Schöne neue Welt

Drei Männer erst hat die junge Miranda in ihrem Leben gesehen, die vereinsamt mit ihrem verbannten Vater auf einer Insel aufwachsen musste. Plötzlich steht ein halbes Dutzend vor ihrer Höhle; Schiffbrüchige, von einem Sturm an Land gespült. Das Mädchen ist begeistert. „O, wonder! / How many goodly creatures are there here! / How beatous mankind is! O brave new world, / That has such people in ‘t!“ Für sie ist das die Rettung; die Fremden stammen aus Italiens Adelsfamilien. Miranda wird mit dem heftig in sie verliebten Prinz von Neapel verheiratet, und Prospero, der Magier, schwört seinen Künsten ab und will in die Zivilisation heimkehren.


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Miranda vor der Höhle

Ein halbwegs glückliches Ende. Entsprechend zählt man The Tempest auch zu Shakespeares Komödien. Freilich, tragikomische Züge sind dabei; denn die allerbesten Vertreter des Menschengeschlechts sind es nicht, die da vor der Höhle stehen: Verschwörer, Verräter, Thronräuber; verhinderte Königsmörder. Auf sie ging Mirandas Verbannung ursprünglich zurück. Auf den ersten Blick sieht man das freilich nicht, und alles Neue hat einen natürlichen Glanz. Entsprechend lakonisch kommentiert Prospero den Ausbruch seiner Tochter: „’Tis new to thee.“

Schöne neue Welt. Bezauberung und Entzauberung sind natürliche Entwicklungsstufen in der Wahrnehmung aller neuen Welten, die die Moderne den Menschen geboten hat. Aufklärung und Demokratie befreiten aus religiösen und obrigkeitlichen Zwängen, zerstörten aber zugleich gewachsene Bindungen; die Industrialisierung schuf neuen Wohlstand, aber ebenso Verelendung; der Sozialstaat schützt vor Armut und treibt gleichzeitig viele Menschen in die Unselbstständigkeit; die Urbanisierung brachte Menschen näher zusammen und brachte doch auch für große Massen Individualisierung und Vereinsamung. Jeder Fortschritt hat zwei Seiten, hat Licht und Schatten; freilich, den Schatten sieht man oft erst später.

Mit dem Informationszeitalter, der Epoche, in die wir im letzten Jahrzehnt endgültig eingetreten sind, steht es nicht anders. Am Anfang steht der Glanz des Neuen, wie vor Mirandas Höhle, stehen Neugier, Entdeckung, Buntheit und Pracht. Doch hinter den Kulissen lauern die Abgründe, versammeln sich, wie anderswo auch, Lumpen, Betrüger und Diebe.

Diebe vor allem. Nach über zehn Jahren des Internets mit Massenverbreitung ist es für eine Bilanz nicht mehr zu früh: Das Internetzeitalter ist nicht zuletzt das Zeitalter des organisierten Massendiebstahls. Nicht materielle Güter werden geraubt, sondern Information, geistiges Eigentum. Texte, Filme, Musikstücke werden in einem Maße gestohlen, das das Urheberrecht, zu dem die westliche Welt in einem langen zivilisatorischen Prozess gelangt ist, zur Farce werden lässt. Die Schäden gehen in die Milliarden, und der Name der Downloader und Filesharer ist Legion. Gewiss, auch Unternehmen überschreiten manchmal die Grenzen des Urheberrechts, wie Google mit Teilen seines großen Buchdigitalisierungsprojekts. Aber gegen Unternehmen kann man sich wehren, mit Strafurteilen wie zuletzt im Dezember in Paris, mit legalen Gegenprojekten wie der europäischen Digitalbibliothek Europeana oder in Deutschland der DDB. Vor dem Heer der Privatdiebe, die stehlen, weil es billiger, oft auch einfacher ist als ein legaler Kauf, stehen die Rechtsstaaten der Welt machtlos da und auch ein wenig ratlos.

Netzideologien

Indes, man darf es sich nicht zu einfach machen und nur das konsumierende Fußvolk sehen wollen. Dahinter oder besser darüber hat sich eine wirkmächtige Ideologie formiert, die den Massendiebstahl umkleidet und normativ in einen Widerstandsakt zu transformieren versucht. Informationsfreiheit heißt das Zauberwort, das Glaubensbekenntnis dieser Bewegung, so wie es einst der Auferstehungsglaube für die Christen, die Gleichheit für die Sozialisten war, und der freie und gleiche Informationszugang für alle Menschen ohne staatliche Gängelung ist ihre veritable Utopie. Als eine Art frühes Prophetenwort kann die „Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace“ des John Perry Barlow gelten, gehalten vor den staunenden Eliten der Welt auf dem Weltwirtschaftsforum 1996. „Ich komme“, predigte Barlow, „aus dem Cyberspace, der neuen Heimat des Geistes. Im Namen der Zukunft bitte ich euch, Vertreter einer vergangenen Zeit: Lasst uns in Ruhe! Ihr seid bei uns nicht willkommen. Wo wir uns versammeln, besitzt ihr keine Macht mehr. Wir besitzen keine gewählte Regierung, und wir werden wohl auch nie eine bekommen – und so wende ich mich mit keiner größeren moralischen Autorität an euch als der, mit der die Freiheit selbst spricht.“

Ähnliches Prophetenpathos findet sich in jüngerer Zeit auch in Deutschland. Im Spätsommer 2009 reagierten 15 renommierte Blogger auf die „Hamburger Erklärung“ des Verlegers Hubert Burda mit einem „Internet-Manifest“ und stellten siebzehn Thesen auf, wie ihrer Ansicht nach Journalismus ohne Verlagszwänge im Informationszeitalter funktioniert. Die Thesen lesen sich freilich eher wie eine Selbstkarikatur denn wie ein Manifest; den Gipfel bildet Nr. 4: „Die Freiheit des Internet ist unantastbar.“ Wer nach dem herkömmlichen Rechtsverständnis der Meinung ist, dass Menschen (und nicht Maschinen oder Medien) Freiheiten besitzen und auch menschliche Freiheiten niemals unantastbar sind, sondern bei der Freiheit des Nächsten enden, wird darüber irritiert den Kopf schütteln. Aber solche Sätze vermitteln einen guten Eindruck von dem fetischartigen Status, den das Netz in diesen Kreisen genießt.

Halten wir fest: Um einfaches Stehlen geht es augenscheinlich nicht; die ideologische Verankerung ist unübersehbar. Freilich, manch argumentative Stilblüte reizt denn doch zur Karikatur. Wenn etwa auf die Frage, wovon Künstler denn leben sollen, wenn ihre Werke stets gratis kopiert werden dürfen, die Antwort gegeben wird, nicht die Künstler, sondern die Zwischenhändler, also Rechteverwerter wie eben Verlage, die die armen Künstler ja ausbeuteten, würden dadurch den größten Verlust erleiden. Das ist in etwa genauso, als würde man zur Unterstützung armer Kaffeebauern nicht Fair-Trade-Produkte kaufen, sondern im Supermarkt den Kaffee stehlen und das als Stützungsakt für die Bauern ausgeben, weil es die ausbeuterischen Zwischenhändler je Packung mehrere Euro kostet und die Bauern nur wenige Cent (die freilich immer noch alles sind, was sie haben). Ähnlich kurios wird es, wenn eine „Kulturflatrate“ als Lösung verkauft wird, die ja auch nichts anderes ist als eine zwangsweise Enteignung, nur eben gegen Entschädigung. Oder wenn angeführt wird, die Künstler hätten dann eben andere Vermarktungsmöglichkeiten zu suchen und zu finden, Musiker etwa Konzerte zu veranstalten; als ob ein Diebstahl dadurch zu legitimieren wäre, dass einige der Opfer eventuell trotzdem ganz gut durchs Leben kommen. Dass es dennoch nicht wenige Künstler gibt, die sich bar jeder Standesehre herablassen, solche Absurditäten zu vertreten, ist kein Gegenbeweis; jede noch so bizarre Intellektuellenmode hat immer genügend Kunstschaffende gefunden, die ihr frönten, wenn sie nur avantgardistisch genug aussah.

Ins Profane übersetzt führen alle diese Argumente auf denselben Kern: Es trifft nicht die Armen, die Klugen passen sich an, und genügend Dumme, die ehrlich genug zum Bezahlen sind, werden sich immer finden, sodass das System nicht zusammenbricht. Rechtfertigungen von pubertierenden Ladendieben, Versicherungsbetrügern, Steuerhinterziehern dürften sich nicht viel anders anhören.

Zweifelhafte Glaubenssätze

Aber auch das ist an sich nicht ungewöhnlich. Jede große Idee verliert ihre Reinheit, wenn sie in die Realität übersetzt wird; für Christentum, Liberalismus, Sozialismus gilt, wenn man ehrlich ist, nichts anderes. Die Wirklichkeit ist immer schmutziger als die Utopie, aber das nimmt der Utopie nicht ihren Wert.

Auf die Utopie müssen wir nun also zu sprechen kommen: grenzenlose Informationsfreiheit. Sie soll ein Segen sein, für Wissenschaft und Fortschritt, weil der vernetzte Mensch angeblich innovativer ist; und für Demokratie und Gesellschaft, weil sie angeblich die Vielfalt erhöht und einen Meinungsmonopolismus etwa weniger Meinungsführer und Verlage unmöglich macht.

An beidem kann man zweifeln. Zum ersten: Innovativ ist der Einzelne, nicht die vernetzte Masse. Gerade in der Kunst ist es ein individueller Schöpfungsakt, der Großes hervorbringt. Keine „Schwarmintelligenz“, keine Verameisung von freizeitkunstschaffenden Zwergengestalten kann das ersetzen. Denn nicht Informationen – die man theoretisch tatsächlich allen zugänglich machen könnte – sind schöpferisch, sondern Ideen, die eben nicht jeder haben kann. „Es gibt“, hat der Berliner Medienwissenschaftler Norbert Bolz einmal ganz richtig gesagt, „keinen Weg von der Information zur Idee, Ideen sind nicht auf Informationen basiert. Deshalb sind zwar Leute, die Ideen haben, auf Informationen angewiesen, aber Sie können so viele Informationen bereitstellen wie Sie wollen, niemals wird daraus eine Idee entstehen. Jedenfalls nicht automatisch – man kann es nicht mechanisieren oder automatisieren. Deshalb hatten auch Maschinen, die grandios sind im Umgang mit Informationen, die sie phantastisch selbst verarbeiten können, noch niemals eine Idee.“ Und weiter: „Ein deutscher Ingenieur hat mir das einmal wunderbar erläutert, dass er es noch nie erlebt hätte in seiner Laufbahn, dass das Zusammensitzen mit anderen Ingenieuren zu irgendeiner Innovation geführt hätte. Also: Innovation / Idee ist die Sache genialer Einzelner.“ Soviel zur Kreativitätssteigerung durch kostenlose Information.

Zweitens: Die wachsende Vielfalt ist eine Legende beziehungsweise eine Übergangserscheinung der Gründerphase des Internets, bevor natürliche Monopolstrukturen sich etablieren können. Irgendwann aber, und wir sind bereits mitten in diesem Prozess, beginnt der digitale Darwinismus, den Frank Schirrmacher in „Payback“ sehr schön herausgearbeitet hat, zu wirken. „Wer hat, dem wird gegeben“: Wer viele Besucher auf seinen Seiten hat, wird häufig verlinkt und empfohlen und erhält hohe Einstufungen bei den Suchmaschinen; die Spirale dreht sich. Am Ende des Konzentrationsprozesses bleiben wenige große Unternehmen übrig. „Der Markt wird sich konzentrieren“, resümiert Konrad Lischka auf Spiegel-Online, „und nur die wirklich Großen sind dabei die entscheidenden Spieler. Wenn alles läuft wie bisher, sieht das Internet, das neue mobile Netz in wenigen Jahren so aus: Apple und Amazon verkaufen die Inhalte anderer. Google garniert Kostenloses mit Werbung. Facebook verteilt Aufmerksamkeit gegen Bezahlung. Weil es bekanntlich immer anders kommt, wird man in fünf Jahren ein paar Firmennamen vielleicht durch andere ersetzen müssen. Mit ziemlicher Sicherheit aber wird man nicht mal ein Dutzend Firmen an den entscheidenden Stellen zählen.“

Was zu tun bleibt

Kommt man zu dem Schluss, dass grenzenlose Informationsfreiheit keine gar zu sehr erstrebenswerte Utopie ist, bleibt die Frage, was man tun kann, um die Folgewirkungen dieses Irrglaubens zu beheben. Die Einsicht, dass es mit der Kostenloskultur nicht ewig weitergehen kann, wächst allmählich; auch ein Medienmogul wie Rupert Murdoch rückt allmählich von der Position ab, dass im Internet mit Journalismus kein Geld verdient werden könne. Denn auf die Dauer finanziert sich eben doch nicht alles selbst; auch die Werbeetats dieser Welt haben Grenzen.

Durchsetzen lässt sich eine Bezahlkultur freilich nur dann, wenn sie für die Konsumenten attraktiv, d. h. in erster Linie: handhabbar ist. Solange es technisch umständlich ist, einen Zeitungsartikel online zu kaufen, wird kaum ein Konsument es tun. Gefragt sind also – natürlich – auch die handelnden Unternehmen, in Sachen Journalismus also z. B. die Verlage, neue Lösungen zu entwickeln.

Das alleine wird allerdings nicht genügen. Kein noch so intelligentes Vermarktungsmodell kann gegen risikoloses Stehlen konkurrieren. Ohne eine wirksame Verfolgung von Urheberrechtsverletzungen funktioniert das System nicht.

Sehr viel Rücksicht auf die Netzgemeinde wird man dabei nicht nehmen können, denn groß ist die Einsicht dort nicht. Den plakativen Satz „Das Internet darf kein rechtsfreier Raum sein“ unterschreibt zwar ein jeder; aber sobald es ans Konkrete geht und ein Staat sich bemüht, das Recht auch einmal durchzusetzen, ist das Geschrei groß. Ablesen kann man das an der breiten Empörung, die das französische Hadopi-Gesetz zur Sperrung des Internetzugangs bei illegalen Downloads hervorgerufen hat; oder an der merkwürdigen Solidaritätswelle, die die Betreiber der Musiktauschbörse PirateBay erfuhren, als sie in Schweden angeklagt und schließlich zu Haftstrafen verurteilt wurden. Übrigens ein durchaus armseliges Schauspiel. Jahrelang hatte man PirateBay als heroischen Widerstandsakt gegen die Macht der Rechtebesitzer verkauft und auch mit dieser ideologischen Untermalung sehr gut verdient; vor Gericht wurden die Angeklagten dann aber kleinlaut und zogen sich auf die sophistische Position zurück, als Seitenbetreiber seien sie für den Austausch gestohlener Musik durch die Nutzer nicht haftbar zu machen. Freiheitskämpfer sehen anders aus.

Dies am Rande. Zu fragen bleibt, wie Strafverfolgungsbehörden ihrer Aufgabe nachkommen können, ohne im Netz gar zu große Überwachungsstrukturen aufzubauen und jeden Schritt jedes einzelnen Nutzers nachzuverfolgen. Und wie in einer globalen Wirtschaft und einem globalen Internet bei fortbestehenden nationalen Rechtsstrukturen eine Strafverfolgung überhaupt organisiert werden kann.

Die putzige Idee, diese Aufgabe in einer Art digitalem Feudalismus an die großen internationalen Informationsunternehmen wie Google abzutreten so wie die mittelalterlichen Kaiser den Schutz ihrer Reiche an Lehensnehmer in Grenzmarken und an Söldner, wird nicht fruchten. Es wird am Ende an den Staaten hängen bleiben. Dazu müssen auch sie sich freilich viel enger koordinieren – vernetzen –, als sie es bisher getan haben. Die Informationsgesellschaft wird auch die Staatsstrukturen nicht unverändert lassen; mit den alten Nationalstaaten alleine wird es nicht mehr gehen. Es gibt kein Zurück zu Prosperos Insel.


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