Ansturm auf Europas Grenzen

Weder Grenzschutz noch Entwicklungshilfe haben den Flüchtlingsstrom nach Europa bisher eindämmen können, und auch die weltweite Demographie verheißt wenig Gutes. Harte Gewissensentscheidungen stehen den Europäern bevor, prognostiziert Helmut Meininghaus.


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„Die Fischer der griechischen Insel Lesbos werden diesen Tag nie vergessen. Das Unglück passierte morgens gegen fünf Uhr in der Dämmerung, als sie an der Südspitze der Insel gerade ihre Netze einholten. Ein Schlepperboot voller Flüchtlinge versank vor ihren Augen. Ein Fischer: ‚Ich zog ein kleines Mädchen aus dem Wasser. Ich drehte es um und sah, dass es die Augen offen hatte. Aber es war schon tot. Das war das Schlimmste. Ich bin selbst Vater von zwei Kindern.‘„ So berichtet es der WDR in einer Sendung vom 14. September 2010 unter dem Titel „Gestrandet auf Lesbos – Afghanische Kinder suchen eine neue Heimat.“ Menschliche Tragödien dieser Art ereignen sich seit Jahren tagtäglich an den Küsten der Mittelmeeranrainerstaaten der Europäischen Union.

Schätzungen von UNHCR und von Menschenrechtsorganisationen schwanken zwischen 70.000 und 120.000 Bootsflüchtlingen, die pro Jahr illegal über das Mittelmeer nach Europa kommen. Im Jahr 2008 wurden über 1.500 Tote registriert. Allein in den letzten 10 Jahren sollen über 10.000 von ihnen bei der Überfahrt ertrunken sein. Die Dunkelziffer ist hoch. Es sind alles menschliche Tragödien ungeahnten Ausmaßes!

Die Bootsflüchtlinge versuchten in den letzten Jahren, auf drei Hauptseerouten europäisches Territorium zu erreichen: von Westafrika auf die Kanarischen Inseln, von Nordafrika, insbesondere Libyen, nach Malta oder Italien und von der Türkei über die Ägäis nach Griechenland.

Verstärkte Kontrollen an den Küsten, Kooperation mit den südlichen Anrainerstaaten des Mittelmeeres und schließlich die Gründung und der Einsatz der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex haben bewirkt, dass sich die Anzahl der Flüchtlinge an den Küsten Europas verringert hat. Im Laufe des Jahres 2010 wird eine weitere Fluchtroute bevorzugt genutzt, die über die weniger gefährliche Grenze zwischen der Türkei und Griechenland und den Grenzfluss Evros zwischen beiden Ländern verläuft. Es ist aktuell das Hauptschlupfloch in die EU.

Frontex

Da die illegale Einreise in die EU nicht nur als Problem der Staaten mit EU-Außengrenzen angesehen wird, sondern als ein gesamteuropäisches, hat die Europäische Union Ende 2004 die „Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union“ – auch „Frontex“ genannt – gegründet. Die Sicherung der Außengrenzen bleibt aber nach wie vor eine Angelegenheit der Nationalstaaten. Frontex ist also keine europäische Grenzpolizei. Sie hat unter anderem die Aufgabe, Grenzeinsätze zu koordinieren und dort zu helfen, wo die Nationalstaaten eine effektive Grenzsicherung nicht mehr gewährleisten können. Die Frontex-Teams werden aus Beamten von EU-Mitgliedsländern zusammengesetzt und unterstehen dem Einsatzland.

Die Ausrüstung der Hubschrauber bietet die Möglichkeit, bis zu sieben in Seenot geratene Menschen zusätzlich aufzunehmen. Auch ausgebildete Taucher kommen dabei zum Einsatz. Ein Frontex-Polizist: „Letztes Jahr hat Frontex viele Menschen gerettet. Wenn Frontex nicht gewesen wäre, wären weit mehr Menschen ums Leben gekommen.“ Das hat sich auch bei den Menschenhändlern und Flüchtlingen herumgesprochen. Wenn sie ein Schiff der Küstenwache sehen, zerstören sie ihr Boot und springen ins Wasser, denn Menschen in Seenot werden von Frontex gerettet.

Die auf hoher See aufgegriffenen bzw. geretteten Boatpeople sind grundsätzlich in das Land zurückzubringen, von dem sie in See gestochen sind. Wenn die dortigen Behörden aber nicht bereit sind, sie aufzunehmen, muss das Land, das die Frontex-Operation durchführt, diese Menschen aufnehmen.

Zusammenarbeit EU – Libyen

Eine besondere Rolle spielte in diesem Zusammenhang Libyen, das lange Zeit Haupttransitland von Afrika nach Europa war. Libyen ist das Land, das in früheren Jahren der EU hinsichtlich der Rückübernahme von Flüchtlingen Probleme bereitete. Das änderte sich, seit der italienische Ministerpräsident Berlusconi und der damalige libysche Staatschef Gaddafi im August 2008 ein Freundschaftsabkommen schlossen. Gaddafi hat darin seine Forderung nach Reparationsleistungen für die Jahre durchsetzen können, in denen Libyen italienische Kolonie war, und zwar in Höhe von fünf Milliarden Dollar. Das Geld soll über die nächsten 25 Jahre in Form von Investitionen in die Infrastruktur des nordafrikanischen Landes gezahlt werden. „Wir werden mehr Gas und Benzin aus Libyen bekommen und weniger illegale Einwanderung“, erklärte Berlusconi.

Während seines Besuches in Italien 2008 forderte Gaddafi von der EU jährlich (!) fünf Milliarden (!) € für die Bekämpfung der illegalen Migration aus Afrika. Europa solle auf seine Forderungen eingehen, nur so könne sichergestellt werden, dass es „nicht schwarz“, d. h. nicht von Schwarzafrikanern überschwemmt werde. Im übrigen forderte er die christlichen Europäer auf, zum Islam zu konvertieren. Anfang Oktober 2010 hat auch die EU mit Libyen ein Abkommen über Migrationszusammenarbeit abgeschlossen. Auf dem EU-Afrika-Gipfel Ende November 2010 hat Gaddafi in der Eröffnungsrede seine Forderungen wiederholt. Libyen werde seine Bemühungen sofort einstellen, wenn es nicht die technische und finanzielle Hilfe der EU erhalte. Wie Außenminister Westerwelle erklärte, der Deutschland auf der Konferenz vertrat, sei die EU nur bereit, 50 Millionen € zur Verfügung zu stellen. Das Damoklesschwert, dass wieder Flüchtlingsströme über Libyen an europäische Küsten gelangen, hängt weiterhin über Europa, auch nach dem Sturz des alten Regimes.

Flüchtlingsansturm auf Griechenland

Wie oben erwähnt, ist aktuell die griechisch-türkische Landgrenze am Fluss Evros dem größten Ansturm von Migranten ausgesetzt. Mehr als 80 % der illegalen Einwanderer in die EU reisen inzwischen über Griechenland ein. Es sind in erster Linie Afghanen, Iraker und Nordafrikaner. Nach Angaben des griechischen Bürgerschutzministers Papoutsis waren es 2010 128.000 illegale Migranten, in den vergangenen vier Jahren 512.000. Nicht-griechische Schätzungen liegen wesentlich darunter. Die Gesamtzahl der Illegalen, die sich zurzeit in Griechenland aufhalten, wird auf mindestens eine Million geschätzt. Die griechischen Aufnahmelager sind restlos überfüllt, die hygienischen Zustände menschenunwürdig. An eine medizinische Versorgung der Flüchtlinge ist kaum zu denken.

Seit Anfang November 2010 sind auch 175 Grenzschützer von Frontex dort im Einsatz. Die griechische Regierung plant darüber hinaus den Bau eines Zauns an der griechisch-türkischen Grenze nach dem Vorbild des Grenzzauns zwischen den USA und Mexiko. Das Ziel der Flüchtlinge ist jedoch nicht Griechenland, sondern Italien, Frankreich, Skandinavien, England oder Deutschland, und wer kann, schlägt sich irgendwie dorthin durch.

Asylbewerber in Deutschland

Die Zahl der Asylantragsteller war in Deutschland aus verschiedenen Gründen seit Anfang der 90er Jahre stark zurückgegangen. 1992 waren es 438.190. Der niedrigste Stand wurde 2007 mit 19.164 erreicht. Dann erhöhten sich die Zahlen deutlich. 2009 waren es 27.649 und 2010 41.332. Die Gesamtzahl der Asylbewerber in Europa betrug 2008 333.000.

Die Ursache für die Zunahme der Asylanträge liegt in der dramatischen Situation in den Herkunftsländern. Darunter sind die Krisen- und Kriegsgebiete Afghanistan, Irak und Somalia. Bei den Afghanen stieg die Zahl der Asylbewerber um 413,7 %, eine Folge der verschlechterten Sicherheitslage in ihrem Land. Beim Abzug der westlichen Truppen aus Afghanistan in den kommenden Jahren wird die Zahl der Asylbewerber aus diesem Land in der EU enorm steigen. Ein Anstieg der Flüchtlingszahlen ist auch aufgrund der Tatsache zu erwarten, dass die Verfolgung von Christen in islamischen Ländern dramatisch zugenommen hat.

Neben den oben genannten Ursachen für aktuelle und zukünftige Wanderungsbewegungen muss das globale Bevölkerungswachstum genannt werden. Am Ende des 20. Jahrhunderts lebten sechs Milliarden Menschen auf der Erde. In diesem Jahr wird die Sieben-Milliarden-Grenze überschritten. Davon ist über 1 Mrd. zwischen 15 und 24 Jahre alt. Das sind die Väter und Mütter von morgen. Der hohe Anteil junger Menschen ist der Grund dafür, warum das globale Bevölkerungswachstum auch dann noch anhalten wird, wenn die Zahl der Kinder pro Frau weiter zurückgeht. Bei der gegenwärtigen Wachstumsrate kommt etwa alle 12 bis 14 Jahre eine Milliarde Menschen hinzu, und das, obwohl es in den bevölkerungsreichsten Ländern der Erde, Indien und China, seit Jahrzehnten Familienplanungspolitik gibt. 99 % des gesamten Bevölkerungswachstums findet vor allem in den islamischen Entwicklungsländern statt. Die im Süden und Osten an das Mittelmeer grenzenden Länder sind mit Ausnahme von Israel islamisch.

Entwicklungshilfe

In der Diskussion über das Thema Migration stößt man immer wieder auf das Argument, eine Abschottung Europas sei nicht möglich und eine „Festung Europa“ könne und dürfe es nicht geben. Die eigentliche Verpflichtung der EU müsse es sein, die Ursachen für die anhaltenden Wanderungsbewegungen nach Europa zu bekämpfen. Und das gehe nur in den Herkunftsländern der Einwanderer nach dem Grundsatz „Hilfe zur Selbsthilfe“. Entwicklungszusammenarbeit zwischen Industrie- und Entwicklungsländern gibt es seit Anfang der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Seit dieser Zeit wurden Entwicklungshilfegelder von ca. 2 Billionen US-Dollar zur Verfügung gestellt, ohne dass bis heute die Probleme dieser Länder außer den asiatischen geringer geworden sind.

Die deutsche Entwicklungshilfe umfasst aktuell insgesamt 10 Mrd. € pro Jahr. Deutschland ist damit der drittgrößte Geldgeber in der Entwicklungszusammenarbeit. Es soll nicht bestritten werden, dass durch humanitäre Hilfe menschliches Leid vermindert wird, dass nicht wenige Entwicklungsprojekte auch partiell Fortschritte mit sich bringen, aber eines wird nicht bewirkt, den Zuwanderungsdruck auf Europa zu reduzieren.

Fazit

Es ist mehr als fraglich, ob wir Europäer in Zukunft beides werden haben können, Schutz unserer Bevölkerung vor massenhafter Zuwanderung aus Entwicklungsländern und Beibehaltung hoher Menschenrechtsstandards. Setzen wir, wie es die Menschenrechtsorganisationen fordern, auf die Menschenrechtsstandards, riskieren wir bei größerer Zuwanderung in unsere Sozialsysteme Unzufriedenheit in der Bevölkerung und ein weiteres Erstarken „rechtspopulistischer“ Parteien. Machen wir weitere Abstriche bei den Menschenrechtsstandards, verlassen wir Fundamente unserer Werteordnung und verlieren unsere Glaubwürdigkeit in der Welt.


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Helmut Meininghaus

geb. 1938, zwanzig Jahre lang Dozent an der Grenzschutzschule/Bundespolizeiakademie, VDSt Freiburg.

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