Alles fließt – und das ist gut so

Nietzsche hat seine Zeit mit der Metapher eines zerbrechlichen, eben noch tragenden Eises im Tauwind beschrieben. 1884 notiert er: „Es ist Alles glatt und gefährlich auf unsrer Bahn, und dabei ist das Eis, das uns noch trägt, so dünn geworden: wir fühlen Alle den warmen unheimlichen Atem des Tauwindes – wo wir noch gehen, da wird bald Niemand mehr gehen können.“ Können wir, ein Jahrhundert nachdem Nietzsche dies schrieb, noch gehen?


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Die Metapher steht dafür, dass einigen, wenigen, klar zu werden beginnt, dass die alte Orientierung ihren Halt schon verloren hat und die Umrisse einer neuen Orientierung, vielleicht auch einer neuen Orientierungslosigkeit, noch nicht absehbar sind. „Die Zeit, in die wir geworfen sind“, schickte Nietzsche in seinem Notat voraus, ist „die Zeit eines großen immer schlimmeren Verfallens und Auseinanderfallens, welche mit allen ihren Schwächen und noch mit ihrer besten Stärke dem Geiste der Jugend entgegenwirkt.“ Gerade die Jugend braucht Klarheit und Hoffnungen, um ihre Wege in eine immer unsichere Zukunft gehen zu können. Kann, nach einem verstörten, von Weltkriegen und Völkermorden gezeichneten Jahrhundert, inmitten bedrohlicher Finanz- und Wirtschaftskrisen und im Angesicht wahrscheinlicher katastrophenträchtiger Klimaveränderungen, unsere Zeit sie ihr geben?

Für die Veröffentlichung hat Nietzsche die Metapher weitergebildet und von einer „zerbrechlichen zerbrochnen Übergangszeit“ gesprochen, in der die wenigen, die feiner beobachteten und weiter sähen, sich nicht mehr „heimisch fühlen“ könnten und nicht erwarteten, dass die „‚Realitäten‘“, an die man jetzt glaube, von Dauer seien. Er rückte sie in einen Aphorismus des V. Kapitels seiner „Fröhlichen Wissenschaft“ ein, das 1887, fünf Jahre nach den ersten vier Kapiteln der „Fröhlichen Wissenschaft“, drei Jahre nach „Also sprach Zarathustra“ und ein Jahr nach „Jenseits von Gut und Böse“ erschien und das zu seinem gelassensten, reifsten, heitersten Werk wurde. Es ist der Aphorismus Nr. 377, und Nietzsche überschrieb ihn „Wir Heimatlosen“. Dazu gehörten für ihn Juden, Nomaden, Zigeuner, kosmopolitische Menschen, wie man damals sagte, global tätige und denkende, wie man heute sagt, die überall und nirgends zu Hause sind, vor allem aber Nietzsche selbst, der, als er mit 25 Jahren seine Basler Professur für Klassische Philologie antrat, seine preußische Staatsbürgerschaft aufgab und seitdem, mit dem schweizerischen Terminus, „heimatlos“ blieb, nur noch in Gastzimmern Italiens, der Schweiz und Frankreichs lebte, bis er Anfang 1889 in den Wahnsinn fiel und in Naumburg und Weimar noch elf Jahre dahinvegetierte.

Was verfiel nach Nietzsche, fiel auseinander, zerbrach? Die jahrtausendealte Orientierung an einem Gott, der alles schuf und alles leitet, vor dem sich alle zu verantworten haben und der so allem einen Sinn gibt; und mit ihm die Orientierung an ewigen scheinbar an sich bestehenden Ordnungen des Seins und Sollens, die Philosophen als Unbedingtes der Metaphysik und der Moral zu begründen suchten, viele bis heute noch. Dass es damit nichts auf sich haben könnte, nannte Nietzsche „Nihilismus“, die allmähliche, beängstigende, lähmende Einsicht in die „Entwertung der obersten Werte“. Mit dem Nihilismus ging der „Sinn des Lebens“ (auch eine Formulierung Nietzsches) verloren, seither fragt und sucht man unablässig nach ihm, leidet man an seinem Verlust wie an einem Phantomschmerz, den man in einem Körperglied auch dann noch zu spüren glaubt, wenn es längst amputiert ist. Aber nach dem Nihilismus hat auch die Frage und die Suche nach dem Sinn des Lebens keinen Sinn mehr: An wen sollte man sie nun stellen, wer, wenn nicht Gott, der nach Nietzsche nun tot ist, sollte sie beantworten, oder wodurch, wenn nicht durch allgemeine, zeitlose, unbedingte Ordnungen, sollte er gerechtfertigt werden? Zu sehen, dass die Frage leerläuft, treibt in den tiefsten Nihilismus.

Nach Nietzsche ist man nicht nur an einem Ort, sondern auch in einer Zeit zu Hause: „Wir Kinder der Zukunft“, schrieb er in seinem Aphorismus, „wie vermöchten wir in diesem Heute zu Hause zu sein!” Das Zuhause einer Zeit ist das, was in ihr wie in einer Wohnung vertraut und selbstverständlich geworden ist, eine Orientierung, die sich so eingespielt hat, dass sie rundum passt und so gar nicht mehr auffällt. Wenn sich dann Einschneidendes ändert, sagt man, die Zeit sei eine andere geworden. Wer spürt, dass eine Orientierung verfällt, dass sie haltlos wird, weil sie nicht mehr in die Zeit passt, ist ein „Kind der Zukunft”. Er oder sie ist dann im Wohnraum seiner Zeit nicht mehr zu Hause und muss sich nach neuen Orientierungen umsehen. Wer es nicht beim Selbstverständlichen belässt und über seine Zeit hinausdenkt, wer sieht, dass dies nur seine Zeit ist, die ihre Zeit haben wird, ist nie zu Hause. Nach dem Nihilismus und den Schmerzen, die er zurücklässt, kann man das spüren wie nie zuvor.

„Wir Heimatlosen“

Wer im Zug des Nihilismus eingesehen hat, dass man sich nicht an Unbedingtes und Ewiges halten kann, wird in jeder Zeit, die ein dauerndes Zuhause bieten will, eine „zerbrechliche zerbrochne Uebergangszeit” erkennen. Aber das ist die Zeit selbst. Die Zeit besteht jenseits aller astronomischen und physikalischen Messungen, sozialen Einteilungen und kalendarischen Terminierungen, die sich ihrerseits alle mit der Zeit verändern können und auch immer wieder verändert haben, zuletzt einfach darin, dass alles immer wieder anders werden kann. Man wünscht sich ihre „Dauer”, solange man sich in ihr wohlfühlt, und wünscht ihr rasches Vergehen, wenn man an ihr leidet. Beides sind bloße Wünsche. Alles, was in ihr festzustehen scheint, ist, so Nietzsche, wie Eis, das über einem Bach, einem Fluss, einem See, einem Meer gefriert. Und Eis ist selbst auch Wasser und haltlos wie die Zeit: Wasser passt sich jeder Gestalt an, ist das Unfeste schlechthin, kann aber, erhitzt, Maschinen antreiben und gefroren Lasten tragen und wenn es dick genug ist, auch schwere Lasten. Wird es dünn, merkt man es lange nicht, man muss schon ein feines Sensorium haben, um den Tauwind zu spüren und die leisen Risse im Eis zu hören, bevor es laut zerkracht. Der württembergische Dichter Gustav Schwab hat in einer damals berühmten Ballade geschildert, wie ein Reiter in großer Hast den zugefrorenen und schneebedeckten Bodensee überquert, ohne es zu bemerken, und als er erfährt, was hinter ihm liegt, vor Schreck tot zusammenbricht. Nietzsche kannte das Gedicht. Die fließende Zeit kann wie Wasser unter wechselnden Bedingungen zum Antrieb und zum Halt werden.

Nihilismus als Chance zu selbstbestimmter Orientierung

Der Tauwind wird nach langer, lebensfeindlicher Kälte als angenehm empfunden, kündigt Frühling an, bringt Leben, nach Goethes Osterspaziergang („Vom Eise befreit sind Strom und Bäche …”) das „Hoffnungsglück” zurück, endlich wieder „Mensch” sein zu können. In Nietzsches Metapher lässt er schmelzen, was bisher getragen hat, die Gewissheit eines vertrauten festen Halts der Orientierung. In der Version, die er veröffentlicht hat, gibt Nietzsche der Metapher eine überraschende Wendung: „wir selbst, wir Heimatlosen, sind Etwas, das Eis und andre allzudünne ‚Realitäten’ aufbricht …” Es ist nicht einfach die Zeit, es sind die Unzeitgemäßen, in ihr Heimatlosen, die den Übergang, den Wandel bringen. Ihr „Argwohn”, der „unerbittliche, gründliche, unterste Argwohn über uns selbst, der uns Europäer immer mehr, immer schlimmer in Gewalt bekommt”, ist es, so Nietzsche, der das grundlose, längst unterhöhlte Vertrauen in unabdingbare Festigkeiten auflöst. Der Halt auf dem Eis wird schon dadurch zerbrechlich, wenn man dessen gewahr wird, dass man sich auf Eis eingerichtet hat, und darüber nachdenkt, wie es tragen kann. Europa hat über Jahrhunderte und Jahrtausende eine Kultur des Nachdenkens darüber ausgebildet, was das Leben trägt, hat trotz aller Wünsche nach festem Halt auch unablässig Zweifel daran genährt. Und es wurde darin gerade durch seine christliche Tradition bestärkt. Im Aphorismus Nr. 357 der „Fröhlichen Wissenschaft“ hat Nietzsche von einer „zweitausendjährigen Zucht zur Wahrheit“ gesprochen, die „die Beichtväter-Feinheit des christlichen Gewissens“ erzwungen habe, das unaufhörliche Sich-Verantworten-Müssen vor einem Gott, der alles sieht, alles weiß und über alles richtet. So wurde, nach Nietzsche, die christliche Beicht-Gewissenhaftigkeit auf langen und gewundenen Wegen schließlich „übersetzt und sublimirt zum wissenschaftlichen Gewissen, zur intellektuellen Sauberkeit um jeden Preis“ – die „am Schlusse sich die Lüge im Glauben an Gott verbietet“. Der christliche Gott erzog danach dazu, sich selbst in Frage zu stellen und ihn immer subtiler zu denken, was die Theologie bis heute beschäftigt. Was also „eigentlich über den christlichen Gott gesiegt“ habe, war, so Nietzsche, „die christliche Moralität selbst, der immer strenger genommene Begriff der Wahrhaftigkeit“. Mit diesem „endlich und schwer errungenen Sieg des europäischen Gewissens“ seien wir nun „Erben von Europa’s längster und tapferster Selbstüberwindung“ und darin, eben darin, „gute Europäer“. Europa hat sich selbst in den Nihilismus getrieben, in dem es nun Halt finden muss, in dem es nun aber auch allen scheinbar vorgegebenen Halt in seiner Zerbrechlichkeit durchschauen kann.

Im Tauwind über dem Eis, wenn man spürt, dass es nicht mehr trägt, muss man selbst zum Tauwind werden, muss die Brüche wollen, um sich neuen, eigenen Halt zu schaffen. Europäer, die ihre Tradition verstanden haben, können gar nicht mehr anders. Nietzsche hat seine ganze „fröhliche Wissenschaft“, wie er im Vorwort schreibt, „in der Sprache des Thauwinds geschrieben: es ist Uebermuth, Unruhe, Widerspruch, Aprilwetter darin, so dass man beständig ebenso an die Nähe des Winters als an den Sieg über den Winter gemahnt wird, der kommt, kommen muss, vielleicht schon gekommen ist.” Nichts, was man an „Realitäten“ für gesichert hält, ist dabei sicher. Nietzsche setzt „Realitäten“ in Gänsefüßchen: sie sind keine oder doch nicht das, wofür man sie hält, etwas Unantastbares, Unleugbares. Denn jeder und jede von uns orientiert  sich mehr oder weniger anders als andere, je nach seiner Situation und nach seinen Bedürfnissen, jede und jeder braucht seine Spielräume in der Welt, um mit ihr zurechtzukommen. Das wäre gar nicht möglich, wenn es für alle und für immer nur einen allgemeinen und gleichen Halt gäbe. Jede Orientierung hat ihren Standpunkt, ihre Horizonte und Perspektiven und kann sie mit der Zeit verändern, im Kleinen und Großen. So kann unsere Orientierung „mit der Zeit gehen“, kann, wenn sie in Haltlosigkeit, Desorientierung verfällt, sich auch wieder fangen und neuen Halt finden. Wir haben es nicht mit einer Realität für alle und auf Dauer, sondern mit vielfältigen und in unseren Orientierungen wechselnden Realitäten zu tun, sinnlichen und geistigen, empirischen und formalen, subjektiven und objektiven, individuellen und sozialen, privaten und öffentlichen usw., Realitäten des Alltags, der Medien, der Politik, des Rechts, der Wissenschaft, der Kunst, der Moral, des Glaubens und so fort. Wir können das, nach dem Nihilismus, nun sehen und können dahinter nun nicht mehr zurück. Aber wir können es als Chance begreifen: als Freiheit zur eigenen Orientierung und zu Neuorientierungen in neuen Zeiten, im Austausch mit anderen Orientierungen, zuletzt aber in eigener Verantwortung. Auch wir brauchen Eis, auf dem wir, wenn alles wie Wasser im Fluss ist, gehen können, aber wir brauchen dann auch wieder die „Tauwinde“ von „Heimatlosen“, um Vereisungen der Orientierung, die stumpf und blind für die Zeit gemacht haben, wieder aufzubrechen.

Zuletzt hat Nietzsche in Gedichten, die er zum Teil „Also sprach Zarathustra“ entnahm, aber nochmals neu formte und nun unter den Titel „Dionysos-Dithyramben“ stellte, den Tauwind mit seinem Zarathustra identifiziert. Im Gedicht „Von der Armut des Reichsten“ wartet der Tauwind Zarathustra „unterhalb seines Eises”. Das Eis ist nun nicht mehr die Eisdecke über einem Gewässer, die im Tauwind wegschmilzt, sondern das Gletschereis auf hohen Bergen, das schwer erreichbar und kaum begehbar ist und niemals schmilzt, sondern in der Sonne weithin leuchtet. Es ist Zarathustras Eis, das Eis des „Schaffenden”, das er sich selbst wählt und zu dem er selbst hinaufsteigt, um von dort aus Überblick zu gewinnen für eine eigene selbstbestimmte und selbstverantwortete Orientierung. Er kann in Nietzsches neuem Bild das Eis von sich aus fest und flüssig werden lassen: „Krank heute vor Zärtlichkeit, / ein Thauwind, / sitzt Zarathustra wartend, wartend auf seinen Bergen, – / im eignen Safte / süss geworden und gekocht, / unterhalb seines Gipfels, / unterhalb seines Eises, / müde und selig, / ein Schaffender an seinem siebenten Tag.”

Klarheit für Wege in die Zukunft ist nicht vorgegeben. Es wäre dann immer die Klarheit der jetzigen, zerbrechlichen, vielleicht schon zerbrochenen Zeit. Man kann sie nicht übernehmen, man muss sie sich selbst schaffen. Man kann gehen, aber auf Wegen, die man sich von Zeit zu Zeit selbst schaffen muss und für die es keine letzten Ziele und Gewissheiten gibt. Mit Nietzsche ist die Zeit gekommen, in der man das wissen kann. Nietzsche kann helfen, sich darüber klar zu werden.


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Werner Stegmaier

geb. 1946, Professor für Philosophie, führender Nietzsche-Forscher.

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