Abendländische Hügelkunde

In Krisenzeiten stellen sich Fragen nach Grundsätzen und Identität. Was macht Europa aus, was seine Nationalstaaten? Und was nicht? Frank Lilie begibt sich auf eine historisch-literarische Spurensuche und wird fündig – bei Zuckmayer, Ortega y Gasset und Theodor Heuss.


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Wem sagt heute unter den Jüngeren noch der Name Carl Zuckmayer etwas? In der jungen Bundesrepublik Deutschland bis hin in meine eigene Schulzeit hinein (ich habe 1978 Abitur gemacht) gehörten seine Theaterstücke zum Schulunterricht fest hinzu. Vor allem sein dreiaktiges Drama „Des Teufels General“, das Zuckmayer 1942 im amerikanischen Exil entworfen hatte, wurde seit 1946 nach der Züricher Uraufführung jahrzehntelang auf den Bühnen gegeben, weil es sich exemplarisch mit der Tragik des deutschen Widerstandes befasste, mit dem Widerstreit zwischen Loyalität und Widerstandspflicht.

Die Völkermühle

Im ersten Akt begegnet dort die Hauptfigur, der General und Lebemann Harry Harras (für den der Generalluftzeugmeister Ernst Udet das Vorbild gegeben hat, der zum Idol aufgestiegen war und 1941 unter seltsamen Umständen verunglückte), dem überzeugten Nationalsozialisten Hartmann, einem jungen Fliegeroffizier, der sich bei seinem General über, wie er es nennt, eine „Unklarheit“ in seinem Stammbaum auslässt. Seine Verlobte habe ihn verlassen, weil die Abstammung seiner rheinischen Urgroßmutter „unbestimmbar“ sei. Es ist schon spät, beide haben einiges getrunken – und wissen nicht, dass ihr Gespräch abgehört wird. Harras brummt vor sich hin: „So, so. Daran liegt’s. Da läuft so ein armer Junge mit einer unbestimmbaren Urgroßmutter herum. Na, und was wissen Sie denn über die Seitensprünge der Frau Ururgroßmutter? Die hat doch sicher keinen Ariernachweis verlangt. Oder sind Sie womöglich gar ein Abkömmling von jenem Kreuzritter Hartmann, der in Jerusalem in eine Weinfirma eingeheiratet hat?“ Hartmann antwortet: „Soweit greift die Rassenforschung nicht zurück, Herr General.“ Harras schäumt nun über: „Muss sie aber! Muss sie! Wenn schon – denn schon! Denken Sie doch – was kann da nicht alles vorgekommen sein in einer alten Familie. Vom Rhein noch dazu. Vom Rhein. Von der großen Völkermühle. Von der Kelter Europas! Und jetzt stellen Sie sich doch mal Ihre Ahnenreihe vor – seit Christi Geburt. Da war ein römischer Feldhauptmann, ein schwarzer Kerl, braun wie ’ne reife Olive, der hat einem blonden Mädchen Latein beigebracht. Und dann kam ein jüdischer Gewürzhändler in die Familie, das war ein ernster Mensch, der ist noch vor der Heirat Christ geworden und hat die katholische Haustradition begründet. Und dann kam ein griechischer Arzt dazu, oder ein keltischer Legionär, ein Graubündner Landsknecht, ein schwedischer Reiter, ein Soldat Napoleons, ein desertierter Kosak, ein Schwarzwälder Flözer, ein wandernder Müllersbursch vom Elsaß, ein dicker Schiffer aus Holland, ein Magyar, ein Pandur, ein Offizier aus Wien, ein französischer Schauspieler, ein böhmischer Musikant – das hat alles am Rhein gelebt, gerauft, gesoffen und gesungen und Kinder gezeugt – und – und der Goethe, der kam aus demselben Topf, und der Gutenberg, und der Matthias Grünewald, und – ach was, schau im Lexikon nach. Es waren die Besten, mein Lieber! Die Besten der Welt! Und warum? Weil sich die Völker dort vermischt haben. Vermischt – wie die Wasser aus Quellen und Bächen und Flüssen, damit sie zu einem großen, lebendigen Strom zusammenrinnen. Vom Rhein – das heißt: vom Abendland. Das ist natürlicher Adel. Das ist Rasse. Seien Sie stolz darauf, Hartmann – und hängen Sie die Papiere Ihrer Großmutter in den Abtritt. Prost.“

Literatur ist eine der Künste des Möglichen. Sie kann spielerisch angehen, was der Politik als Kunst des Faktischen so nicht erlaubt wäre. Und darum darf sie auch über all das hinwegsehen, was einem Politiker, der Entscheidungen treffen muss, bei Harras‘ großartiger Rede nur ein etwas säuerliches Lächeln auf die Lippen gebracht hätte: Und wie halten wir es nun mit den Grenzen? Wer gehört dazu, wer sind wir, wer sind die anderen? Und wer soll das bezahlen? Zuckmayers etwas süßliches Bild von der Völkermühle Rheinland – und an dessen Stelle kann man die Bilder vieler Völkermühlen der Welt setzen – antwortet überdies nicht auf alle Fragen. Ob das blonde Mädchen auch wirklich freiwillig Latein gelernt hat? Und ob ihr Bruder sich gern von dem Römer überwältigen ließ? Man kann es durchaus bezweifeln. Das Bild von der Völkermühle will auf poetische Weise darauf aufmerksam machen, dass das Leben stärker ist als unsere politischen Willensbildungen, unsere Reinheitsvorstellungen und Grenzziehungen. Die politische Grenze taugt nicht zum Symbol des Lebens.

Ein Staat schafft sich sein Volk

José Ortega y Gasset, auch einer der Großen, die in Vergessenheit zu geraten drohen, Philosoph, Essayist, ein begeisterter Europäer, hat in seinem zentralen Werk „Aufstand der Massen“ (1930) darauf hingewiesen, dass wir einem meist schiefen Bild der Nationenbildung folgen. „Als hätte es“, so sagt er, „bevor es noch Frankreich und Spanien gab, Franzosen und Spanier gegeben! Als wären Franzosen und Spanier nicht einzig das Ergebnis einer zweitausendjährigen Bemühung. Die ganze Wahrheit ist, daß die gegenwärtigen Nationen nur die gegenwärtige Manifestation jenes veränderlichen, zu ewiger Überwindung verurteilten Prinzips sind. Dies Prinzip ist heute nicht die Blut- und Sprachgemeinschaft, denn in Frankreich und Spanien waren beide Wirkung, nicht Ursache des einheitlichen Staates; dies Prinzip ist heute die ’natürliche Grenze‘.“ Hier spricht der Romane, doch können wir dem durchaus auch aus unserer Perspektive folgen. Wir haben in der deutschen Geschichte seit dem 16. Jahrhundert und massiv dann seit dem 19. Jahrhundert erkennen müssen, dass die Geschichte der Nation eine Rückwärtsprojektion einer Vorstellung in die Geschichte gewesen ist. Karl der Große ist nicht einer der Ahnherren Deutschlands gewesen, sondern Deutschland hat, bei der Suche nach einer Ahnenreihe, auch Karl den Großen in diese eingestellt – ohne übrigens zuviel darüber nachzudenken, dass Franzosen dies mit dem gleichen Recht tun. Ortega y Gasset sagt: „Weder Blut noch Sprache machen den Nationalstaat; eher ist er es, der die ursprünglichen Unterschiede der roten Blutkörperchen und des artikulierten Lautes ausgleicht. Und es ist immer so gegangen. Selten, sozusagen nie, ist der Staat mit einer vorher bestehenden Bluts- und Sprachgemeinschaft zusammengefallen.“ Die Grenzen waren somit nie „der Anfang der Nation, sondern im Anfang gerade ein Hemmschuh und dann, als sie einmal niedergelegt waren, das materielle Mittel zur Sicherung der Einheit.“

Bedeutet das nicht, dass die Maßgaben der Staatsbildung Verhandlungssache sind? Wenn sie nicht naturwüchsig sind, können sie eigentlich nur das Ergebnis von Verständigungsprozessen sein. Die Zugehörigkeit zum Staat ergibt sich aus einer Willensbildung der jeweils Beteiligten. Diese Willensbildung braucht eine Leitidee. Hegel hat in seiner Staatsphilosophie betont, dass der Staat eine Notwendigkeit und damit eine Idee sei, weil es eine übergeordnete Einrichtung geben müsse, in der das Interesse der Einzelnen nicht der letzte Zweck ist. In ihm durchdringen sich objektive und subjektive Freiheit. Aber dafür braucht es Kriterien!

Die drei Hügel

Dieser Balanceakt der Freiheiten gehört zu den kulturellen Grundlagen Europas, zu ihren Grundkonstituentien. 2003 wurde bei der Sitzung des Europäischen Konvents zur Schaffung der Europäischen Verfassung eine Aussage des ersten Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Theodor Heuss, zitiert. Er hatte in seiner Rede „Lob der Schule“ an seinem alten Heilbronner Gymnasium 1950 von den „drei Hügeln“ gesprochen, „von denen das Abendland seinen Ausgang genommen hat: Golgatha, die Akropolis in Athen und das Kapitol in Rom. Aus allen ist das Abendland geistig gewirkt, und man darf alle drei, man muß sie als Einheit sehen.“ Das gelingende Zusammenleben in Europa – und dazu gehört der innerstaatliche Friede ebenso wie der zwischenstaatliche, die europäische Friedensordnung ebenso wie die Frage der Einwanderung nach Deutschland oder auch in andere EU-Länder, dazu gehört aber auch die Frage nach dem spezifisch europäischen Beitrag zur Staatengemeinschaft überhaupt – das gelingende Zusammenleben also bedarf des Zusammenspiels dessen, was wir die Botschaft der drei Hügel nennen können. Immer dann, wenn ihr Zusammenspiel gestört wird oder einer der Akteure der Hügel sich als Solist in den Vordergrund drängt, krankt das Ganze.

Denn was erkennen wir in ihnen? Die Akropolis in Athen steht für den Ursprung der Demokratie. Das ist historisch nicht ganz richtig, weil die Versammlung der Vollbürger gar nicht im Kultbezirk der Akropolis zusammentrat. Es geht bei den drei Hügeln aber nicht um exakte Verortung, sondern um den jeweiligen Topos: Im Bild der Akropolis verdichtet sich für den Betrachter die Idee der attischen Demokratie. Und noch eine weitere Idee verdanken wir Athen bzw. Hellas oder Griechenland: Es ist die Entdeckung des νοῦς, des Geistes oder der Vernunft. Es war die griechische Philosophie, die das menschliche Vermögen der Zusammenschau übergreifender Seinsordnungen und Sinnzusammenhänge nicht nur entdeckte, sondern begrifflich definierte. Die Vernunft ist die Vollzugsweise unseres Geistes, die sich über die sinnliche Wahrnehmung und die analytische Zergliederung synthetisierend erhebt. Mit anderen Worten: Sie ist der Ursprung der Wissenschaft in unserem abendländischen Sinn. Demokratie und Wissenschaft – die Botschaft der Akropolis.

Das Kapitol ist einer der sieben Hügel Roms. Er erinnert an den Sitz des Senats, der Ältestenversammlung, also des Rates der Stadt Rom und des Imperium Romanum. Hinter ihm erstreckt sich das Forum Romanum. SPQR – Senatus Populusque Romanus – noch heute steht diese Abkürzung auf Kanaldeckeln und Mülleimern, ein beeindruckendes Zeugnis für die Macht der Tradition: Der Senat und das römische Volk – ein Kürzel für die Machtbalance zwischen dem die Aristokratie repräsentierenden Senat und dem Populus, dem Volk, mithin für die republikanische Staatsform. Wir haben Rom die Idee einer umfassenden Rechtsform zu verdanken. Recht und Gesetz gibt es, seit Menschen sich als soziale Wesen entdeckt haben. Das römische Recht beruht auf dem Gedanken einer allgemein gültigen Rechtssicherheit. Die Entdeckung Roms, dass Gemeinschaft und Recht nur zusammen denkbar sind (ubi societas, ibi ius), hat Auswirkungen bis heute. Die alteuropäische Rechtsordnung beruhte bis ins 19. Jahrhundert auf dem Corpus Iuris Civilis, dem „Bestand des zivilen Rechts“. Und auch wenn wir heute das Recht nicht mehr nur allein aus römischen Quellen schöpfen, so teilen wir doch mit Rom noch immer den Gedanken der umfassenden Rechtsordnung.

Vernunft und Verantwortung

Dieses Erbe des Kapitols ist im Verein mit dem Erbe der Akropolis, also der Demokratie und der Vernunft, bereits ein schlagkräftiges Duo. Wir suchen mit vernünftigen Mitteln nach den Rechtsformen und -normen für unser Zusammenleben. Die Geschichte lehrt uns aber auch, dass ein demokratisch legitimiertes Gemeinwesen allein noch keine Garantie für eine gerechte Gesellschaft ist.

Theodor Heuss war der Überzeugung, dass die Instanz, vor der sich der Demos, das Volk, verantworten muss, nicht das Volk allein sein darf. Denn deswegen nennt er den dritten Hügel des Abendlandes, Golgatha. Golgatha, die Schädelstätte, können wir archäologisch nicht so genau verorten wie die Akropolis oder das Kapitol. Es ist der Ort, an dem die von der römischen Besatzungsmacht zum Tode Verurteilten in Jerusalem hingerichtet wurden. Das Neue Testament nennt die Schädelstätte in allen vier Evangelien als den Todesort Jesu. Nach dem Gesetz historischer Wahrscheinlichkeit ist es nicht völlig auszuschließen, dass der in der Auferstehungs- oder Grabeskirche gezeigte und verehrte Fels Teil dieser Stätte ist: Heilige Stätten werden bis heute an Orten errichtet, die eine besondere Bedeutung haben. Aber das ist gar nicht so entscheidend wie das, wofür Golgatha steht, nämlich einmal die Idee einer übergeordneten Instanz, vor der wir uns zu verantworten haben, und zum anderen die Idee der Nächstenliebe. Oder, traditionell gesprochen, Golgatha steht für das Doppelgebot der Liebe zu Gott und zum Nächsten. Es ist der große liberale Irrtum unserer Tage, wenn lautstark Werte eingeklagt werden, ohne dass diese durch eine Begründung in einem Allgemeinen verankert werden. Der Islamismus, vor dem manche sich als der Bedrohung des Westens zunehmend fürchten, lacht über unsere hilflosen Versuche, relative Werte ohne absolute Wertinstanz zu begründen. Die uns verpflichtende und immer wieder neue offene Frage Golgathas an uns lautet, ob es reichen kann, dass wir uns in unserem Tun immer nur voreinander verantworten. Braucht es eine Letztverantwortung? Ver-Antworten – wir müssen Antwort geben, müssen uns rechtfertigen können. Ist es genug, wenn wir auf das Recht verweisen? Ich habe so gehandelt, weil es rechtens ist? Ist es genug, auf die Vernunft zu verweisen? Ich habe so gehandelt, weil es vernünftig war? Wir wissen, dass dies schon viel wäre, wir wissen aber auch, dass dies zu Ungerechtigkeiten und zu sozialer Kälte führen kann. Wir können die Natur ausbeuten und zerstören, mit Mitteln der vernunftgeleiteten Wissenschaften und demokratisch legitimiert. Und wir können Menschen ausgrenzen. Wenn unser Parlament das so beschließt, wenn die Verfassungen entsprechend geändert würden, könnten wir aus unseren Staaten abgeschottete Inseln machen. Es wäre vielleicht rechtens, aber wäre es auch gerecht? Verantwortung hat immer auch mit Schuld, mit Schuldfähigkeit zu tun. Nun aber auch umgekehrt: Wir könnten die Tore öffnen und den Migrationsbewegungen einfach ihren Lauf lassen. Doch wäre das auch vernünftig? Irgendwann, wahrscheinlich in nicht allzu ferner Zeit, würde das die Lebensgrundlagen für alle gefährden. Wir könnten aber natürlich auch die Migranten vor dem Tor stehen lassen. Wir kündigen einfach die entsprechenden Abkommen auf. Doch wäre das gerecht? Wäre das richtig vor einer absoluten Instanz, der auch wir selbst noch unterstehen? Wäre das im Sinne der Nächstenliebe?

Die Botschaften der drei Hügel müssen in ein Gleichgewicht gebracht werden. Vernunft ohne Nächstenliebe ist kalt, die Nächstenliebe ohne Vernunft ist in der Gefahr naiv zu werden, eine Rechtsordnung ohne Demokratie kann zur Tyrannis mutieren, und eine Demokratie ohne die Frage nach der Letztverantwortung lebt womöglich nur für den Tag und für sich selbst. Ordnung und Freiheit und die Menschenrechte müssen in eine Balance gebracht werden. Diese Balance haben wir nicht einfach, wir müssen sie immer wieder austarieren. Aber es lohnt sich unbedingt, dieses Ganze unseres Zusammenlebens zu bewahren, vorsichtig, ja liebevoll. „Ich sage Ihnen, das Leben ist schön“, räsoniert General Harras bei Zuckmayer. „Die Welt ist wunderbar. Wir Menschen tun sehr viel, um sie zu versauen, und wir haben einen gewissen Erfolg damit. Aber wir kommen nicht auf – gegen das ursprüngliche Konzept. Woher das stammt – das weiß ich nicht. Aber ich weiß – das Konzept ist gut. Der Plan ist richtig, der Entwurf ist grandios. Und der Sinn heißt nicht: Macht. Nicht: Glück. Nicht: Sättigung. Sondern – die Schönheit. Oder – die Freude. Oder beides. Nennen Sie es von mir aus, wie Sie wollen – vielleicht gibt es kein Wort dafür. Es ist das, was wir in unsren besten Stunden ahnen, und besitzen. Und dafür – nur dafür – leben wir überhaupt.“


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Frank Lilie

geb. 1960, Studium der Theologie und Philosophie, Dr. theol., ist evangelischer Pfarrer an der Ursulinenschule Fritzlar und Mitglied der Evangelischen Michaelsbruderschaft.

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