1953 in Leipzig

Die frühe DDR-Zeit und die Schicksale der Menschen, die in ihr lebten, schwinden langsam aus dem kollektiven Gedächtnis. Aber der Blick zurück lohnt sich. Über seine Jugendzeit in Leipzig, den 17. Juni und manches mehr erzählt Hans Lehmann.


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Leipziger Kirche vor Sprengung durch das DDR-Regime. (Foto: Familienarchiv Lehmann)

Aus Erfurt kommend, lebte ich von 1950–1957 bei meinen Großeltern in Leipzig-Marienbrunn, um die Oberschule und spätere Berufsausbildung zu absolvieren, ehe ich 1958 in Jena mein Wirkungsfeld aufbaute. Es bedeutete für mich im nachhinein betrachtet eine großartige Fügung, denn Großvater Dr. Friedrich Merbach (1885–1970) wirkte bis 1945 als Studienrat an der Petrischule (Latein, Griechisch, Deutsch), danach als Mitarbeiter an der Akademie der Wissenschaften bei der Herausgabe des 1. Goethe- Wörterbuches. Als begeisterter Sänger hat er die Chorgeschichte Leipzigs im Gewandhauschor und anderen Chören mitgeschrieben. Vom Sommersemester 1906 bis zum Lebensende fühlte er sich als treues Mitglied des VDSt, soweit das zu DDR-Zeiten vor Ort überhaupt möglich gewesen ist und sich darüber hinaus in lebhaften Kontakten über die Zonengrenzen abspielte. Dabei entwickelten sich auch für mich bis in die Gegenwart wirkende persönliche Freundschaften, und es kam zu meiner Mitgliedschaft als ao. AH.

Zum letzten Mal Stalinkult

In Leipzigs Süden besuchte ich die Herder- Oberschule. Das Jahr 1953 bleibt nicht nur mit Blick auf den 17. Juni in Erinnerung, es begann bereits im März mit Stalins Tod. Auf dem Karl-Marx-Platz, heute wieder Augustusplatz, hatte man an die Stelle des zerstörten Opernhauses Fichten à la Kreml-Mauer gepflanzt und in der Mitte eine große Statue des Diktators errichtet. Wir mussten zu Tausenden zur Kranzniederlegung daran vorbeimarschieren. Zudem wurden am Beisetzungstag in der DDR 5 Gedenkminuten verordnet. Dazu mussten sich die Schüler in der Aula im Obergeschoss des Schulhauses versammeln. Ein Mitschüler bemerkte am Fenster stehend, wie die Polizei aus diesem Anlass am Connewitzer Kreuz Radfahrer vom Rad holte, und prustete vor sich hin, die Oberen auf der Bühne hatten die Schüler fest im Blick. Die Folge davon konnte mit einem Verweis von der Schule enden. Es konnte einem auch passieren, wenn man auf dem Schulball ausgelassen Boogie tanzte, denn das war neben Jazz als Unkultur verboten. 1953 ist auch das Jahr gewesen, wo man von Seiten der SED mit großer Härte gegen die Mitgliedschaft in der „Jungen Gemeinde“ vorging, eine christliche Alternative zur FDJ. Wir mussten Stellungnahmen abgeben. Großvater schrieb einen diplomatischen, geschickt formulierten Brief, und wir hatten Ruhe, zumal der herrschsüchtige Konrektor einst Schüler von ihm gewesen war. Spätere Aufarbeitungen brachten ans Licht, dass dieser SED-Diktator als Lehrer vor 1945 Schüler ohrfeigte, wenn sie nicht mit „Heil Hitler“ grüßten.

Am 17. Juni

Die Ereignisse des 17. Juni hinterließen nachhaltige Spuren. Nach Schulschluss bemerkten wir, dass sich Werktätige des nahe gelegenen Gelenkgetriebewerkes und andere am Connewitzer Kreuz zu einer Demonstration in Richtung Stadtzentrum formierten. Viele von uns schlossen sich an, ohne zunächst zu wissen, worum es eigentlich ging, wären da nicht Losungen oder Gespräche gewesen. Am Peterssteinweg angekommen, staute sich das Ganze vor dem Häuserkomplex, wo Fakultäten der Universität und die Polizei ihren Standort haben. Erste Schüsse fielen. Ein Verletzter mit blutendem Oberschenkel wurde in einen Privatwagen verbracht. Wir zogen es vor, die Flucht zu ergreifen. Daheim hörte man immer wieder Schüsse aus der Ferne. Tage später sah man in der Innenstadt die Folgen der Auseinandersetzungen. Der zweistöckige Pavillon der „Nationalen Front“ hinter dem Alten Rathaus am Markt völlig ausgebrannt, inmitten der Trümmer die Reste eines Blüthner- Flügels. Die Genossen Lehrer in der Schule zunächst etwas ratlos, der Rektor hatte sich versteckt, allmählich fassten sie wieder Fuß in gewohnter Ideologie. Unsere Familien nutzten weitgehend Westmedien wie den RIAS oder abends die Sendungen des Londoner Rundfunks, DDR-Rundfunk war ungenießbar. Bei den Schülern besonders beliebt war die Sendung „Jazz mit Joe“. Durch die Leipziger Messe wurde zweimal im Jahr das Fenster in die Welt ein wenig geöffnet, wobei der Buchmesse eine besondere Rolle zufiel, denn da gab es Kommunikationsmöglichkeiten nicht nur unter Kollegen, wie zu den Messen überhaupt manche Flucht nach dem Mauerbau vorbereitet wurde.

Kulturfrevel

Nach leichten Lockerungstendenzen, etwa mit der Durchführung des Kirchentages 1957 in Leipzig, ging es nach der Einmauerung 1961 ideologisch und wirtschaftlich immer einseitiger bergab und führte zwangsläufig zur Wende 1989. In diesem Zusammenhang sei an die Sprengung der Universitätskirche und der Universität in Leipzig erinnert, eines der größten Kulturverbrechen des DDR- Regimes. Man stelle sich vor: eine vollständig erhaltene spätgotische Hallenkirche am Augustusplatz mit vielen Kunstwerken und der im Bachjahr 1950 aufgestockten Orgel, damals eine der besten in Leipzig, wird am 30. Mai gesprengt. In der Universitätskirche fand allsonntäglich um 9:30 Uhr der Akademische Gottesdienst statt und anschließend um 11:15 Uhr der katholische Gottesdienst der Propsteigemeinde, deren Gotteshaus den Bomben zum Opfer fiel. Außerdem war die Uni-Kirche ein Zentrum hochrangiger Kirchenmusikpflege. Nach dem katholischen Himmelfahrtsgottesdienst am Abend beeilte sich die Stasi, die Besucher aus der Kirche zu treiben. Binnen einer Woche wurden Kunstwerke herausgebrochen, die Hauptorgel demoliert, 600 Gräber einstiger Professoren und Patrizier auf der Suche nach Schätzen geöffnet. Bis heute weiß niemand, wohin man die Gebeine verbracht hat. Tage später sprengte man die Universität. Das Augusteum war zwar eine Ruine und hätte wieder ausgebaut werden können. Das dahinter liegende Albertinum war jedoch vollständig intakt, worin sich der berühmte Hörsaal 40 befand. Hier hielten Ernst Bloch und Hans Mayer neben anderen ihre Vorlesungen, ehe sie nach dem Westen gingen bzw. nicht wieder zurückkehren durften. Eine Stunde vorher war der Saal stets bereits überfüllt. An all das muss man denken, wenn ich mir aus Großvater Merbachs Nachlass, AH in Leipzig, zwei Fotos mit der einmaligen Silhouette von Universität und Kirche ansehe. Auf der Rückseite notierte er „In memoriam 30.5.68“ – das Datum der Kirchensprengung.


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Hans Lehmann

geb. 1935, Kulturwissenschaftler, VDSt Berlin & Charlottenburg.

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