Pluralisierung und Entzauberung

Der kanadische Philosoph Charles Taylor untersucht das geistige Innenleben des säkularen Zeitalters. Eine unentbehrliche Lektüre, findet Thomas Dienberg.


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adam sixtinische kapelle
Es ist ein gewaltiges Werk, das Charles Taylor 2007 im Englischen veröffentlicht hat und das uns seit 2009 ins Deutsche übersetzt vorliegt. Fast 1300 Seiten stark, setzt sich Taylor mit der Entstehung, den Theorien und auch den Charakteristika der „Säkularisierung” oder, um mit seinen Worten zu sprechen, der „Säkularität” auseinander. Es bedarf der Konzentration und auch eines geschulten Lesens, um dieses Opus magnum zu bewältigen. Doch es lohnt sich. Und es ist sehr wichtig, die Bemerkung des Autors gleich zu Beginn ernst zu nehmen und zu berücksichtigen, wenn er sagt, dass dieses Buch nicht als fortlaufende, argumentativ durchgestaltete Erzählung aufzufassen sei, „sondern als eine Reihe ineinander verschränkter Essays, die einander erhellen und einen Kontext wechselseitiger Relevanz bilden.“ (S. 9)

Damit ist allerdings auch eine kleine Schwäche des Buches gleich mit ausgemacht: Es gibt Redundanzen, und bei manchen Ausführungen mag der Leser sich fragen, was diese nun für den unmittelbaren Gedankengang an Bedeutung aufweisen. Manches erscheint in die Länge gezogen, anderes wiederum überflüssig, doch hat man das Werk einmal ganz gelesen, dann zeigt sich die Umsicht und das große Wissen des Autors, der es geschickt versteht, einen wissenschaftlichen Anspruch mit einer Leserlichkeit zu verbinden, die den Leser in ihren Bann zu ziehen vermag. Zudem bezieht sich Taylor in seinen Ausführungen und Zitaten vielfach auf amerikanische und französische Autoren, Literaten und Philosophen, was für den gesamten Diskurs zum Thema „Säkularisierung” eine große Bereicherung darstellt. Das Buch besteht aus fünf großen Teilen (Reformwerk, der Wendepunkt, der Nova-Effekt, Erzählungen der Säkularisierung, Bedingungen des Glaubens), die wiederum in 20 Kapitel unterteilt sind.

Drei Bedeutungen der Säkularität

In seiner Einleitung gibt Taylor die Marschrichtung für sein Buch an. Es geht ihm darum, die Komplexität der Säkularität darzustellen, indem er selbst von drei Grundbedeutungen ausgeht, die er jeweils in den folgenden Kapiteln genauer untersucht. Die erste Bedeutung der Säkularität ist für ihn in Bezugnahme auf das Öffentliche definiert, will heißen, dass die Religion in der Öffentlichkeit heute keine große Rolle mehr spielt. Die Normen und Prinzipien des Handelns und der Überlegungen verweisen im allgemeinen weder auf Gott noch auf irgendwelche religiösen Grundüberzeugungen. Die zweite Bedeutung der Säkularität sieht Taylor schlicht und ergreifend in der Tatsache, dass sich die Menschen von Gott abwenden und die Kirchen immer leerer werden. Eine dritte Bedeutung der Säkularität muss schließlich auch unter den Bedingungen des Glaubens betrachtet werden. Der Glaube wird in und von der Gesellschaft angefragt, nicht mehr als selbstverständlich angenommen und stellt eine Option für ein sinnstiftendes Potential unter anderen dar (vgl. 13-14). Letztlich also sind es drei Feststellungen Taylors, die sehr zutreffend sind und den Säkularitätsbegriff umschreiben und zugleich definieren: Religion verliert in der Öffentlichkeit und in öffentlichen Räumen an Bedeutung. Religion als Glaube im Spannungsfeld von Immanenz und Transzendenz sowie in der gelebten Praxis geht mehr und mehr zurück, und schließlich ist Religion unter den Bedingungen und den Regeln der Gesellschaft von heute als ein Angebot unter vielen zu untersuchen und zu sehen (vgl. 35). An späterer Stelle fügt Taylor noch eine vierte Bedeutung des Wortes „Säkularität” oder „säkular” an, die in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes liegt. Er verwendet es hier für die normale im Gegensatz zur höheren (oder ewigen) Zeit. Es ist die Zeit, in der der Mensch lebt, im Hier und Jetzt (vgl. 101 ff.).

Veränderte Erfahrungen

Taylor richtet in seinem ganzen Buch den Blick weniger auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse, sondern auf die Erlebnisse und Erfahrungen, die Menschen von heute machen, im Gegensatz zu den Erlebnissen der letzten Jahrhunderte. Diese werden dann wissenschaftlich analysiert und hervorragend in die verschiedenen wissenschaftlichen Diskurse eingeordnet. Vor allem die große Diskrepanz zwischen den Erfahrungen im Glauben in früheren Jahrhunderten, so vor allem im Hochmittelalter, und den Erfahrungen und auch den Glaubensinhalten im Hier und Jetzt beschäftigt ihn. „Es ist dieser Wandel des Hintergrunds – des ganzen Rahmens, in dem wir die Fülle erleben und nach Fülle streben –, den ich als Anbruch eines säkularen Zeitalters (im dritten Sinne von ‚säkular’) bezeichne. Wie ist es gekommen, dass wir von einem Zustand, in dem die Menschen der christlichen Welt naiv im Rahmen einer theistischen Deutung lebten, zu einem Zustand übergegangen sind, in dem wir uns alle zwischen zwei Haltungen hin- und herbewegen, in dem die Deutung eines jeden als Deutung in Erscheinung tritt und in dem die Irreligiosität überdies für viele zur wichtigsten vorgegebenen Option geworden ist? Das ist die Transformation, die ich in den folgenden Kapiteln beschreiben und vielleicht auch erklären möchte. Das ist keine leichte Aufgabe, aber nur wenn wir einsehen, dass der Wandel eine Veränderung der Erfahrung darstellt, können wir immerhin die richtigen Fragen aufwerfen …“ (34) Der Hintergrund von Glauben und Nichtglauben, die Sinnstiftungspotentiale und die Erkenntnisse im Glauben haben sich gewandelt, und nur der, welcher diesen Wandel sieht, nicht vor ihm zurückschreckt, sondern fragt, wie es dazu kommen konnte, nur derjenige erkennt die ihm gebotenen Herausforderungen, die wiederum den Glauben zu profilieren vermögen. Somit versteht Taylor sein gesamtes Buch gewissermaßen als einen Versuch, „das Schicksal des in weitem Sinne aufgefassten religiösen Glaubens in der westlichen Welt der Moderne zu untersuchen“ . (851)

Zu Hilfe kommt Taylor in seinen Ausführungen der Humanismus, vor allem in seiner selbstgenügsamen Art, der in der Geschichte heute zum ersten Male, wie Taylor sagt, als eine wählbare Option auftaucht. „Unter ‚Humanismus’ verstehe ich in diesem Zusammenhang eine Einstellung, die weder letzte Ziele, die über das menschliche Gedeihen hinausgehen, noch Loyalität gegenüber irgendeiner Instanz jenseits dieses Gedeihens akzeptiert. Diese Beschreibung trifft auf keine frühere Gesellschaft zu.“ (40)

Humanistische „Konkurrenz”

Das Schicksal des Glaubens heute hängt für Taylor elementar mit den Entwicklungen in der Geschichte zusammen. Es ist ein vielschichtiges Phänomen, das mehr als nur eine Ursache hat. Säkularisierung und das Schicksal des Glaubens heute lassen sich nur auf der Folie der Geschichte verstehen. Die Geschichte der Neuzeit mit ihren Wurzeln im Hochmittelalter ist nicht nur eine Geschichte des Verlusts oder der Subtraktion, es ist vor allem eine Geschichte eines kontinuierlichen Wandels. An dieser Stelle seien die wichtigsten Stichworte und Elemente kurz erwähnt:

Der Glaube erhält nach und nach Konkurrenz, nicht zuletzt auch durch den aufkommenden Humanismus. Die Entzauberung der Welt ist eines der bedeutsamsten Stichworte, damit gehen Verschiebungen im sozialen Geschehen und in der Verflechtung mit einer Kirche einher, die die Entzauberung nicht zulassen kann und will. Gott war das Bindeglied, das konstituierende Element der Gemeinschaft und Gesellschaft, doch das wandelt sich bis zur Neuzeit elementar. Die Zukunftsperspektive wandelt sich, das säkulare und ewige Leben erhalten andere Inhalte und Verschiebungen, das Leben in einem Kosmos wird zugunsten eines Lebens in einem Universum, das die Menschheit umschließt, eingetauscht. Eine tiefe Verdrossenheit über das hierarchisch abgestützte Gleichgewicht zwischen den Laien und den Klerikern wird zu einer zunehmenden Belastung. Reform lautet das Stichwort der Geschichte an der Schwelle zur Neuzeit. Die Einstellung zum Tod ändert sich, die Individuation rückt mehr und mehr in den Vordergrund, die Einstellung zur Gnade verändert sich, mit ihr wird nicht mehr unabdingbar gerechnet. Die Körperlichkeit ist mehr und mehr nicht mehr verdächtig, sondern wichtig, Schranken fallen. Das abgepufferte Selbst, wie Taylor es nennt, sucht sich selbst, steht mehr und mehr im Mittelpunkt, nicht in seiner Ausrichtung auf eine religiöse Institution oder Autorität, sondern in der Suche nach dem eigenen Selbst.

Eine Beobachtung, die Taylor unterstreicht, sei auch an dieser Stelle betont: Die Entzauberung der Welt geht nicht zwangsläufig einher mit dem Verlust oder der Verneinung von Religion. Die Rollen verändern sich, die Suche nach dem Sinn und den letzten Dingen, die Suche nach der Spiritualität bleibt, sie geht sogar vielfach einher mit einer Intensivierung des Glaubens. Mit seinen Gewährsmännern Locke und Grotius entfaltet Taylor die Entwicklung der moralischen Ordnung, die mit Hilfe des Diskurses der Vernunft, nicht durch Gott oder ein natürliches Gesetz kontrolliert wird. Ein nicht zu unterschätzendes Phänomen ist das der Öffentlichkeit, ein metaphorischer Raum und eine gemeinsame Handlungsinstanz ohne handlungstranszendente Fundierung, genau wie der anthropozentrische Wandel im 18. Jh. mit den Charakteristika: Niedergang der Vorstellung, dass wir Gott außer der Verwirklichung seines Plans noch etwas anderes schulden, Bedeutungsverlust der Gnade; sie ist nicht mehr unentbehrlich, der Sinn für das Geheimnisvolle wird schwächer, und dem Niedergang der Vorstellung, Gott habe eine Verwandlung des Menschen im Sinn, durch die er die Grenzen seiner gegenwärtigen Situation hinter sich lassen könne. Weitere Stichworte und Tendenzen schneidet Taylor an, die der Leser je nach Interesse weiterverfolgen oder aber beiseite lassen kann, die Hauptrichtung seiner Ausführungen geht in Richtung des enormen und oben bereits skizzierten Wandels.

Säkulare Schizophrenie

Säkularität und Säkularisierung, bei allen gemeinsamen Wurzeln in der Geschichte, sind heute in den europäischen und auch amerikanischen Ländern je separat zu betrachten, da es große länderspezifische Unterschiede und auch Entwicklungen gibt. Allen gemeinsam ist der beispiellose Pluralismus religiöser, nichtreligiöser und antireligiöser Auffassungen, Religion hat den Status der Unangreifbarkeit verloren (vgl. 887). Mobilisierung und eine fast schon exzessive Ethik der Authentizität mit dem Augenmerk auf die Selbstverwirklichung des Individuums sowie die Suche nach unmittelbaren Erlebnissen und spiritueller Tiefe kennzeichnen eine säkulare Gesellschaft heute. Die Grundform spirituellen Lebens in einer säkularen Welt heute liegt in der Suche. Fast zum Ende seiner Ausführungen prägt Taylor das zutreffende Wort von der Schizophrenie des säkularen Zeitalters (vgl. 1204): „Die Leute scheinen auf sichere Distanz zur Religion zu gehen, und dennoch rührt es sie zutiefst zu wissen, dass es tiefgläubige Menschen wie Mutter Teresa gibt. Die Welt der Ungläubigen war es gewohnt, Pius XII. nicht zu mögen, doch das Auftreten von Johannes XXIII. überrumpelte sie. Es genügte, dass sich der Papst anhörte wie ein Christ, und schon schmolzen uralte Widerstände dahin. Man musste nur darauf kommen. Hier gewinnt man den Eindruck, dass viele Menschen, die nicht bereit sind, Christus zu folgen, trotzdem seine Botschaft hören wollen beziehungsweise wünschen, dass diese Botschaft draußen irgendwo verkündet wird. Die Reaktion auf den vorigen Papst hat diese Paradoxie deutlich gemacht. Viele Menschen fanden die öffentlichen Predigten von Johannes Paul mit ihrer großen Themenvielfalt – Liebe, Weltfrieden, weltwirtschaftliche Gerechtigkeit – anregend. Man war begeistert darüber, dass diese Dinge ausgesprochen wurden. Doch unter den Bewunderern des Papstes gab es sogar viele Katholiken, die nicht glaubten, man müsse allen seinen moralischen Geboten Folge leisten.“ (1204)

Eine Zukunftsprognose will Taylor eigentlich nicht wagen, versucht es dann auf den letzten Seiten trotzdem, dabei gibt er jedoch mehr Appelle und Lektionen als Prognosen.

Fazit: lesenswert

Resümierend lässt sich sagen, dass die Gedankengänge von Taylor faszinierend sind und eine Fundgrube für jeden darstellen, der sich über die komplexen Wirkzusammenhänge der Geschichte, die für die heutige Zeit und auch die Entwicklung der Säkularisierung bedeutsam sind, auseinandersetzen will. Der Essaycharakter macht das Lesen leicht, auch wenn die bereits erwähnten Redundanzen manchmal das Lesen ermüden.

Aufgrund der immensen Fülle schleichen sich natürlich auch Ungenauigkeiten oder Vereinfachungen ein. Um nur auf zwei solcher Vereinfachungen hinzuweisen: Es ist es nicht richtig zu behaupten, dass ein wesentlicher Antrieb der Bettelmönche und auch einer der Gründe ihres Erfolgs darin lag, Christus denjenigen nahezubringen, die in dem bisherigen spirituellen System nicht berücksichtigt worden sind (vgl. 166ff). Vielmehr ist die Bewegung genau anders herum: Sie erkannten Christus in den Armen und Marginalisierten, auch wenn das Ergebnis dann ähnlich war. Auch wird der hl. Ignatius wohl nicht sehr erfreut sein, wenn seine Exerzitien auf Meditation und eine steuernde Methode mit dem Ziel einer herbeigeführten spirituellen Veränderung eingeengt werden (vgl. 195). Sie sind keine Methode, noch geht es um Veränderung, vielmehr geht es um eine Entscheidung, die getroffen werden soll.

Doch insgesamt stellt Taylor mit seinen geschichtlichen Begründungen, seinen vielfachen Verweisen und seiner Vernetzung von geschichtlichen, philosophischen, soziologischen und theologischen Gedanken, Fakten und Thesen ein Buch vor, das für eine jede tiefere Auseinandersetzung mit der Frage nach der Säkularisierung unentbehrlich ist.

 

Charles Taylor: Ein säkulares Zeitalter. Suhrkamp Verlag 2009, 1297 Seiten, ISBN-13: 978-3518585344


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Thomas Dienberg

geb. 1964, Professor für Theologie.

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