frontnahen Gegenden hochwertige Kultur und Unterhaltung bieten soll. Dort bleibt er bis zum Frühjahr 1919, erlebt in der Provinz das Kriegsende und die Revolutionszeit. Unter anderem spielt er bereits in einigen Szenen den Mephisto.

Karriere auf wechselnden Bühnen

Mittlerweile hat sich die Familie mit seinem künstlerischen Werdegang abgefunden. Gustav darf eine Ausbildung am Düsseldorfer Schauspielhaus beginnen. Sie verläuft erfolgreich, wenn auch nicht immer zur Zufriedenheit des ehrgeizigen Schülers, der in vielen kleinen Rollen beinahe zerschlissen wird. Es folgen Engagements an mittleren Bühnen, in Halberstadt, an einem Provinztheater von durchaus gutem, avantgardistischem Ruf, in Kiel, schließlich ein halbes Jahr auf Gastspiel in Berlin, wo Gründgens im „Cabaret Größenwahn“ auch sein komödiantisches Talent zeigt. Er spielt in drei Jahren über sechzig Rollen, erwirbt sich so große Erfahrung und perfektioniert seine Technik, vor allem die unverwechselbare Stimme, mal schneidend, mal fein betonend, oft mehr singend als sprechend. Den Vornamen schreibt er nun mit „f“ – „Gustaf“ wird eine Art Künstlername.

Den großen Durchbruch bringen die fünf Jahre seiner ersten Hamburger Zeit, von 1923 bis 1928. Dort wird Gründgens zum Star, spielt die großen klassischen Rollen, den Hamlet, den Danton, auch Figuren in den wichtigen zeitgenössischen Stücken, Carl Sternheims Oscar Wilde etwa und den Snob. Ebenso beginnt er parallel als Regisseur zu arbeiten, mit einem sehr eigenen Stil, eher altmodisch, werktreu einerseits, aber auch spontan, improvisiert andererseits, direkt am Textbuch entlang, ohne auf Sekundärliteratur und klassische Interpretationen viel zu geben. „Unsere Arbeit“, führt er aus, „ist nicht dann schöpferisch, wenn wir eine Dichtung vornehmen und uns mit ihr in Szene setzen, sondern unser Beruf beginnt dann schöpferisch zu werden, wenn es gelingt, vom Dichter Geschautes und Gewolltes in einer Aufführung zu verdeutlichen oder gar zu steigern.“ Auf der Bühne hatte Ordnung zu herrschen; Schauspieler und Regisseur nicht ihren eigenen emotionalen Ballast in ein Stück hineinzutragen, sondern ernsthaft, professionell zu arbeiten. „Empfinden kannst du im Bett, aber nicht auf der Bühne!“ fuhr Gründgens einmal eine Kollegin an. Auch der Regisseur selbst, privat durchaus labil mit gelegentlichen Nervenzusammenbrüchen, erlegte sich auf der Bühne, „dem Planquadrat“, eiserne Disziplin auf.

In die Hamburger Zeit fällt auch die schicksalhafte Begegnung mit den Geschwistern Klaus und Erika Mann, mit denen er gemeinsam spielt und inszeniert, teils skandalöse Stücke wie die Revue zu vieren mit verheerender öffentlicher Resonanz. Mit Erika Mann verbindet er sich in einer höchst merkwürdigen Ehe, die immerhin vier Jahre hält, obwohl beide Eheleute eigentlich eher dem eigenen Geschlecht zugetan sind. Gründgens immerhin ist sichtlich stolz, in die großbürgerliche Familie Thomas Manns einheiraten zu dürfen. Noch Jahrzehnte später wird er das etwas zweideutige Urteil aus einer Tischrede des großen Schriftstellers, er, Gründgens, sei wie ein Glühwürmchen, das sich bei Tage geschickt verberge, zur Vorstellungszeit am Abend aber hell aufleuchte, stolz zitieren – er fasst es als Kompliment auf.

Krisenjahre

1928 entschließt sich Gründgens zum erneuten Wechsel nach Berlin, an das Deutsche Theater Max Reinhardts. Die Wahl ist zwingend; während viele große und mittlere Städte unter dem Ende der Monarchie gelitten und mit ihrem Status als Residenzstädte auch im Kulturleben eingebüßt haben, erlebt die Reichshauptstadt ihre eigentliche große Zeit; wer die ganz große Karriere machen will, muss dorthin. So auch Gründgens.

Er muss zunächst erfahren, dass sein Hamburger Ruhm dort wenig gilt, und noch einmal von vorn anfangen. „Nichtssagende Rollen, unwichtige Inszenierungen“, beklagt, er sich, „nach dem Abitur zurück in die Sexta.“ Er erlangt zwar recht schnell eine gewisse Bekanntheit, wird aber auch rasch auf einen bestimmten Typ von Rollen festgelegt: schillernde Lebemänner, zynische Intriganten, Schurken mit Krawatte – „Spezialist für Ohrfeigengesichter mit Monokel“, wie ein Kritiker meint. Nicht gerade sympathische, im übrigen etwas oberflächliche Typen also. Aber Gründgens arbeitet sich langsam nach oben, ins ernste Charakterfach. An der Jahreswende 1932/33 ist es schließlich soweit: Er darf Mephisto, den ganz großen Zyniker also, spielen in Faust I und Faust II, an der Seite von Werner Krauß, damals einer der bedeutendsten deutschen Schauspieler.

Währenddessen stirbt die deutsche Demokratie nicht weit davon einen langsamen, qualvollen Tod, mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler als entscheidender Wegmarke. Um die „Machtergreifung“ am 30. Januar herum ist Gründgens zunächst bei Dreharbeiten für einen Film in Spanien, macht dann Station in Paris. Wollte er emigrieren, er hätte die günstige Gelegenheit. Aber will er das? Kann er das? Wo steht er überhaupt politisch?

„Der deutsche Schauspieler in seiner Gesamtheit war politisch uninteressiert“, hat Gründgens später geschildert, sich selbst einschließend. Das ist zur Hälfte richtig und zur Hälfte falsch. Falsch: Weil die Mehrheit der Schauspieler, überhaupt der Intelligenz, wie auch Gründgens selbst, eher links zu verorten und damit politisch durchaus festzulegen ist; er kokettiert, schon seit seiner Hamburger Zeit, mit kommunistischen Ideen, macht Pläne für ein revolutionäres Theater. Aber auch richtig: weil davon wenig oder nichts zur Ausführung kommt. Von echtem politischem Engagement kann man bei Gründgens nicht sprechen. Politisch ist er ein typischer Salonlinker, ein ahnungsloser Schwätzer ohne den ernsten Willen zur Tat. Um sich dem neuen Regime zum Feind zu machen, hätte das Geschwätz allerdings genügen können.

Des Teufels Intendant

Dass es nicht genügt, dass der ehemalige „Kulturbolschewist“ Gründgens in Gnaden wieder aufgenommen und sogar zu einem der führenden Künstler des Dritten Reiches wird, ist einer Berliner Sondersituation zu verdanken. Die preußischen Staatstheater unterstehen nicht dem Reichsdramaturgen des Propagandaministers Joseph Goebbels, sondern Hermann Göring, dem damals zweiten Mann im Nazi-Staat, der unter seinen vielen Titeln nun auch den freilich etwas welk gewordenen Lorbeer eines preußischen Ministerpräsidenten führt. Göring, eine absonderliche Mischung aus Kunstliebhaber und Barbar, im übrigen eitel und prunksüchtig, legt Wert darauf, an seinen Schauspielhäusern die besten Künstler zu versammeln. Was deren politische Vorgeschichte angeht, ist er vergleichsweise liberal.

Man lässt Gründgens bestellen, dass er in Deutschland nichts zu befürchten habe. Der kehrt zurück, arbeitet wieder in Berlin als Schauspieler und Regisseur und wird, nachdem er, auch mithilfe Emmy Sonnemanns, Görings späterer Gattin, die Gunst des Ministerpräsidenten gewonnen, zugleich der bisherige Intendant sich zwar als linientreu, aber unfähig erwiesen hat, mit nur 34 Jahren zum Chef des Staatstheaters. Als solcher arbeitet er zehn Jahre lang inmitten der Diktatur, durchaus erfolgreich, künstlerisch wie wirtschaftlich, denn er ist, trotz seines eher liederlichen Privatlebens, ein begnadeter Organisator mit einem besonderen Händchen für die Rollenbesetzung und wäre, sagt man, auch ein guter Finanzminister gewesen; einen Etat nicht auszubalancieren, meinte er einmal, wäre für ihn, wie eine Rolle nicht zu lernen. Aber tut er auch moralisch das Richtige?

Man hat Gründgens später vorgehalten, er hätte besser im Ausland bleiben sollen. Natürlich hätte er das gekonnt. Er hätte dort nicht hungern müssen. Gewiss, er war kein Romanautor oder Dramatiker, den man übersetzen konnte, kein Sänger, kein Maler, dessen Werk per se international war; seine Heimat war das deutsche Theater, damit auch die deutsche Sprache. Aber er hatte genügend Talent zum Umlernen, das hatte er früher schon gezeigt mit seinen Engagements im leichten Fach, in der Komödie, im Kabarett. Einen Karriereknick hätte es natürlich bedeutet für ihn, der gerade Mitte dreißig und auf dem Höhepunkt seines Schaffens war. Ob man ihn im Exil den Mephisto hätte spielen lassen oder den Hamlet mit deutschem Akzent?

Gründgens selbst rechtfertigte sein Handeln damit, dass er drinnen mehr tun könne als draußen, dass einige seiner Freunde 1933 unmittelbar gefährdet waren und er deshalb zurückkehren musste, um zu helfen; was er auch tat. Dass man im übrigen nicht wissen konnte, wie lange der Nazi-Zauber dauern würde, und dass die Emigration nur eine hilflose Trotzgeste war, die weder die Situation in Deutschland ändern noch das Ausland zur Intervention bringen würde; so wie umgekehrt das Dritte Reich durchaus nicht der kulturellen „Legitimation“ eines Intendanten Gründgens bedurfte, um zu überleben.

Die Insel am Gendarmenmarkt

Nach seiner Ernennung zum Intendanten versucht Gründgens, seine Theater zu einer Insel der Sicherheit im Gestapo- und SS-Staat auszubauen, wo eigene, andere Regeln gelten als draußen im Alltag. Dort, bekennt er später, „wußte ich genau, wenn ich den Satz sage, geht hinten eine Türe auf, und eine Dame in einem grünen Kleid kommt herein – und nicht ein SS-Mann.“ Natürlich ist das an sich eine Unmöglichkeit: Es gibt kein richtiges Leben im falschen, man bleibt nicht rein und unschuldig und ist vor allem nie sicher inmitten der Diktatur. Zumal Gründgens nicht, der ständig bedroht ist, seiner Vergangenheit wegen, seiner stadtbekannten Homosexualität wegen und der Feindschaft mit Propagandaminister Goebbels, Görings großem Konkurrenten.

Aber es gelingt ihm durchaus erstaunliches. Vielen Kollegen mit kommunistischer Vergangenheit oder solchen, die jüdisch verheiratet sind, verschafft er Engagements; auch darin erweist sich der Gewaltmensch Göring als erstaunlich liberal. („Wer Jude ist, bestimme ich!“) Seinen halbjüdischen Sekretär, Erich Zacharias-Langhans, hält Gründgens, wenn er ihn auch fortan privat und nicht aus dem offiziellen Etat bezahlt; erst 1938 muss (oder darf) der Mann auf Görings Geheiß aus Deutschland ausreisen. Viele, die Gründgens zu schützen vermag, schreiben nach 1945 ihre Geschichte auf, als der Intendant um seinen Ruf kämpfen muss. So Ernst Busch, der kommunistische Sänger, mit dem Gründgens lange Jahre zusammengearbeitet hat und der 1942 in Frankreich verhaftet wird. Eine Freilassung zu erwirken liegt nicht in Gründgens‘ Möglichkeiten. Aber er sagt für Busch aus und bezahlt einen Star-Verteidiger für ihn, dem es – kaum glaublich für die späten Kriegsjahre, als kein Gesetz mehr galt und im Osten bereits die Gaskammern arbeiteten und die Krematorien brannten – tatsächlich mit einem juristischen Kniff gelingt, statt der Todesstrafe eine siebenjährige Haft zu erwirken. Busch überlebt den Krieg; er stirbt 1980 in Ost-Berlin.

Im eigentlich künstlerischen Bereich sind die Jahre vor allem vom Kampf um ein vertretbares Niveau bestimmt. Vieles geht unter dem neuen Regime nicht mehr, jüdische Autoren natürlich nicht, viele ausländische nicht und sogar manche Klassiker nicht – Schillers Don Carlos etwa („Geben Sie Gedankenfreiheit“) oder manche Passagen der Räuber. Schlechte Stücke und Autoren werden dem Staatstheater aufgedrängt. Gründgens kann sich gegen manches wehren, solange er sich Görings Gnade sicher weiß, aber natürlich nicht gegen alles, etwa gegen Stücke wie Cavour von Italiens Duce Mussolini. Umgekehrt werden einige Provokationen noch geduldet, etwa als Regisseur Jürgen Fehling unter Gründgens‘ Intendanz Shakespeares Stück über den Mörder und Tyrannen Richard III. kaum kaschiert als Anklage gegen das herrschende Regime inszeniert. Freilich: Politische Wirkung erzielt, wie die Emigrantenliteratur, auch das nicht.

Hinzu kommt das Kino. Die Filmindustrie untersteht Propagandaminister Goebbels, der Gründgens verachtet, aber den populären Schauspieler dennoch für seine Zwecke einzuspannen versucht. Einigem kann dieser sich entziehen, einer Mitwirkung in Jud Süß etwa oder dem Kaufmann von Venedig, einigem nicht wie dem künstlerisch furchtbaren Tanz auf dem Vulkan oder dem Propaganda-Film Ohm Krüger. Letzteres freilich nicht ohne Protestgesten: Gründgens macht hier ein einziges Mal vom Titel des preußischen Staatsrates Gebrauch, den Göring ihm verliehen hat und mit dem ihm ein Dienstfahrzeug, ein Chauffeur und zwei Adjutanten im Offiziersrang zustehen. Er lässt sich zu den Dreharbeiten stets begleitet vorfahren, kommuniziert mit den Drehverantwortlichen nur über seine Adjutanten und macht in jedem Moment deutlich, dass er nicht freiwillig mitwirkt; sein Honorar spendet er. Eine Trotzgeste, nicht ohne Mut; ohne politische Wirkung allerdings auch dies.

Der Untergang

Gründgens‘ Stellung wird über die Jahre in dem Maße schwieriger, wie der Stern Görings sinkt, beschleunigt vor allem, nachdem dessen Flugzeuge die Luftschlacht um England verlieren und die Alliierten Deutschland mit ihrem Bombenhagel überziehen. Die Jahre 1941/42 bringen noch einmal eine große Faust-Inszenierung, nun mit einem anderen, melancholisch-traurigen Mephisto, dem gefallenen Engel. Ab 1943 wird die Situation aber unerträglich. Ein Schlüsselerlebnis ist Goebbels‘ berüchtigte Sportpalastrede, zu welcher der Minister alle bekannten Schauspieler als Klaqueure zusammenkarren lässt, so etwa Heinrich George. Gründgens, vorgewarnt, umgeht das, indem er stundenlang ziellos im Auto durch Berlin fährt und unerreichbar ist. Aber danach weiß er: Wie es ist, kann es nicht bleiben.

Es folgt eine etwas groteske Episode: Gründgens meldet sich zur Wehrmacht. Nicht direkt zur Front, natürlich. Göring verschafft ihm einen Posten in einer Flugabwehreinheit in den besetzten Niederlanden. Mit 44 Jahren ist Gründgens noch einmal Gefreiter und absolviert die Grundausbildung. Freilich genießt er einige Privilegien, amtiert weiter als Intendant, kann sich jederzeit nach Berlin begeben, wenn es nötig ist. Aber er ist eine Weile fort vom dortigen betrieb. Ein Jahr dauert das Ganze; dann muss er zurückkehren.

Im September 1944 schließen die Theater. Die Aufgabe als Intendant beschränkt sich nun darin, literarische Abende zu organisieren und sich um sein Ensemble zu kümmern: also möglichst viele Namen auf die „Gottbegnadeten“-Liste zu setzen und so vor dem Fronteinsatz zu bewahren. Gründgens kümmert sich rührend, so lange es geht. Am Ende ist nichts mehr zu tun, als die eigene Haut zu retten. Den Zusammenbruch erlebt er in Berlin.

Nach einigem Hin und Her entscheidet sich die neue russische Administration, Gründgens zu verhaften und in ein Lager zu sperren. Mancher meint, die Russen hätten nur seinen Titel missverstanden und den General-Intendanten für einen hohen Offizier gehalten. Andere sagen, er sei als Profiteur des Systems denunziert worden, etwa aufgrund seines Landsitzes in Zeesen, den er 1934 – womöglich unwissentlich – zu einem unverhältnismäßig niedrigen Preis von einem enteigneten Juden erworben, und manch anderer Privilegien, die ihm seine Intendantenstellung verschafft hat. Jedenfalls: Ein Dreivierteljahr bringt Gründgens im Lager zu, schlecht ernährt, unter miserablen hygienischen Bedingungen. Aber er ist genügsam und übersteht die Zeit besser als manch andere; besinnt sich auf seine Kabarett-Vergangenheit und trägt den Lagerinsassen Schlagertexte vor. Seine Freunde arbeiten in der Zwischenzeit für seine Entlassung. Im Frühjahr 1946 kommt er wieder frei.

Die letzten Jahre

Nach einigen Anlaufschwierigkeiten kommt Gründgens auch im Nachkriegsdeutschland gut an. Auf eine Zwischenphase in Berlin folgen noch einmal zwei Stationen als Intendant: in seiner Heimatstadt Düsseldorf (1947–1955) und an seiner alten Wirkungsstätte in Hamburg (1955–1963). Es sind keine ganz einfachen Jahre, Gründgens wird gelegentlich angefeindet; nicht nur der NS-Vergangenheit wegen, die ja viele teilen, sondern weil sein Stil, gerade sein Regiestil, nun von vielen als zu konservativ empfunden wird. Er wehrt sich immer noch gegen das l’art pour l’art, gegen das Experiment um des Experimentes willen. Die Kritiken werden unfreundlicher. „Ich habe immer Partitur gespielt“, giftet er zurück, „weil ich mit meinen Schauspielern dem Dichter diente, aber deren Texte sind ja meistens nur noch Vorwand für einen unerträglichen Regie-Exhibitionismus.“

Einfach sind die Jahre auch deshalb nicht, weil Gründgens im eigenen Empfinden den Zenit überschritten hat. Seine Gesundheit hat gelitten, oft muss er ausgedehnte Urlaubspausen einlegen; die Tatkraft, wenngleich immer noch bestaunenswert, hat nachgelassen, auch privat. Der einst gerne Gastgeber und Conférencier gewesen ist, kapselt sich mehr und mehr ab, vereinsamt zuhause, im Bette liegend, lesend, fernsehend. Auch macht es ihm Schwierigkeiten, sich ans Alter anzupassen. Hatte er in den zwanziger Jahren noch oft unangemessen alte Charaktere spielen müssen, dünkt er sich nun jünger, als er ist. Mit vierzig hatte er noch den Jüngling Romeo spielen wollen, mit fünfzig spielt er tatsächlich noch den Prinzen Hamlet. Allmählich fügt er sich. Es folgen der Wallenstein und König Philipp II. in Don Carlos.

Gleichwohl bringen auch diese letzten Jahre noch große Inszenierungen. Bekannt geblieben ist der Faust mit Will Quadflieg in der Titelrolle und noch einmal einem ganz anderen Mephisto, weniger traurig, wieder mit mehr Witz, aber immer noch skeptizistisch, angelehnt an die lustige Person im Vorspiel auf dem Theater, das Gründgens in seinen Inszenierungen vorher immer ausgeblendet hat. Gar nicht einmal reaktionär übrigens, mit spärlicher Ausstattung, dafür mit neuen Effekten, zum Beispiel einem angedeuteten Atompilz während der Walpurgisnachtszene. (In der Bundesrepublik läuft da gerade die Debatte um die Nuklearbewaffnung der Bundeswehr.) Die Inszenierung wird ein Welterfolg, man gastiert in Großbritannien, Russland, Amerika. Deshalb und weil Teil I als Film festgehalten wird, ist anzunehmen, dass diese dritte Interpretation Gründgens‘ als der Mephisto des zwanzigsten Jahrhunderts in Erinnerung bleiben wird.

Am Ende aber ist die Kraft verbraucht; Gründgens gibt den Intendantenposten ab, will nur noch gastieren, zunächst jedoch eine lange Pause einlegen und reisen. Bei all der Arbeit habe er vergessen, zu leben, sagt er immer wieder. Und wünscht sich, das Leben lernen zu können wie eine Rolle. Er kommt nicht weit damit. Als eine Station auf seiner Weltreise gelangt er im Oktober 1963 nach Manila auf den Philippinen. Dort stirbt er unter etwas skandalträchtigen Umständen an einer Überdosis Schlafmitteln.

Nur ein ganz gewöhnlicher Schauspieler

Gründgens‘ Lebenslauf, gerade das Jahrzehnt der Intendanz unter den Nationalsozialisten, reizt zum Streit, zur Anklage oder zur Verteidigung. Das ist es wohl, was bleiben wird, da von seiner eigentlichen Schauspielertätigkeit nur einige Filmaufzeichnungen erhalten sind und diese wiederum sich dem Urteil der meisten, die nicht gerade berufsmäßige Theater- und Filmkritiker sind, zwangsläufig entziehen.

Klaus Manns berühmter Schlüsselroman, Mephisto, endet mit der verzweifelten Klage des gehetzten Protagonisten Hendrik Höfgen alias Gustaf Gründgens. „Was wollen die Menschen von mir? Warum verfolgen sie mich? Weshalb sind sie so hart? Ich bin doch nur ein ganz gewöhnlicher Schauspieler!“ Wie fast alles in jenem Buch ist auch diese Stelle als Anklage gemeint. Gründgens war natürlich kein ganz gewöhnlicher Schauspieler. Erstens war er – dies alles aus Sicht Klaus Manns gesehen – ein überaus begabter, genialer Schauspieler, dem die Menschen zujubelten, womit ihm auch eine große Verantwortung zuwuchs. Zweitens war er nicht nur Schauspieler, sondern Intendant, also keineswegs in der inneren Emigration, sondern ein Funktionär, ein „Affe der Macht“, ein Kollaborateur des Regimes. Und drittens war er blind vor Ehrgeiz und wurde damit blind für das große Verbrechen, dessen Teil er wurde, indem er der Diktatur diente.

Wie fast alles in jenem Buch kann man auch diese Passage freilich andersherum lesen. Denn irgendwo stimmte sie ja auch. Gründgens war Schauspieler und Schauspielerfunktionär; nicht Politiker, nicht Diplomat; nicht General, sondern Intendant. Er tat, was Millionen andere auch taten, lebte weiter im Dritten Reich, wollte beruflich vorankommen, versuchte, dabei so anständig wie möglich zu bleiben und so viel Gutes zu tun, wie er ohne Selbstgefährdung tun konnte. Er kam recht weit darin, erstaunlich weit, nicht wenige verdankten ihm ihre Existenz. Wenn der Preis dafür war, den brutalen Göring zu umschmeicheln und seine Gunst zu gewinnen, wenn der Preis war, auf künstlerische Freiheit zu verzichten und sich anzupassen, so mochte es eben so sein. Er wurde nicht zum aktiven Widerstandskämpfer, das lag ihm nicht; er war kein Held, das gewiss nicht. Aber das sollte man auch nicht erwarten, nur weil er auf dem Theater gelegentlich Helden spielte.

Dieser Gedanke, dass ein großer Künstler auch ein großer Charakter oder aber ein Scheusal sein müsse, ist der zentrale Irrtum Klaus Manns. Man erfährt das ja gelegentlich selbst, dass man sich in eine Rolle in einem Film verliebt, und dann den Schauspieler im wahren Leben sieht und enttäuscht ist, weil er so ganz anders und oft kleiner ist. Dass ein Schauspieler einen großen Heerführer oder tapferen Soldaten spielt, und im echten Leben ist er ein Wehrdienstverweigerer und Pazifist; dass er einen großen Forscher und großen Geist spielt, und im Privaten ist er ungebildet und dumm; dass er einen Priester spielt, und für sich glaubt er nicht einmal an Gott. Der Schauspieler ist als Charakter immer kleiner als die Rolle. Die Rolle ist ein Ideal, im Guten oder Bösen; der Schauspieler aus Fleisch und Blut. Die Rolle ist das Werk vieler, von Autor und Regisseur und Schauspieler, von Maske und Kostüm und der Summe  vorheriger Interpretationen; der Schauspieler selbst hat nur eine Seele und nur ein Leben. Insofern ist es nicht erstaunlich, ist es im Gegenteil ganz normal, dass Gründgens privat wenig von Mephisto, wenig von Hamlet hatte. Eine interessante Gestalt ist er mit all seinen Fehler dennoch; und auch darum eine gute Romanfigur.

Marcel Reich-Ranicki, der große Literaturkritiker, der das Warschauer Ghetto überlebte, schrieb einmal in einer späteren Rezension des Mephisto-Romans: „Trotz allem ist der ‚Mephisto‘ ein niemals langweiliges, ein heute noch anregendes und lebendiges Buch. Doch es will mir scheinen, als lebte es in einem höheren Maße von der Faszination, die Jahrzehnte hindurch von der Persönlichkeit des Gustaf Gründgens ausging, als von der erzählenden Kunst seines einstigen Freundes Klaus Mann. Wer weiß, ob dies nicht noch ein Triumph des großen Schauspielers ist. Der hintergründigste vielleicht.“


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