„Ach Verzeihung, Sie sind ja Deutscher!“

Misserfolge in der Integrationspolitik werden oft mit unüberbrückbaren kulturellen Gegensätzen erklärt. Aber der Faktor Kultur wird überschätzt.


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Nach dem Stand von 2010 schwang das Integrations-Stimmungsbarometer 2011 Jahr ins Gegenteil um. Wir alle kennen die Wetterhäuschen mit der Frau in Rock und Sonnenhut und dem Mann mit dem Regenschirm. Vorletztes Jahr war Thilo Sarrazin der Regenmann mit seiner entdeutschten deutschen Heimat. 2011 spielte der TRT-Kulturzug zweifelsohne die Gut-Wetter-Mamsell, die allen auf die Schulter klopft wegen der guten Idee des Anwerbeabkommens. Vollintegration sämtlicher Gastarbeiter, Asylanten, Ausländer, Fremder, Migranten, Deutscher und Europäer geglückt!

Die Schlagwortvielfalt ist verwirrend. Es drängt sich die Frage auf, was „sie“ denn nun sind, „sie“, die Leidtragenden, Nutznießer, Gewinner und Verlierer der (leider) oft unhinterfragten Integrationspolitik? Für Statistiker fällt selbst noch die Enkelgeneration in diese Gruppe der einmal Eingewanderten. Merkwürdig, dass die Nachkommen der zwölf Millionen integrierten Kriegsflüchtlinge des Zweiten Weltkriegs nicht dazu zählen. Mit der im Alltag verwendeten Kategorie hat diese Sicht jedoch wenig zu tun, sondern man bezieht sich auf das Äußere und die Sprache. In beiden Fällen hingegen werden zwei Gruppen miteinander verglichen, von denen die eine – die „deutsche“ – als weitgehend klar umrissen bzw. „ethnisch rein“ und „unvermischt“ gilt.

Aus historischer Perspektive ist diese Überzeugung die Folge einer kollektiven Verweigerungshaltung, sich mit Fragen der Integration angemessen zu beschäftigen. Bis weit in die 1980er Jahre hinein sollte Deutschland ganz ausdrücklich nicht zum Heimatland der Zugezogenen werden. Einwanderungspolitik blieb jahrzehntelang eine Integrationsverhinderungspolitik. Erst 2002 erkannte die Bundesrepublik auch offiziell ihren Status als Einwanderungsland und die sich daraumis ergebende Verpflichtung an, für einen gleichberechtigten Zugang zu den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Ressourcen der Gesellschaft zu sorgen. Mit dem schrittweisen Abschwächen der Integrationsverhinderungspolitik ging ein sprachlicher Wandel einher. Die Betroffenen wurden vom „Gastarbeiter“ über den „Zuwanderer“  zum „Menschen mit Migrationshintergrund“. Dennoch bleibt an diesen im deutschen Integrationsdiskurs nach wie vor der Makel des „Anderen“ und des „Fremden“ haften. Gesellschaftliche Anerkennung kann allein der erringen, der sich integriert. Das Label „MMM“ (Paul Mecheril) beweist, dass man nicht integriert ist und zementiert somit die Andersartigkeit. Die Forderung von uns „Menschen ohne Migrationshintergrund“ („MOM“) an die „MMM“ sich zu ändern, führt  so zu einem  Zirkelschluss, der die grundsätzliche Nicht-Integration der MMM konserviert. Integrierte MMM bestätigen als Ausnahmen lediglich die Regel. Integration und Andersartigkeit passen anscheinend nicht zusammen.

Begründet wird die Andersartigkeit mit exotischen kulturellen Elementen, wie Kopftücher, Ehrenmorde, Frauenunterdrückung, Heiliger Krieg et cetera. Unsere Werte der Toleranz, Gewaltlosigkeit und Menschenwürde seien unvereinbar mit ihrer Kultur. Folgerichtig fordern wir MOM eine einseitige Anpassung der MMM an uns, quasi als Gegenleistung für ein Ende des öffentlichen Drucks. Schließlich sei es – zynisch formuliert – ohnehin die Schuld der Ausländer, dass sich das Volksgemüt erhitzt habe, da sie sich nicht integriert hätten. Diese Wertediskussion führt aber an der eigentlichen Problematik einer politischen Gleichberechtigung und sozialen Gleichstellung weit vorbei. Deutlich wurde dies beispielsweise an der durch Friedrich Merz 2002 eingeführten „Leitkultur“, in der ein Ideal konstruiert wurde, das Gleichberechtigung vortäuschte, indem es auf der Basis kultureller Gegenüberstellung von „deutsch“ und „fremd“ bzw. „türkisch“ eine Gesellschaft propagierte, in der es angeblich Platz für alle geben sollte. Diese Theorie täuschte darüber hinweg, dass sich die sozialen, ökonomischen, kulturellen und religiösen Lebensbedingungen vieler Einwanderer keineswegs verbessert hatten. Die Chancenungleichheiten beider konstruierten kulturellen Gruppen fielen unter den Tisch.

Der Migrationshintergrund wird nach wie vor quasi genetisch vererbt, und man verliert ihn auch in der x-ten Generation nicht völlig. Die Einbürgerung macht dabei aus Ausländern keineswegs Deutsche, sondern nur Ausländer mit einem deutschen Pass. Diese „beobachtungsstrukturelle Diskriminierung“ (Sabine Mannitz) zeigt sich etwa daran, dass ein MOM nicht befürchten muss, als schlecht integriert zu gelten, nur weil er bestimmte Medien konsumiert oder die deutsche Grammatik nicht ausreichend beherrscht. Angesichts der angegebenen „Belege“ für schlechte Integration wird deutlich, dass es sich keineswegs um ein kulturelles, sondern ein soziales Problem handelt – sich äußernd etwa in der strukturellen Benachteiligung im Bildungssystem und im ungleichen Zugang zum Arbeitsmarkt. Durch die Verwendung einer kulturalisierenden Rhetorik entstehen moderne Ausgrenzungslinien und eine Diskriminierung via Diskurs. Darüber hinaus wird hier ein essentialistisch-statisches Konzept von Kultur gestärkt, das die eigentlich sozialen Konflikte entpolitisiert (da unabänderlich) und schwer verstehbar (da exotisch) erscheinen lässt.

Im Grunde bleibt der Diskurs über Integration und Migration letztlich ohnehin nur ein Scheingefecht, das vom eigentlichen Problembären der mangelnden Toleranz ablenkt. Wir reden so viel darüber,  damit wir uns keinen Kopf über die eigentlich damit verbundenen Konsequenzen machen müssen. Wie etwa der Frage: Sind wir überhaupt zu sozialer Gerechtigkeit bereit?


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Philipp Haug

geb. 1984, Ethnologe, VDSt Bonn.

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