Religion, Politik und Gewalt

Die Ungleichzeitigkeit von Kulturen erzeugt Konflikte. Der Mensch will glauben – und handeln. Verstand und Vernunft kommen später.


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Die Proteste und gewalttätigen Ausschreitungen in der islamischen Welt gegen ein unsäglich geschmackloses Video, das als Beleidigung des Propheten Mohammed verstanden wird, lassen den westlichen Betrachter, der sich im Stande des Aufgeklärtseins wähnt, ratlos zurück. Warum nicht einfach ignorieren? Es gibt schließlich mehr unsäglich Geschmackloses in den weltumspannenden Medien. Die westliche Ratlosigkeit paart sich dann gern mit einem ausgesprochenen oder elegant nichtausgesprochenen Vorwurf: Wie kann man in Zeiten der Globalisierung so rückständig sein und die Mentalität von mittelalterlich religiösen Eiferern einnehmen? Gehöre zur Globalisierung nicht das aufgeklärte Bewusstsein? Weit gefehlt. Die Globalisierung erlaubt zwar die schrankenlose Ökonomie, Kommunikation und Mobilität, offenbart aber gleichzeitig, dass sich Gesellschaften und Kulturen der Welt in höchst unterschiedlichen kollektiven Bewusstseinszuständen bewegen, kurz: sie verschärft die Wahrnehmung der Unterschiede. Es sind vor allem Unterschiede der Religion und der Politik. Dabei sollte ein Blick in die Geschichte Europas ernüchtern. Wie weit war der Weg zur Aufgeklärtheit in Religion und Politik! Der naive Optativ-Idealismus, dem die deutschen Wohlmeinenden heute gerne anhängen oder mit verschämtem Stolz vor sich hertragen, ist Ergebnis eines Realitätsverlustes. Die Welt ist nicht so. Religion/Weltanschauung und Politik prägen, durch die Gruppe, der man angehört, eingepflanzt, von Beginn an das menschliche Leben. Bevor der Mensch Verstand hat, bevor er Vernunft entwickeln kann, hat er Werte und damit kollektive Gefühle. Mephistopheles hat im Faust gegenüber den Erzengeln über den „aufgeklärten“ Menschen gespottet. Was treibe ihn denn an?

Er nennt’s Vernunft und braucht’s allein
Nur tierischer als jedes Tier zu sein.

Mephistopheles argumentierte schon vor zweihundert Jahren auf dem Niveau heutiger Wissenschaft. Moralphilosophen, Moralpsychologen und Neurobiologen lassen von der edlen Autonomie-Vorstellung vom „freien Willen“ des Menschen wenig übrig. Was bestimmt die Entscheidungen des Menschen?

Religion und Politik konstituieren, was der Mensch Moral nennt (Jonathan Haidt). Eine Konsequenz des moralischen Bewusstseins: Der Mensch glaubt, dass er Recht hat. Menschen, die das anders sehen, haben Unrecht. Lange genug Rechtfertigung dafür, den Andersdenkenden wie Andersgläubigen zu verbrennen, aufzuhängen oder totzuschlagen. Wenn das Seelenheil es verlangt, den Unglauben wie den Ungläubigen zu vernichten, gibt es keine Macht, die den Menschen dann zähmen kann. Wer das Heilige schändet, verdient Strafe, oder? Eine entscheidende Quelle der Gewalt scheint, gerade in monotheistischen Religionen, in der polarisierenden Kraft der Religion zu liegen: Freund/Feind, also Christen und Heiden, Jews and Gentiles, Gläubige und Ungläubige, Hindus und Muslims, Katholiken und Protestanten, Sunniten und Schiiten, Rechtgläubige und Häretiker. (Die Großideologien sind säkularisierte Religionen. Der Weg vom Gottesvolk zum Herrenvolk ist kürzer, als man denkt.)

Freund/Feind bezeichnet das Wesen der Politik, den „Ernstfall“ – nach Carl Schmitt. Zur Logik des Ernstfalls gehört die Eskalation. Die Hemmungen schwinden. Dem Menschen kann mit Erfolg eingeredet werden, zu allen Opfern bereit zu sein. Wenn das Freund/Feind-Denken in der Lage ist, alle anderen Sphären der Gesellschaft zu überwölben – Recht (recht/unrecht), Wirtschaft (Kosten/Nutzen), Wissenschaft (Wahrheit/Irrtum), um nur die wichtigsten zu nennen – ist der Gegensatz Freund/Feind total geworden. Geschichte und Gegenwart zeigen die Beispiele. Aus der Gesellschaft mit unterschiedlichen Interessen, die sich ausbalancieren müssen, ist Gemeinschaft geworden. Sie stellt alles unter einen kollektiven Willen und grenzt sich (nicht selten aggressiv) ab. Die Stimme der Widerrede ist kaum mehr hörbar. „Wer weiß, was die Stunde geschlagen hat, sieht sich vor die Entscheidung gestellt, sich auf die Seite der Seligen oder der Verdammten zu schlagen.“ (Jan Assmann).

Die totale Religion, die totale Politik ist ein Aggregatzustand, ein Intensitätsgrad, den (monotheistische) Religionen oder (totalitäre) Politik annehmen können, aber nicht müssen. Lessing hat in seinem Schauspiel Nathan der Weise den Gegenentwurf formuliert: eine Menschheitsreligion ersetzt nicht die einzelnen Religionen, das könnte sie auch gar nicht, sondern überwölbt sie gewissermaßen, um gegenseitige Toleranz zu bewirken. Inzwischen säkularisiert, müssen wir Lessing weiterdenken. Vernunft und Einsicht sind die leitenden Prinzipien. Grundlagen sind gemeinsame Ziele und Bedürfnisse. Deren gibt es genug. Tatsache: Wir leben alle bei steigender Bevölkerungszahl und schwindenden Ressourcen auf dem einen Planeten.

Die westlichen Kulturen sind so aufgeklärt, dass ihr Seelenheil „totale“ Lösungen nicht mehr verlangt. Andere Kulturen haben aber ein längeres Gedächtnis, was westlichen Idealismus betrifft, Muslime und Chinesen etwa. Sie erinnern sich des westlichen Kolonialismus. „Die Bürde des weißen Mannes“ (Rudyard Kipling) war eine schöne westliche Lüge und eine idealistische, weil – es ging schließlich „nur“ um die Zivilisierung der Eingeborenen – uneigennützig klingende Rechtfertigung, eine Rechtfertigung für nahezu alles. Und George W. Bush nannte nach 9/11 seinen Einmarsch in Afghanistan und Irak einen „Kreuzzug“. Es gibt Kulturen, die das als Neuauflage der „Bürde des weißen Mannes“ sehen.

Die Biologie hat es gewollt, dass alles, was auf den Menschen trifft, was seine Wahrnehmung aktiviert, von ihm in Bruchteilen von Sekunden durch ein Gefühl eingeordnet wird. Verstand und Vernunft kommen später (Jonathan Haidt). Der Mensch rationalisiert seine Entscheidung. Kritisches Denken hat es schwer, jeden Tag, jede Minute. Die von der Evolution gesetzte moralische Selbstgerechtigkeit ist kein Irrtum der Natur, es ist die condition humaine.

Die westliche Aufgeklärtheit kann und darf aus guten Gründen im Westen nicht aufgegeben werden. Wie also mit der Ungleichzeitigkeit von Kulturen in der Welt umgehen? Moralische Vorhaltungen machen oder gar, wie George W. Bush, die „Bürde des weißen Mannes“ wieder schultern?

Michel de Montaigne, der Erfinder des frei räsonierenden Geistes, hat in seinen Essais (1580!), die Unmenschlichkeiten der französischen Religionskriege vor Augen, das Freund/Feind-Denken mit guten Gründen als obsolet verworfen. Dabei hatte er schon damals einen globalen Blick, wenn er auch die Methoden der Christianisierung Südamerikas durch die conquistadores mit Entsetzen wahrnahm. Das Leben bestehe aus Verschiedenheit und Vielfalt, Ungleichheit und Differenz. Es sei menschlich, dies zu verstehen und zu respektieren. Seit Montaigne ist viel Unmenschliches geschehen. Und 1914–1945 müssen wir in Europa noch zur jüngsten Vergangenheit rechnen. Diversité, Verschiedenheit, ist das buchstäblich letzte Wort der Essais.

Besteht die „Bürde des weißen Mannes“ vielleicht heute darin, nüchterner und aufrichtiger zu werden, den eigenen Maßstäben treu zu bleiben, oder bescheidener formuliert, wenn der Westen seine Krisen wie seine Selbstgefälligkeit überwindet, erst treu zu werden? Die anderen werden die Verführung, die in den Idealen von Freiheit und Vernunft liegt, nicht ewig ignorieren wollen. Denn die Verführung gibt es ja. Auch das ist, Gott sei Dank, nicht zu bestreiten. Die technischen Möglichkeiten erlauben es, uns gegenseitig zu sehen, kennenzulernen und zu beobachten, und manches vielleicht auch schätzen zu lernen. In der „Arabellion“ hat sich das schon angedeutet. Vielleicht wird Aufgeklärtheit doch zum Vorbild. Wann? Nun, vielleicht erst übermorgen. So wie es aussieht, haben wir die Uhren, die anderen (noch) die Zeit. Ein Preis der diversité. Unser Ernstfall.

 

Literatur zu Religion, Politik und Gewalt:

Jan Assmann: „Gotteszorn und Apokalypse. Über den Ernstfall totaler Religionen.“- In: Zeitschrift für Ideengeschichte, Heft VI/3, Herbst 2012, S. 67–82.

Jonathan Haidt: The Righteous Mind. Why good people are divided by politics and religion. London 2012, ISBN 978-1846141812, London 2012, 448 S., 16.95 Euro


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Dieter Jakob

geb. 1941, Anglist und Germanist, VDSt Erlangen.

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