Selten aber uninteressant

Millionen von Menschen in der EU leiden an sogenannten „Seltenen Krankheiten“, zumeist unbemerkt von weiten Teilen der Gesellschaft – und der Pharma-Industrie. Diese hat sich in den letzten Jahren zunehmend auf die großen Absatzmärkte konzentriert und diese mit teuren Werbemaßnahmen hart umkämpft. Ob das Geld nicht sinnvoller investiert werden könnte, fragt Dominik Matuschek.

DNADer 29. Februar hat ein Problem. Passiert einmal etwas an diesem Tag, merkt man sich das Datum sehr leicht. Aber normalerweise wird der Tag nicht einmal vermisst, gibt es ihn doch nur alle Schaltjahre mal. Ähnlich verhält es sich mit „Seltenen Krankheiten“. Mit etwas Glück kennt man vielleicht den Namen einer solchen Krankheit, weil dankenswerterweise ein Prominenter eine entsprechende Stiftung ins Leben rief oder wenigstens medienwirksam zu unterstützen sucht. Auch der Tag der Seltenen Erkrankungen, der eben am 29. Februar begangen wird (oder normalerweise eben am 28.), kann nur einen geringen Beitrag zum Bekanntheitsgrad liefern. Es scheint nur einer der vielen internationalen Tage zu sein, die auf irgendein Problem aufmerksam machen wollen, und derer sind unzählige. Die vereinzelten Aktionen, die etwa die „Allianz Chronisch Seltener Erkrankungen“ (ACHSE) (http://www.achse-online.de) setzt, erreichen nicht viele Menschen.

Die unbekannten Leiden

Es bleibt dabei: Die meisten Krankheiten sind nur wenigen Spezialisten bekannt. Abgesehen von den Betroffenen natürlich. Diese leiden nicht nur unter der Krankheit selbst, sondern auch daran, dass selbst der beste Hausarzt normalerweise keinen Rat weiß. Die Krankheiten, falls überhaupt bekannt, werden nicht oder falsch diagnostiziert. Das an sich sinnvolle Verfahren, zunächst häufigere und damit wahrscheinlichere Krankheiten auszuschließen, kann zu einer sehr langen Wartezeit bei einer ganzen Reihe von Ärzten führen. Die Patienten erleben dadurch oft zusätzlichen psychischen Druck: Sie sind „anders“, ihnen ist „nicht so leicht zu helfen“. In den schlimmsten Fällen werden sie für Hypochonder gehalten und mit Placebos abgespeist. Im Normalfall, dass die Kranken an einen gewissenhaften Arzt geraten, müssen sie aber trotzdem länger als andere auf eine zutreffende Diagnose warten. Schon dadurch kann es dazu kommen, dass die Krankheit zunehmend das Leben dominiert. Diagnose ist aber nicht Behandlung oder gar Heilung.

Selten

Der 29. Februar kommt einmal in 1461 Tagen vor, im Gegensatz zu allen anderen Tagen mit einer Quote von 1:365. ähnlich wie mit dem Datum verhält es sich mit den Betroffenen: Die EU gebraucht den Ausdruck „Seltene Krankheit“, falls statistisch gesehen weniger als 5 von 10.000 Menschen daran erkrankt sind. Das klingt nach recht wenig, sieht aber in absoluten Zahlen schon ganz anders aus: Die Europäische Kommission schätzt EU-weit 27 bis 36 Millionen Betroffene (vgl. http://ec.europa.eu/health/rare_diseases/policy/index_de.htm). Diese große Zahl – immerhin entspräche ihr die Bevölkerung der BeNeLux-Staaten – relativiert sich aber dadurch, dass 5000 bis 8000 verschiedene Krankheiten zusammengefasst werden. Im Durchschnitt sind es also pro Krankheit etwa 5000 Betroffene. Es verwundert nicht, dass die „Seltenen Krankheiten“ im Englischen auch als Orphan Diseases bekannt sind – so allein wie Waisenkinder fühlen sich manche Patienten.

Cui Bono?

So allein werden die Patienten auch oft gelassen, jedenfalls, was die Forschung und Entwicklung von Medikamenten angeht. Die Pharma-Industrie ist in den vergangenen Dekaden einem sehr simplen Rezept gefolgt, das man als „Blockbuster-Strategie“ bezeichnen könnte. Die Analogie zum Hollywood-Film liegt auf der Hand. Um möglichst großen Umsatz und damit Gewinn zu erzielen, verließen sich die Pharmakonzerne auf einige wenige Medikamente, die einen großen Markt bedienten. Finanziell vernünftig wurde lange auf die bedeutendsten Zivilisationserscheinungen gesetzt: zu hoher Cholesterinspiegel, Herzinfarkt, Schlaganfall. Der Wirkstoff Atorvastatin etwa, der zur Senkung des Cholestrinspiegels führen soll, erbrachte unter den Markennamen Sortis, Atorvalan und Lipitor dem Pfizer-Konzern noch 2010 einen Umsatz von über 12 Milliarden US-Dollar. In Deutschland hatte das Medikament einen Marktanteil von etwa 50 % in seiner Sparte. Nachdem allerdings 2012 der Patentschutz in Deutschland ablief, zerschlug sich die marktbeherrschende Stellung zugunsten preisgünstigerer Generika. Ähnlich verhält es sich beim Wirkstoff Clopidogrel, der von den Firmen Sanofi-Aventis und Bristol-Myers Squibb als Iscover und Plavix vermarktet wird. Der Gerinnungshemmer wird gegen Herzinfarkt und Schlaganfall eingesetzt und brachte den Firmen 2010 einen Umsatz von knapp 9 Milliarden US-Dollar. Auch hier kann man also von einer „Blockbuster-Droge“ sprechen. Davon gibt es etwa 120 – Medikamente, die jährlich mindestens je 1 Milliarde US-Dollar umsetzen.

Contergan und die Folgen

Angefangen hat diese Strategie nach dem Contergan-Skandal der 50er- und 60er-Jahre. Das auch in Deutschland als Schlafmittel vielfach eingesetzte Medikament führte zu Missbildungen bei Neugeborenen. In den USA wurde bereits nach Beantragung der Zulassung 1960 das Medikament zu Testzwecken vielfach abgegeben – ohne ausreichende Studien vorher. Dies führte dort zu einer Erweiterung des US Federal Food, Drug and Cosmetic Act. Medikamente sollten sicherer werden und länger auf möglichen Nebenwirkungen geprüft werden, bevor sie an Menschen abgegeben werden können. Für die Patienten, denen diese Maßnahme eine Menge gefährlicher Wirkstoffe ersparte, war diese Gesetzgebung segensreich. Allerdings verlängerte sich die Phase der Forschung und Entwicklung beträchtlich, was mit Kostensteigerungen einherging. In den Augen der Pharma-Firmen brauchte es daher solide Medikamente, die durch den erzielten Gewinn Forschung an anderen Wirkstoffen ermöglichten. Über Jahrzehnte erreichten die Branchengewinne so zweistellige Zuwachsraten. Schon mit der Zulassung und Patentvergabe ist absehbar, dass eines Tages – nach zehn Jahren – der rechtliche Schutz ausläuft und andere Anbieter Generika desselben Wirkstoffes (billiger) produzieren dürfen. Von daher wäre zu erwarten, dass sie die Pharma-Industrie möglichst weitgestreut aufstellt und nicht nur auf einige wenige Produkte verlässt.

Teure Entwicklung

Das Gegenteil ist der Fall: So nahm etwa zwischen 2001 und 2005 der Anteil der „Blockbuster-Medikamente“ am Pharma-Umsatz von 28 auf 36 % zu. Diese Entwicklung ist in mehrfacher Hinsicht problematisch: Einen Wirkstoff von seiner Entdeckung bis zu seiner Vermarktung zu führen, kostete 2010 geschätzte 2,2 Milliarden US-Dollar, wenn alle Kosten zusammengerechnet werden, auf den jeweiligen Wegen und Sackgassen von Forschung und Entwicklung entstanden. Vor zehn Jahren kostete das Verfahren noch durchschnittlich die Hälfte. Die Verteuerung kommt dabei hauptsächlich durch die gesteigerten Auflagen für die klinische Phase der Arzneimitteltests zustande. Außerdem bedeutet die Entdeckung eines Wirkstoffes keineswegs, dass eine Firma in den zehn Jahren des Patentschutzes den Markt allein bedienen könnte, wie es noch in den 90er-Jahren der Fall war. Heutzutage sind oft schon nach einem Jahr Medikamente auf dem Markt, die mit ähnlichen Ansätzen ähnliche Wirkungen erzielen wie die kostspieligen Pioniere; bereits 2003 waren 50 % der „Blockbuster-Medikamente“ in gewisser Weise Trittbrettfahrer bewährter Fremdforschung. Forschung lohnt sich also anscheinend immer weniger. Als Gegenmaßnahme geben die Pharma-Konzerne große Summen für Werbung aus, um ihre Produkte unters Volk zu bringen und so die Kosten wieder hereinzuholen. Mittlerweile sind die Aufwendungen für Werbung bei den führenden Unternehmen doppelt so hoch wie die Kosten für Forschung und Entwicklung – der Versuch, mit seinen „Blockbustern“ möglichst lange bekannt und damit im Geschäft zu bleiben. Ist nämlich einmal der Patentschutz abgelaufen und der Markt für Generika offen, sind Umsatzeinbußen bis 90 % keine Seltenheit, falls das Produkt nicht rechtzeitig eine „Marke“ geworden ist.

Lösung mit Gewinn?

Das Scheitern der „Blockbuster-Strategie“ wird also momentan mit einem großen Werbeetat verhindert – noch. Dies geht zu Lasten der Forschung, vor allem geht es zu Lasten der vielen Millionen Menschen, die nicht an den weitverbreiteten Krankheiten leiden, die nach wie vor im Fokus der Pharma-Industrie sind. Dabei hat die Gesetzgebung schon lange einen anderen Weg vorgezeigt: Da bei Seltenen Krankheiten Studien aufwendiger und schwieriger sind, gewährt die EU für entsprechende Medikamente zehn Jahre Schutz vor Konkurrenz auf dem Markt und verlangt niedrigere Gebühren für die Zulassungsphasen. In den USA werden zusätzlich zu diesen Maßnahmen auch noch steuerliche Vergünstigungen gewährt, was in der EU mit ihrem nationalen Steuerrecht noch aussteht. Auch zeigt der Markt, dass Medikamente zur Behandlung Seltener Krankheiten durchaus profitabel sein und Einnahmen in Milliardenhöhe generieren können. Wie eine vergleichende Studie 2011 zeigte, war allerdings weder das abzusehende Scheitern der „Blockbuster-Strategie“ noch der mittlerweile nachgewiesene wirtschaftliche Erfolg von Wirkstoffen im Umfeld Seltener Krankheiten für die Pharma-Industrie ausschlaggebend. Wie es eine bessere Zukunft für die von Seltenen Krankheiten Betroffenen geben könnte, bleibt also auch nach diesem 29. Februar eine ungeklärte Frage.

Bilderlizenz: CC0 Public Domain

Dominik Matuschek

geb. 1982, Dr. theol., VDSt Bonn, Chefredaktion.

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