Judentum und evangelische Theologie

Das Verhältnis zwischen evangelischer und jüdischer Theologie war oft angespannt; auch nach 1945 blieb es lange Zeit belastet. Beispiele fruchtbarer Zusammenarbeit gibt es freilich auch. Ulrich Oelschläger schildert das Wechselspiel zwischen beidem anhand der Geschichte des Handwörterbuchs „Die Religion in Geschichte und Gegenwart“ ( RGG ), das 1909–1965 in drei Auflagen erschien.


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Erneuerung des jüdisch-christlichen Verhältnisses nach dem Krieg

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in mehreren Phasen um eine Erneuerung des Verhältnisses zum Judentum gerungen. Die theologische Neubesinnung fiel nicht leicht, zumal auch große Vorbilder aus dem Kirchenkampf tief von antijüdischer Theologie geprägt waren. Als Beispiel mag Martin Niemöllers Predigt zum Israelsonntag 1935 dienen:

„Der heutige 10. Sonntag nach Trinitatis gilt seit Jahrhunderten in der Christenheit dem Gedächtnis an die Zerstörung Jerusalems und an das Schicksal des jüdischen Volkes; und die Evangelien dieses Sonntages werfen ein Licht auf das düstere Geheimnis, das über der unheimlichen Geschichte dieses Volkes liegt, das weder leben noch sterben kann, weil es unter einem Fluch steht, der ihm beides verwehrt. … Wir sprechen vom „ewigen Juden“ und schauen auf das Bild eines ruhelosen Wanderers, der keine Heimat hat und keinen Frieden findet; und wir schauen das Bild eines hochbegabten Volkes, das Ideen über Ideen hervorbringt, um die Welt damit zu beglücken; aber was es auch beginnt, verwandelt sich in Gift; und was es erntet, ist immer wieder Verachtung und Haß, weil je und dann die betrogene Welt den Betrug merkt und sich auf ihre Weise rächt.“ (1)

Zwar lehnt Niemöller die Gewalt gegen Juden ab, äußert aber auf der Grundlage seiner hier sichtbaren theologischen Position an anderer Stelle, dieses Volk sei ihm unsympathisch und fremd und die Tatsache, dass Jesus Jude gewesen sei, eher peinlich. In seinem in vielen Religionsbüchern abgedruckten Text: „als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen, denn ich war ja kein Kommunist …“ wird erst spät „als sie die Juden holten“ von anderen nachgetragen, es war in der Aufzählung, die Sozialdemokraten und Gewerkschafter berücksichtigte, ursprünglich nicht drin. (2) Erst spät beginnen einzelne Landeskirchen eine theologische Neubestimmung des Verhältnisses zum Judentum in ihre Ordnungen aufzunehmen, die Evangelische Kirche im Rheinland 1980. Hier wird die bleibende Erwählung der Juden bezeugt wie im Grundartikel der EKHN von 1991 und weiterer Gliedkirchen der EKD. (3)

Die Entwicklung ist mehrfach dargestellt. Ich möchte am Beispiel der ersten drei Auflagen der RGG zeigen, dass es im Bereich liberaler Theologie vielversprechende Ansätze einer Begegnung zwischen Juden und Christen im Bereich der Theologie bzw. Religionswissenschaft gab.

Die RGG

Von 1909 bis 1965 erschien im Verlag J.B.C. Mohr (Paul Siebeck) in Tübingen das Handwörterbuch „Die Religion in Geschichte und Gegenwart“ (RGG) in drei Auflagen, die 1. in fünf Bänden von 1909 bis 1913, die 2. ebenfalls in fünf Bänden sowie einem Registerband von 1927 bis 1932, die 3. in sechs Bänden und einem Registerband von 1957 bis 1965. Das Lexikon ist ein umfangreiches Fachlexikon, die Bände haben ein großes Format (26,5×18,5 cm), Band 3 der zweiten Auflage – mit dem Artikel „Judentum“ – enthält 2.176 Spalten à 70 Zeilen. Von 1998 bis 2007 ist inzwischen die vierte Auflage des Werkes erschienen.

Das Werk nimmt eine Mittelstellung ein zwischen den umfangreicheren und kleineren Lexika und erreichte bei den von vornherein vom Verlag Siebeck und Mohr ins Auge gefassten Adressaten – Pfarrern und Gymnasiallehrern – einen hohen Verbreitungsgrad. Der Verkaufserfolg lässt sich z. B. daran ermessen, dass die 1913 abgeschlossene erste Auflage bereits 1924 vergriffen war. Das Werk war vor allem in der ersten Auflage avantgardistisch in der theologischen Ausrichtung und der sogenannten „Religionsgeschichtlichen Schule“ verpflichtet. Der Kirchenhistoriker Leopold Zscharnack und der Alttestamentler Hermann Gunkel standen als Herausgeber in den ersten beiden Auflagen für die Treue zur anfangs recht modernen, nach dem Ersten Weltkrieg aber immer mehr aus der Mode kommenden liberalen Richtung. Unter dem Druck des Verlages hat sich das Handwörterbuch dann auch in der zweiten Auflage neuen theologischen Strömungen geöffnet. Einem Neudruck der ersten Auflage nebst Fertigstellung des Registerbandes unter Nutzung der Vorarbeiten wurde deshalb eine völlig neue Bearbeitung des Werkes vorgezogen. Dies geschah keineswegs ohne Streit, wie die im Auslieferungslager des Verlags in verschnürten Pappkartons verwahrte Autorenkorrespondenz zeigt. Ein Fachlexikon dieser Art ist auch so etwas wie ein theologiegeschichtlicher Seismograph, der im Unterschied zu einzelnen Monographien die durchschnittlichen Auffassungen der Universitätstheologie zum Ausdruck bringt. Bezogen auf den Untersuchungsgegenstand bedeutet das, dass die ersten drei Auflagen der RGG das „durchschnittliche“ Bild des Judentums innerhalb der evangelischen Theologie vor dem Ersten Weltkrieg, in der Weimarer Republik und nach dem Zweiten Weltkrieg spiegeln. Die RGG sollte offen sein, nicht nur Theologen sollten hier schreiben. So war Max Weber einer der Autoren und in der zweiten Auflage Theodor Heuss. Neben der Öffnung für die neue Theologie sollte in der zweiten Auflage die Gegenwart mehr Beachtung finden, deshalb wurde der jüdische Gelehrte Ismar Elbogen, letzter Leiter der jüdischen Hochschule in Berlin, mit der Fachberatung für modernes Judentum betraut, der seinerseits Leo Baeck und Julius Guttmann für die Mitarbeit gewinnen konnte. Von Auflage zu Auflage wurde die Organisation der Herstellung eines solchen Lexikons komplizierter, waren in der ersten Auflage noch die Beiträge von 375 Mitarbeitern zu koordinieren, waren es in der dritten bereits 1.608.

Das Bild des Judentums im theologischen Umfeld

1928 hat der berühmte liberale Kirchenhistoriker Adolf von Harnack in seinem Buch über Marcion es als einen Fehler der Kirche bezeichnet, das AT beibehalten zu haben. Otto Baumgarten, praktischer Theologe und Mitherausgeber der ersten Auflage der RGG, hielt das AT zwar für den Schulunterricht für bedeutsam, aber für die Kirche insgesamt nicht. Harnack, der DDP nahe stehend, Baumgarten wie Heuss Mitglied dieser Partei und ziemlich frustriert, dass man ihm als Intellektuellem nicht bessere Listenplätze anbot, obwohl er sogar zur Gottesdienstzeit Wahlkampf machte, waren entschiedene Gegner des Antisemitismus. Dem stehen konservative Theologen gegenüber wie Paul Althaus, Walter Künneth, Adolf Schlatter, Reinhold Seeberg, der Lehrer Dietrich Bonhoeffers, und andere.

Ihre Liebe zum AT feit sie jedoch nicht vorm Antijudaismus, im Gegenteil.

Wenn Althaus sich auch formal vom Rasse-Antisemitismus abgrenzt, so lässt er ihn durch seine anti-aufklärerische Volkstumstheologie, die die völkische Fremdheit der Juden betont, wieder eindringen. In seinem 1931, ein Jahr vor Abschluss der zweiten Auflage der RGG erschienenen Grundriss der Ethik nennt er auch Hitlers „Mein Kampf“ und Rosenbergs Mythos bei den Literaturangaben. Walter Künneth, in den sechziger Jahren bekannt geworden durch sein Engagement in der evangelikalen Bewegung „Kein anderes Evangelium“, schreibt 1935 in seiner Antwort auf Rosenbergs Mythos, man dürfe das widerliche und entwurzelte Asphaltjudentum unserer Tage nicht verwechseln mit dem Judentum des AT.

Adolf Schlatter, zwar kein Autor der RGG, wohl aber einer der wichtigsten Vertreter einer konservativ und in seinem Fall auch pietistisch geprägten Theologie und Lehrer des berühmten Neutestamentlers Gerhard Kittel, hat wie kaum ein anderer die jüdischen Wurzeln des NT betont. Während der nach dem Krieg bis in die 70er Jahre die neutestamentliche Wissenschaft prägende Rudolf Bultmann und die große Zahl seiner Schüler das NT eher in hellenistischer Tradition sehen, betont Schlatter bis in die Sprachanalyse hinein den hebräisch-jüdischen Ursprung. Doch auch bei ihm führt das keineswegs zu einer Liebe zum Judentum seiner Tage. 1935, drei Jahre vor seinem Tod, gibt er im Freizeiten-Verlag zu Velbert eine Schrift unter dem Titel heraus: „Wird der Jude über uns siegen? Ein Wort für die Weihnachtszeit.“ Hier macht er die Juden zu Komplizen Hitlers, da sie angeblich beide den Christen das Weihnachtsfest nehmen wollen.

1934 verwendet Schlatter gar in einer Schrift den von dem antisemitischen Schriftsteller August Rohling geprägten Ausdruck „der Talmudjude“.

Reinhold Seeberg, der Lehrer Dietrich Bonhoeffers und Autor der RGG, analysiert sogar die Sprache der Juden, das Hebräische, als primitiv.

Ein Lexikon ist durch viele Autoren geprägt. Das Judentum betreffend sind Ernst Lohmeyer und Karl Ludwig Schmidt positive Gegenbeispiele, aber wie steht es etwa mit Paul Fiebig, der in der ersten Auflage die meisten Artikel über das Judentum schreibt, und auch in der zweiten noch gut vertreten ist? Er zeigt sich in seinen Artikeln ziemlich objektiv, einzelne antijüdische Stereotype, etwa die Qualifikation des Judentums als starre Gesetzesreligion und negative Folie für das sich davon abhebende Christentum, entsprechen der evangelischen Tradition seit Luther. Allerdings tritt er später in die NSDAP ein und gibt 1935 drei abenteuerliche Schriften heraus, in denen er den Menschheitsführer Jesus mit dem Führer der Deutschen Adolf Hitler vergleicht. Geleitet ist er von der Idee, durch peinliche Anbiederung sein Institut zur Erforschung des Judentums im Umfeld des Neuen Testaments in Leipzig vor dem Zugriff der Nazis zu retten, bis Martin Mutschmann, der berüchtigte Gauleiter von Sachsen, es schließlich trotzdem schließt.

Von der religionsgeschichtlichen Entwicklung zur jüdischen Fachberatung

„Die Geschichte der Juden vom babylonischen Exil (586 v. Chr.) bis Hadrian (um 130 n. Chr.) ist religionsgeschichtlich deswegen so wichtig, weil innerhalb dieser Periode das Christentum aus dem J. hervorgeht“, leitet Fiebig seinen Artikel in der 1. Auflage ein. Mithin ist es wohl primär religionsgeschichtliches Interesse des Neutestamentlers, das sein Interesse am Judentum bestimmt. Er leitet auch die „spätjüdische Abteilung“ des neutestamentlichen Seminars in Leipzig und pflegt eine freundschaftliche Beziehung mit dem Rabbiner Israel Kahan. Dabei bedürfte der Ausdruck „spätjüdisch“, der in der evangelischen Theologie ziemlich verbreitet ist, gerade angesichts des Kontaktes mit einem Juden der Problematisierung, ist der doch der lebende Beweis dafür, dass das nachbiblische Judentum keine untergehende Späterscheinung ist, sondern als eigene Religion fortlebt.

Gerhard Kittel, einer der berühmtesten Theologen des 20. Jahrhunderts, als Mitglied der NSDAP 1945 verhaftet, schreibt einen Teil des Artikels Judentum in der zweiten Auflage neben Ismar Elbogen und Leo Baeck. Kittel beschreibt in einem Kurzartikel den jüdischen Mitarbeiter Israel Kahan als „literarisch vollkommen unproduktiv“ und bedient damit antisemitische Klischees in dem 1929 erschienenen Band der RGG. Das Bild des Judentums ist geprägt von seiner Einschätzung als starrer Gesetzesreligion, woran auch die dritte Auflage nicht viel ändert. Der amerikanische Kongregationalist Kendrick Grobel, der einen anderen Ansatz sucht, ist damals dem Hohn und Spott der traditionellen Theologen ausgesetzt. In der 3. Auflage wirken Autoren mit wie Ernst Ludwig Dietrich, der ehemalige deutschchristliche Landesbischof, oder als Herausgeber Kurt Galling, der sich noch 1944 aus opportunistischen Gründen die NSDAP-Mitgliedschaft eines gefallenen Soldaten erkaufte, da ein normaler Eintritt nicht mehr möglich war. In der Nachkriegsauflage konnte es eine so intensive jüdische Mitarbeit wie in der zweiten Auflage nicht geben, die darum die spannendste bleibt. Als Hermann Gunkel am 8.11.1924 in einem Wochenbericht der Herausgeber den Vorschlag unterbreitete, für modernes Judentum jüdische Fachgelehrte heranzuziehen, wird der Vorschlag allgemein begrüßt, ein Mitherausgeber schreibt: „Halte ich für sehr wichtig, aber höchstens ein Bogen!“ Bei dieser Beschränkung ist es dann zum Glück nicht geblieben.

Die jüdischen Gelehrten rücken das Bild ihrer Religion zurecht und wehren sich gegen die christliche Einseitigkeit, wenn sie es auch – etwa im Falle Luther – sehr vorsichtig tun. Auch das Alte Testament kenne einen gnädigen Gott. Die von Isaac Heinemann herausgegebene „Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums“ begleitet alle Lieferungen des Werks mit wohlwollenden und kritischen Rezensionen, fordert meist noch stärkere jüdische Beteiligung ein.

Insgesamt ist die zweite Auflage der RGG Zeugnis der offenen kulturellen Atmosphäre in der Weimarer Republik und ein Dokument jüdisch-christlicher Zusammenarbeit in dieser Zeit. Dieser Stand konnte nach dem Zweiten Weltkrieg nicht erreicht werden. Zwar sind auch die Spannungen, die zwischen den Artikeln jüdischer Gelehrter in der zweiten Auflage sichtbar sind, nicht mehr vorhanden, aber das Bild des Judentums verharrt in jener theologischen Tradition eines Antijudaismus bis auf wenige Ausnahmen. Vor allem der erwähnte Kendrick Grobel ist eine Ausnahme, wird aber in der Autorenkorrespondenz von renommierten Kollegen verspottet. (4)

Ausblick

Das gezeichnete Bild verdeutlicht, dass Ansätze der wissenschaftlichen Zusammenarbeit in der Weimarer Republik nach dem Krieg zunächst versandeten. Die vierte Auflage der RGG nimmt diese Ansätze wieder auf. Es gibt heute an vielen Orten Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit, die fruchtbar arbeiten. Es gibt in der EKHN das Programm „Studium in Israel“. Dennoch gibt es auch immer wieder Wortmeldungen innerhalb der Theologie, die das Erreichte in Frage stellen und zum Beispiel das Alte Testament wie auch das Judentum eher zur Vorgeschichte des Christentums rechnen als es Teil seiner Geschichte und seines Wesens sein zu lassen. (5)

Es bleibt noch einiges an theologischer Arbeit zu tun.

 

Anmerkungen

(1) Zitiert bei: Ulrich Oelschläger, Der Kirchenkampf und die Juden in der EKNH, in: K.D. Grunwald u. U. Oelschläger (Hrsg.), Evangelische Kirche Nassau – Hessen und Nationalsozialismus (QSHK 22), Darmstadt 2014, 296f.

(2) ebenda

(3) Ulrich Oelschläger, Judentum und evangelische Theologie 1909-1965. Das Bild des Judentums im Spiegel der ersten drei Auflagen der RGG (Judentum und Christentum 17), Stuttgart 2005, 262

(4) Vgl. dazu: U. Oelschläger, Judentum und evangelische Theologie, a.a.O.

(5) Vgl. dazu: Notger Slenczka, Die Kirche und das Alte Testament, in: Marburger Jahrbuch Theologie XXV, Leipzig 2013, 83-119. In der mit einiger Verzögerung einsetzenden Debatte um diesen Betrag haben sich sowohl Vertreter der Theologischen Wissenschaft als Vertreter der Kirche von Slenczkas Beitrag distanziert. Slenczka hat selbst wiederholt dazu Stellung genommen und seine Position sowohl erläutert als auch modifiziert.


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Ulrich Oelschläger

geb. 1946, unterrichtete u. a. Religion, Philosophie und Hebräisch und promovierte über das jüdisch-christliche Verhältnis. Seit 2010 ist er Präses der Evangelischen Kirche Hessen-Nassau. (Foto: EKHN)

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