Mauern überwinden

Die Fluchthilfe von Ost nach West gehört zu den spannendsten Kapiteln in der deutsch-deutschen Geschichte. An seine Zeit in Berlin nach dem Bau der Mauer am 13. August 1961 erinnert sich Klaus Fleischmann.


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Im Frühjahr 1962 verließ ich Hamburg, wo ich im Sommersemester 1960 an der Universität begonnen hatte, zuerst Theologie, dann Geschichte, Germanistik und Philosophie zu studieren, um nun an der Freien Universität (FU) in Westberlin meine Studien fortzusetzen. In Westdeutschland hieß es damals: „Jeder Student einmal nach Westberlin!“, um die Frontstadt Westberlin gegen die Angriffe des kommunistischen Regimes in Mitteldeutschland, der sogennanten DDR, mitzuverteidigen und sie zu unterstützen; Solidarität zu zeigen und zu leben. Die Welt befand sich in jenen Tagen im „Kalten Krieg“ nach dem „zweiten 30-jährigen Krieg“ von 1914 bis 1945 und nach dem Mauerbau am 13. August 1961 in Berlin.

Zur Vorgeschichte

Der 13. August 1961 hat eine große Rolle im politischen Bewusstsein der Studenten der damaligen Zeit gespielt. So kann ich von mir sagen, dass ich vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse seit 1945 und dem Erlebnis des Mauerbaus im Jahre 1961 für das Problem der Deutschen Frage und die Situation in Berlin in der Weise sensibilisiert worden bin, dass ich mich im Frühjahr 1962 entschloss, von Hamburg nach Berlin an die FU zu gehen. Der Aufruf: „Jeder Student einmal nach West-Berlin!“ entsprach damals meinem politischen Bewusstsein, und ich handelte in der Überzeugung, dass meine Entscheidung ein kleiner Beitrag in dem Kampf um das politische Überleben meines Volkes in einer Zeit geistiger Not, des Ausgeliefertseins an einen fremden politischen Willen und der schmachvollen Teilung des Reiches in einander feindlich gegenüberstehende Staaten war. Vor allem als Student der Geschichte bedeutete die Teilung des Reiches für mich einen Anachronismus und die Aufforderung, daran mitzuwirken, das geschichtliche Unrecht, das den Deutschen nach 1945 widerfahren war, wieder aufzuheben, denn Teilung, Fremdherrschaft, Vertreibung der Deutschen aus ihrer Heimat in Ostdeutschland und der Genozid an den Deutschen aus dem Osten waren Menschheitsverbrechen – und ein Bruch des Völkerrechts, die nach den Menschheitsverbrechen vor 1945 und im Hinblick auf die Gründung und Erklärungen der Vereinten Nationen kurz nach dem Krieg im Jahre 1945 unverzeihlich und umso bedrückender waren, als nach 1945 die Deutschen das einzige Volk waren, dem seine Menschheitsverbrechen immer wieder vorgehalten wurden (und werden). Und in dieser geistigen Grundstimmung und seelischen Verfassung lernte ich gleich im ersten Semester an der FU die Fluchthelfer kennen, die sich geschworen hatten, die Herausforderung der Mauer und des hinter ihr stehenden politischen Systems anzunehmen und durch aktiven Widerstand zu paralysieren.

Welches war die Ursache des Gedankens der Fluchthilfe? – Es war das Bewusstsein und das Wissen um das Ausgeliefertsein der Menschen in der DDR an die Unfreiheit und den  Terror eines totalitären Systems, das die Identität des Individuums an eine allmächtige Partei und an die totalitäre Ideologie des Sozialismus/Kommunismus band. Wer sich nicht dem System unterwarf und „mitspielte“, wurde verfolgt und „liquidiert“, eine Entwicklung des europäischen Denkens und der Zivilisation, die historisch einen Rückschritt bedeutete. Die Fluchthelfer wollten die Deutschen hinter der Mauer aus der Unfreiheit befreien und ihnen die Möglichkeit eines freien und lebenswerten Lebens ermöglichen.

Wie gesagt, auf dem Hintergrund der geschilderten historischen Ereignisse bis 1961, der politischen Stimmung in Westdeutschland und West-Berlin und der Sensibilisierung für die Deutsche Frage und die Situation in Berlin, die das politische Bewusstsein vieler Studenten in Westdeutschland prägte, entschloss ich mich, von Hamburg an die Freie Universität (FU) in West-Berlin zu gehen. Im SS 1962 setzte ich mein Studium an der Freien Universität zu Berlin fort. In Hamburg war ich im WS 1960/61 in die Studentenverbindung „Verein Deutscher Studenten“ (VDSt) eingetreten, die ich auch in Berlin weiter besuchte; das Haus des VDSt befand sich in jener Zeit in der Gartenstraße in Zehlendorf. Ich wohnte bis zum Ende meines Studiums an der FU in Steglitz in der Albrechtstr. 132 (übrigens für 50,00 DM); das Zimmer bei einer freundlichen Arztwitwe (Frau Wachsmuth) hatten mir Bekannte aus West-Berlin vermittelt.

Über die Grenze

Im Laufe des SS 1962 besuchte ich zusammen mit meinem Bundesbruder (Bbr.) Wilfried Wetzel zum ersten Mal bewusst den sowjetischen Sektor Berlins (auch Ostsektor oder Ost-Berlin); der Besuch war uns Westdeutschen ohne weiteres möglich. Das Erlebnis dieses  Besuchs des Ostsektors und der Bericht eines befreundeten Kommilitonen H. über die willkürlichen Schikanen der Volkspolizei an der Sektorengrenze (u. a. mit Waffen bedroht, scharfe Kontrollen und Verweigerung der Einreise) machten einen großen Eindruck auf mich und prägten mich tief. In diesem Zusammenhang entstand zum ersten Mal in mir der Gedanke, sich nicht mit dieser politischen Situation abzufinden und Widerstand zu leisten. Aber wie?

Der VDSt  Berlin in der Gartenstraße war neben anderen Orten, z. B. der FU, eine Vermittlungsstelle von studentischen Gruppen, die seit dem WS 1961/62 die „Fluchthilfe“ von Ostberlinern nach West-Berlin organisierten.

Da der Grenzübertritt von West-Berlin nach Ostberlin (bzw. umgekehrt) nur noch an wenigen Grenzkontrollpunkten, z. B. Heinrich-Heine-Straße (zu Fuß) oder Friedrichstraße (mit U- oder S-Bahn; unterirdische Grenzkontrollen), möglich war, entwickelten wir Studenten ein Verfahren, das es uns ermöglichte, fluchtwillige „Bürger der DDR“ in den Westen zu bringen. Da den westdeutschen Studenten der Grenzübertritt mit einem Personalausweis oder mit einem Reisepass erlaubt war, nutzten wir das aus und schleusten die Fluchtwilligen mit gefälschten Ausweisen durch die Grenzsperren der Mauer.

In der damaligen Zeit waren die Ausweise noch nicht so fälschungssicher wie heute. Ein kleines Passbild war in ein einfaches Ausweispapier geklebt, das die Personenstandsdaten (Datum der Geburt, Geburtsort und Adresse) enthielt. Das Passbild wurde abgelöst und durch ein Passbild des Ostberliners ersetzt. Mit den gefälschten Ausweisen von Freunden, die sie uns zum Gebrauch zur Verfügung gestellt hatten, gingen wir dann nach Ost-Berlin, trafen uns mit den Fluchtwilligen an einem verabredeten Ort, übergaben die Ausweise, verabredeten einen Treffpunkt in West-Berlin und kehrten wieder in den Westsektor zurück.

Dieses Verfahren der Fluchthilfe funktionierte nur eine gewisse Zeit. Im Laufe der Zeit verstärkte sich das Misstrauen der Grenzpolizei, und sie begann, die nach Ostberlin einreisenden westdeutschen Studenten genauer zu kontrollieren. Sie suchte nach Ausweisen, die nicht identisch mit der einreisenden Person waren.

In den Fängen der Grenzpolizei

Wieder einmal wollte ich nach Ostberlin und fuhr mit der S-Bahn nach Friedrichstraße. Um in den Ostsektor zu gelangen, musste ich in die Unterwelt des Bahnhofs eintauchen. Ich gab meinen Personalausweis ab und wartete darauf, die Erlaubnis des Betretens des Ostsektors zu erhalten. Nichts geschah, ich musste warten. Die Minuten schlichen dahin. Plötzlich wurde ich aufgerufen und betrat ein kleines, fast leeres Zimmer. In ihm befanden sich ein Schreibtisch, ein Stuhl für den Grenzpolizisten und an der Decke eine Neonlampe, die grelles weißes Licht verstrahlte. Ohne eine weitere Erklärung wurde ich aufgefordert, alles auf den Tisch zu legen, was ich mitführte, und mich bis auf die Unterhose auszuziehen. Dann ließ man mich erst einmal eine Zeitlang so stehen und suchte in meinen Sachen herum. Allmählich begann ich zu frösteln und wurde unruhig. Ich verlangte nach einer Begründung für dieses ungewöhnliche Verhalten der Grenzpolizei, wurde aber unwirsch und unfreundlich aufgefordert, den Mund zu halten und vorsichtig zu sein. Die Zeit verging. Da man nichts fand – es ging um die Ausweise –, durfte ich mich wieder anziehen. Dann verschwand der Polizist und ließ mich in dem Zimmer stehen. Nach mehr als zwei oder (waren es drei?) Stunden erhielt ich meinen Ausweis wieder und konnte in die „Hauptstadt der DDR“ „einreisen“. Die kellerartige, unübersichtliche und bedrückende Unterwelt des Übergangs – Kafka lässt grüßen –, das entwürdigende Ausziehen bis auf die Unterhose, der willkürliche Entzug der Freiheit durch das stundenlange Einschließen in einem Vernehmungszimmer und die quälende Ungewissheit der Situation bedeuteten für mich eine hohe psychische Belastung und lassen mich diese Stunden in der „Obhut“ des ersten „freien demokratischen Staates auf deutschem Boden“ nie vergessen. Was mir da vorgeführt wurde, war der Inbegriff des psychologischen Terrors eines totalitären Systems, das jeden Widerstand brechen wollte; Orwell hätte es in seinem Roman „1984“ nicht besser beschreiben können. Als Folge dieses Erlebnisses beschloss ich, mich vorsichtiger im Hinblick auf die Kontrollen an der Mauer zu verhalten und nur wenn nötig in den Ostsektor zu fahren. Von da an benutzte ich das Flugzeug, um nach Westdeutschland zu reisen. Der Senat von Berlin unterstützte diese Entscheidung mit „Studentenflugscheinen“.

Wechselnde Methoden

Die immer genaueren Kontrollen der „staatlichen Organe der DDR“ an den Grenzübergängen in Berlin veranlassten uns, unsere Aktivitäten in die innere DDR zu verlegen. Unser neues Zentrum der Organisation von Fluchthilfe war die Leipziger Messe. Durch die Vermittlung von Mitfahrgelegenheiten bei Besuchern der Messe gelang es uns, viele Flüchtlinge in den Westen zu holen; entweder fuhren sie in Privatautos mit, oder wir ermöglichten ihnen eine Bahnfahrt nach West-Berlin oder nach Westdeutschland. Diese Methode der Fluchthilfe funktionierte aber auch nur eine kurze Zeit, weil die Kontrollen an der Mauer und an der Zonengrenze immer umfassender wurden. Tragisch war es, dass viele Aktionen scheiterten und nicht nur die Flüchtlinge, sondern auch westdeutsche Studenten festgenommen wurden und ihnen der Prozess gemacht wurde. Wenn diese Menschen zu langen Gefängnisstrafen verurteilt wurden, versuchten wir, sie durch persönliche Kontakte zu wichtigen politischen Persönlichkeiten in West-Berlin, der BRD oder in der DDR aus der ostzonalen Haft zu befreien. Ich lernte den Leiter eines Handelsunternehmens in Jülich im Rheinland, das mit teuren russischen alkoholischen Getränken wie Wodka oder Sekt und Lebensmitteln wie Kaviar handelte, kennen und bat ihn um Hilfe. Er hatte durch seine geschäftlichen Kontakte in den Ostblock, v. a. in die Sowjetunion, Zugang sowohl zu Otto Grotewohl (DDR-Ministerpräsident, 1894–1964) als auch zu Willi Stoph (Nachfolger Grotewohls seit 1964). Er hat es immer wieder versucht, hatte aber wenig Erfolg; interessant ist, dass „man“ ihn später beseitigt hat: Er wurde in Leipzig auf offener Straße erschossen. Wir wandten uns auch an die Vertreter der westdeutschen Parteien, v. a. der CDU und der SPD, die aber aus politischen Gründen („Deutschlandpolitik“ im „Kalten Krieg“, besonderer Status West-Berlins im Nachkriegsdeutschland, oder schlicht aus Angst) nur sehr vorsichtig reagierten oder sich verweigerten. Marion Detjen hat dieses Verhalten der westdeutschen politischen Klasse in ihrem Buch: „Ein Loch in der Mauer“ (München 2005) als „zwischen diskreter Unterstützung und vorsichtiger Distanzierung“ bezeichnet; ich halte dieses Verhalten jedoch noch heute für einen Skandal und ein Versagen vor den Praktiken eines totalitären Systems, dessen erklärtes politisches Ziel die Vernichtung der freiheitlichen und demokratischen Ordnung Westdeutschlands war.

Die Haltung des Westens

Übrigens war das von mir angesprochene Verhalten der politischen Klasse Westdeutschlands einer der Gründe für die Abwendung der politisch aktiven Studenten in West-Berlin an der FU vom politischen System der BRD und West-Berlins. Die Bestrafung der nationalen Solidarität durch Desinteresse und Feigheit vor sogennanten „höheren allgemeinen politischen Notwendigkeiten und Zusammenhängen“, wie z. B. „Kalter Krieg“, Staatsräson der Besatzungsmächte in Deutschland und der BRD seit 1945/49, enttäuschte die Studenten und zwang sie, sich nach einer anderen „geistigen Heimat“ umzuschauen.

In den Jahren 1963/64 veränderte sich das politische Klima zwischen West- und Ost-Berlin durch die „Passierscheinabkommen“; es ging darum, den Druck der Unzufriedenheit der Berliner Bevölkerung zu verringern, löste aber nicht das Problem des Eingeschlossenseins der Bürger von Ost-Berlin, welches die Ursache des Gedankens der Fluchthilfe war. Die spontanen Fluchthilfegruppen lösten sich allmählich auf und wandten sich neuen Methoden des Widerstands zu. Zusammen mit Freunden, z. B. Burkhard Veigel, war ich bereit, verschiedene Informationen in Ost- und West-Berlin zu besorgen und Kurierdienste nach Ost-Berlin zu übernehmen. Wir lehnten eine Beteiligung am Tunnelbau (er entwickelte sich seit Ende 1961) ab, weil wir die Kommerzialisierung des Fluchthilfegedankens bzw. die „Geschäftemacherei“ mit ihm ablehnten; es ging beim Tunnelbau immer um den Einsatz von viel Geld, das wir nicht nur nicht hatten, sondern es auch nicht für richtig hielten, es von den in der Regel nicht reichen Flüchtlingen einzufordern. Hinzukam die immer stärkere Überwachung der Grenze durch die Stasi und die Verfolgung der aktiven Studenten (Morddrohungen, Gefahr der Verschleppung, Diffamierung an der FU). Wir hatten außerdem den Verdacht, dass nichtstudentische Gruppen versuchten herauszufinden, was wir machten; ihr Auftreten war zu professionell und „politisch“: Es waren amerikanische Studenten, die wahrscheinlich im Auftrag des CIA arbeiteten.

In dieser Zeit hatte ich einmal den Auftrag, einer zur Flucht bereiten Familie in Ost-Berlin Informationen wegen der Organisation der Flucht zu überbringen. Es war im späten Herbst. Es wurde schon gegen sechs Uhr dunkel. Ich fuhr mit der S-Bahn über den Bahnhof Friedrichstraße in den Ostsektor. Ohne große Probleme gelang der Grenzübertritt. Vom Bahnhof Friedrichstraße ging es weiter mit der S-Bahn immer nach Osten, bis an die Grenze der Stadt. Immer mehr Passagiere stiegen an den Haltestellen aus, so dass ich zum Schluss fast alleine im Zug saß. An der Endhaltestelle verließ ich den Zug und trat auf die Straße. Nur wenige Laternen gaben Licht. Einsam verlor sich die Straße im Dunkel der frühen Nacht. Am Ende der Straße erahnte ich ein dunkles Hochhaus, dessen Eingang von einem trüben Licht notdürftig erleuchtet wurde. Auf dieses Haus ging ich zögernd zu, mich immer wieder vorsichtig umdrehend, ob mich auch niemand verfolgte. Es verfolgte mich niemand, ich war alleine auf der Straße. Nachdem ich den Eingang des Hauses erreicht hatte, studierte ich mühsam die Schilder der Hausklingeln, weil das Licht der Laterne so gering war. Endlich hatte ich den Namen der Familie gefunden und stieg langsam und leise die Stufen des Treppenhauses herauf. Ich klingelte an der Wohnungstür und wurde nach einer Weile hereingelassen, nachdem ich das verabredete Losungswort aufgesagt hatte. Ich wurde in die kleine Küche gebeten und berichtete der Familie, was ich ihr mitteilen sollte. Ich hielt mich nicht lange auf, verabschiedete mich und verließ das Haus, wie ich gekommen war. Bis zur S-Bahnstation sollte mir kein Mensch begegnen; es war mir gelungen, unerkannt meinen Auftrag für die Familie auszuführen. In der S-Bahn fühlte ich mich sicherer; je weiter sie nach Westen fuhr, desto heller wurde die Welt und desto mehr Menschen bevölkerten das S-Bahnabteil. Nachdem die S-Bahn die Station Friedrichstraße passiert hatte und in Richtung Bahnhof Zoo fuhr, löste sich in mir die Spannung, die während der ganzen Fahrt durch den Ostsektor wie ein Alptraum auf mir gelastet hatte. Ich war stolz, ich hatte es geschafft, die Kontrollen des verhassten Regimes der DDR zu unterlaufen und ein Zeichen des Widerstands, wenn auch ein kleines, zu setzen. Am nächsten Tag berichtete ich meiner Gruppe, dass die Familie informiert worden war…

Ich hatte oben von der Ablehnung der Fluchthilfe durch die „Politik“ berichtet. Je weiter die Zeit fortschritt und auch in der Öffentlichkeit bekannt wurde, wie die Fluchthelfer arbeiteten und mit welchen Methoden sie versuchten, Mauer und Stacheldraht zu überwinden und ihren Landsleuten, den Deutschen in der DDR, zu helfen, ein neues Leben in Freiheit zu führen, desto feindseliger und ablehnender wurde die westdeutsche Presse. Die Fluchthelfer und ihr Tun wurden kriminalisiert und an den Rand der Gesellschaft geschrieben. Sie waren politische Aussätzige und störten mit ihrem Handeln den Status quo oder den „Schlaf der Welt“. Die deutschen Gutmenschen bestimmten das Meinungsbild der Westdeutschen und Westberliner und vergaßen darüber die Not und das Ausgeliefertsein der Deutschen an das verbrecherische, totalitäre Regime in Mitteldeutschland, in der DDR. Übrigens ein Verhalten, das die Welt vor 1945 den Deutschen gegenüber einnahm und sie im Stich ließ, als der deutsche Widerstand Unterstützung nötig gehabt hätte; „post festum“ lassen sich leicht Verhaltensregeln und moralischen Forderungen aufstellen! Viele Jahre später wurde bekannt, dass die Regierung der DDR mit Hilfe der Stasi und von Einflussagenten in der BRD die westdeutsche und westberliner Presse beeinflusst und mit falschen und für die Fluchthelfer negativen Informationen in ihrem Sinne geführt hatte; die Presse des kapitalistischen Todfeindes besorgte ihr politisches Geschäft, so einfach war das. Und wie groß der Einfluss der Stasi in Westdeutschland und West-Berlin war, wurde erst 2009 im Zusammenhang mit dem „Kurras-Vorfall“ im Jahre 1967 während des Schah-Besuchs in West-Berlin bekannt.

Andere Wege

Mit den höheren zeitlichen Belastungen zum Ende meines Studiums nach 1965 –  Oberseminare in Germanistik, Geschichte und Philosophie, die Vorbereitungen zur Staatsexamensarbeit in Geschichte und zu den Themen in Germanistik und Geschichte für des Erste Staatsexamen im Herbst 1967 und Anfang 1968 – und auf dem Hintergrund der verstärkten Kontrollen der Grenzpolizei an den Grenzen der DDR sah ich keine Möglichkeit mehr, wie bis jetzt gewohnt Fluchthilfe zu betreiben. Hinzukam die Hetze der sogennanten „freien Presse“ gegen die Fluchthelfer (s. o.) und ihre Kriminalisierung, die mich zusammen mit meinem Bbr. Wolfgang Golcher zu dem Entschluss trieb, einen anderen Weg zum Widerstand gegen das DDR-Regime zu suchen. Wir entschlossen uns, historische, politische und philosophische Literatur in die DDR zu schmuggeln. Wir legten unser Geld, was wir entbehren konnten, zusammen und kümmerten uns um private Spender aus der Bekanntschaft oder des VDSt. Mit diesem Geld kauften wir wichtige Literatur, packten Literaturpakete und ließen diese Pakete mit Hilfe von Bekannten, die immer wieder in die DDR fuhren, als Kuriere in den internationale Zügen, z. B. von Berlin nach Saßnitz auf Rügen, auf den wenigen Bahnhöfen, an denen die Züge hielten, an uns bekannte Vertrauenspersonen übergeben, die sie dann weiter in die DDR beförderten. Eine andere Möglichkeit war der Transport der Bücher mit Hilfe von Privatautos, die unregelmäßig zu Verwandten in die DDR fuhren. Die von uns zusammengestellte Literatur war, wie wir immer wieder aus Briefen erfuhren, heiß begehrt und sehr gefragt, weil sie in der DDR verboten war. Uns war nicht bekannt, dass die Pakete ihren Adressaten nicht erreicht haben, wenn wir sie auch nicht persönlich kannten und kennen konnten. – Wir haben diese Form eines sehr persönlichen Widerstands gegen das totalitäre DDR-Regime ungefähr zwei bis zweieinhalb Jahre geleistet, bis wir nach dem Ende unseres Studiums Berlin verlassen mussten.

Der Versuch, die „Mauer von 1961“ zu überwinden und den Deutschen in Mitteldeutschland, in der DDR, ein durch Freiheit, Rechtstaatlichkeit und demokratische Rechte gesichertes Leben zu ermöglichen, ist in der Vergangenheit entweder hoch gelobt oder abgelehnt, verurteilt und sogar strafrechtlich verfolgt worden.

In den Augen des DDR-Regimes war Fluchthilfe „staatsfeindlich“ oder „staatsgefährdend“ oder „Beihilfe zur Republikflucht“ (DDR-Strafgesetzbuch, §213) oder „staatsfeindlicher Menschenhandel“(DDR-StGB, §105). In der BRD versuchten die Strafverfolgungsbehörden  seit 1972 „Fluchthilfe“ als Straftat zu definieren, z. B. als Urkundendelikt, und zu verfolgen; bis 1981 wurden über 400 Verfahren eingeleitet, aber im Laufe der Zeit entweder eingestellt oder die Angeklagten freigesprochen. Interessant ist, wie Marion Detjen berichtet, dass seit dem Bekanntwerden der Fluchthilfeaktionen parallele Strategien zur Unterdrückung der Fluchthilfe in der DDR und der BRD entwickelt wurden. Es hat nichts genutzt, die Aktionen der Fluchthelfer ließen sich nicht unterdrücken. In ihrer Verzweiflung plante die DDR-Führung bzw. das Ministerium für Staatssicherheit als letztes Mittel Mordanschläge gegen die Fluchthelfer; von einer Durchführung ist mir nichts bekannt (vgl. Marion Detjen, a.a.O., S. 344). Das Ende der Fluchthilfe war gekommen, als seit 1984 immer mehr Menschen die DDR auf verschiedenen Wegen, z. B. über Ungarn, verließen; sie ließen sich nicht mehr einschließen, sie forderten ihr Recht ein, in Freiheit dorthin zu reisen, wo sie es wollten.

Memento mori

Es wird in der Forschung bestritten, dass die Entscheidung zur Fluchthilfe ein „nationales Projekt“ (Marion Detjen, a.a.O., S. 344 f.) gewesen sei, weil der Begriff „Nation“ durch die Geschichte des Dritten Reiches desavouiert worden sei. In der „Heldenzeit bis 1964“ (Marion Detjen) haben wir, d. h. meine Freunde und ich, aus dem Bewusstsein heraus gehandelt, für eine gerechte Sache, für unsere Nation als Verantwortungsgemeinschaft und nicht als „Schuldgemeinschaft“ zu kämpfen. Die DDR war für uns ein totalitäres Terrorregime, das aus denselben Wurzeln lebte wie das Sowjetsystem und der Faschismus bzw. der Nationalsozialismus in Deutschland vor 1945; die DDR  war nicht deutsch, sondern die Inkarnation des sowjetrussischen Anspruchs, über Deutschland zu herrschen. Deshalb war und ist auch das historische Phänomen der Fluchthilfe das Indiz für die „unfriedliche Koexistenz“ zwischen der BRD und der DDR, im Grunde genommen auch für den falschen Ansatz und das Scheitern der sogennanten „Deutschlandpolitik“ der sozialliberalen Bundesregierung seit 1969. Das totalitäre System der DDR und die Grundfreiheiten des Grundgesetzes der BRD waren a priori nicht vergleichbar und übertragbar, sie schlossen sich aus. Deshalb war auch ein Verbot der Fluchthilfe als Hilfe bei der Verwirklichung der Grundfreiheiten des Grundgesetzes nicht möglich, wenn es auch immer wieder von bestimmten Vertretern der politischen Klasse, der von der DDR gelenkten westdeutschen Presse und den von der DDR beeinflussten Parteien (DKP, KPD) und der sogennanten „linken Intelligenz“ versucht worden ist. Erst die Volksbewegung von 1989 hat in der DDR den Sieg der Sehnsucht nach Freiheit gegen die Feinde der Freiheit durchgesetzt. Aufschlussreich war auch, dass die Fluchthelfer von nichtdeutschen Studenten in Berlin unterstützt wurden, so dass man von einer „internationalen Solidarität“ der Studenten (Marion Detjen, a.a.O., S. 346) sprechen kann.

Die DDR konnte ohne Mauer nicht existieren, und ohne die Mauer hätte es den Fluchthelfer nicht gegeben (vgl. Marion Detjen, a.a.O., S. 350). Deshalb liegt die Bedeutung der Fluchthilfe für die DDR in zwei Folgen für ihre staatliche und politisch-ideologische Existenz: Einmal bedeutete die Flucht ihrer Bürger den Verzicht auf einen Veränderungsanspruch durch eine Opposition; zum anderen war die Fluchthilfe die Ursache für den Zusammenbruch des SED-Regimes und das Ende der DDR. Die Wirkung der Fluchthilfe war für die DDR herrschaftsbegrenzend und staatszerstörend, man kann auch sagen: das „Memento mori“ der DDR (Marion Detjen, a.a.O., S. 348). Insofern war auch die Fluchthilfe Widerstand, Widerstand gegen ein totalitäres Regime in Deutschland in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts. Sie war nicht ein „verantwortungsloses Wüten gegen die Realität“ (Marion Detjen, a.a.O., S. 351) in Deutschland nach 1945, sondern stand in der Nachfolge des Widerstands gegen das erste totalitäre System vor 1945, des Widerstands gegen die Herrschaft des Nationalsozialismus, wenn auch jetzt nicht von aller Welt alleine gelassen. Uns ging es um die Erhaltung der Identität und der geschichtlichen Existenz unseres Volkes nach 1945, nach dem „zweiten 30-jährigen Krieg“ (1914–1945), der im Grunde genommen aber erst 1989 mit dem Zusammenbruch der DDR und der Sowjetunion zu einem vorläufigen Abschluss kam. Die „Potsdamer Intentionen“ von 1945, Europa durch die Ausschaltung Deutschlands aus dem „Konzert der Mächte“ zu beherrschen, war gescheitert. Ein neuer Abschnitt in der Geschichte Europas begann. In diesem Zusammenhang liegt auch die geschichtliche Bedeutung der Fluchthilfe nach 1961, im Aufstand des Gewissens der deutschen Studenten in Berlin gegen das zweite totalitäre Regime in Deutschland im 20. Jahrhundert. Deshalb hat Marion Detjen Recht, wenn sie feststellt: „Die Fluchthilfe von Deutschland nach Deutschland war ein einzigartiger historischer Sonderfall“ (S. 351), der im Grunde nicht zu vergleichen ist mit der Fluchthilfe im Nationalsozialismus und mit der heutigen kriminellen Praxis des Missbrauchs des Asylrechts in Deutschland und in der EU. Es ging um die Zukunft eines Volkes und nicht um Geld, gutes Leben und politisches Wohlbefinden. Wir als Fluchthelfer hatten Deutschland in jener Zeit nicht aufgegeben.


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