Auf Wiedersehen, Orient

Hamed Abdel-Samad prognostiziert „Aufbruch oder Zusammenbruch“ in der islamischen Welt. Eine Herausforderung auch für Europa – und eine Chance.


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2009 erschien von dem ägyptisch-deutschen Politologen Abdel-Samad „Mein Abschied vom Himmel. Aus dem Leben eines Muslims in Deutschland“ (Knaur). In dieser Autobiographie setzt sich der Sohn eines Imams aus einem Dorf unweit von Kairo mit seiner durch tiefe Religiosität und Gewalt geprägten Kindheit auseinander. In Kairo studierte er Englisch und Französisch, ab 1995 in Augsburg Politik und Japanisch, was er durch einen Japanaufenthalt vertiefte. Bis Ende 2009 war er am Lehrstuhl für Islamwissenschaft in Erfurt tätig und promovierte am Münchner Institut für Jüdische Geschichte über das „Bild der Juden in ägyptischen Schulbüchern“. 2010 wurde er in die Deutsche Islamkonferenz berufen.

2010 erschien bei Droemer „Der Untergang der islamischen Welt. Eine Prognose.“ Abdel-Samad wählte obigen Titel in Anlehnung an Oswald Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“ für seine persönliche Analyse und Einschätzung der Entwicklungen in muslimischen Ländern mit Schwerpunkt Ägypten. Nach langem Sträuben gestand er sich ein, dass „Spenglers Analyse in vielerlei Hinsicht auch auf den Zustand der islamischen Welt zutrifft.“ Bei der zweiten Lektüre von Spenglers Werk versuchte er dessen Rat zu befolgen, „dem Untergang der eigenen Kultur gefasst in die Augen zu sehen“. So prognostiziert er den Untergang der islamischen Welt, weil das religiöse Denken erstarrt ist und die meisten islamischen Länder der Konsummentalität verfallen sind, gegen die der Islam keinen gesunden Verteidigungsmechanismus hat. Er fordert, sich von den vielen Bildern zu trennen, von Gottesbildern, Gesellschaftsbildern, Frauenbildern sowie Vor- und Feindbildern.

Mit dem britischen Orientalisten Bernard Lewis und dem deutsch-israelischen Historiker Dan Diner stimmt er darin überein, dass das Hauptproblem des Islam in der Natur des Heiligen liegt, das alle Bereiche unterwandert. Die augustinische Unterscheidung zwischen Gottesstaat und irdischem Staat fehlt; zivile Begriffe bleiben sowohl in der Sprache des Korans wie im kollektiven Denken der urarabischen Sippe gefangen. Abdel-Samad geht anhand von Beispielen auf obige Bilder in verschiedenen Kapiteln mit ausdrucksstarken Überschriften ein:

  • Pulverfass Geschichte oder: Nimm mir meinen Sündenbock nicht weg!
  • Was ist schief gelaufen? oder: Der lange Abschied vom Morgenland.
  • Die Lust der Kränkung oder: Warum Muslime so ungern an ihre selbstgemachte Misere denken.
  • Die Wut-Industrie oder: Ich bin Muslim, also bin ich beleidigt.
  • Keine Revolution, nirgends oder: Das muslimische Gottesbild und die Herrschaftstreue.
  • Bildung und Einbildung oder: Mohamed im Media Markt
  • Zwischen Renaissance und Radikalisierung oder: Muslime in der Fremde
  • Häresie als Chance oder: Der postkoranische Diskurs.
  • Auf Wiedersehen, Orient oder: Aufbruch oder Zusammenbruch?

Ich will die Inhalte einiger Kapitel kurz darlegen; zunächst „Was ist schief gelaufen?” Abdel-Samad hält es für fraglich, ob die islamische Blütezeit im Mittelealter nur dem Islam zu verdanken ist, zumal dieser zu einem Zeitpunkt entstand, als die Großreiche der Sassaniden im heutigen Iran und das Byzantinische Reich wechselseitige Zermürbungskriege führten, arabische Vasallen für sich kämpfen ließen und durch diese Stämme weitgehend islamisiert wurden. Die Verschmelzung alter Kulturen mit der arabisch-islamischen Dynamik erzeugten einen gewaltigen Modernisierungsschub, der jedoch verebbte, je mehr die Auffassung dominierte, dass der Glaube wieder gereinigt werden soll, das gesamte Wissen sich im Koran befindet, und als die wissenschaftliche Zusammenarbeit mit Nicht-Muslimen beendet wurde, was in Andalusien bereits zwei Jahrhunderte vor der Reconquista erfolgte. Seit der Entdeckung des Seeweges um das Kap der Guten Hoffnung machten die Handelsschiffe einen großen Bogen um die arabischen Gebiete. Im späten 19. Jahrhundert wollten die Araber nach dem Vorbild Bismarcks einen modernen vereinigten Nationalstaat schaffen, bauten jedoch auf Mythen und Personenkult im Gegensatz zum Zionismus, der Strategien verfolgte und 1967 die Araber besiegte.

„Zwischen Renaissance und Radikalisierung oder Muslime in der Fremde.” Der Autor sieht als Hauptproblem der Muslime an: „Statt die Freiheit zu nutzen, um sich von autoritärem Denken zu lösen und eine neue Theologie entstehen zu lassen, benutzen sie die demokratischen Mittel, um die Demokratie zu unterwandern“. Viele Muslime importieren ein veraltetes Denken ihrer Ursprungsländer und nennen das Identität. Dies wird noch verstärkt, wenn Islamkritik mit Rassismus gleichgesetzt wird. Abdel-Samad sieht im zunehmenden Sichtbarwerden (Moscheen) keine Omnipotenz des Islam, sondern eher eine wachsende Unsicherheit der Einwanderer. Verunsicherung und Isolierung vieler junger Muslime, die sehr aufgeschlossen für moderne Konsumgüter sind bei gleichzeitiger radikaler Indoktrinierung schafft ein explosives Gemisch, das den Terrorismus fördert. Er sieht darin einen Hauptgrund für den Untergang der islamischen Welt.

„Häresie als Chance oder Der postkoranische Diskurs.” Eine Reform würde für Abdel-Samad bedeuten, „die Kette aus verankertem Stammesbewusstsein, religiöser Herrschaftstreue, verlogener Sexualmoral und ineffektiver Bildung, die nicht den Verstand stimuliert, sondern veraltete Denkstrukturen zementiert“, zu sprengen. Er hält eine Versöhnung des Islam mit dem Atheismus für eine letzte Chance und fordert ein neues Geschichtsbewusstsein auf der Grundlage von Verstehen statt Selbstverherrlichung. Nötig sind Imame, die Averroes, Kant und Spinoza gelesen haben.

„Auf Wiedersehen, Orient oder Aufbruch oder Zusammenbruch.” Abdel-Samad prognostiziert zunächst einen Zusammenbruch, ausgelöst durch ideologische Konflikte und verschärft durch den Klimawandel. „Eine vollkommen neue, auf Hightech basierte Wirtschaft müsste entstehen, um die Region tatsächlich zu retten“, was er dem schwerfälligen islamischen Körper nicht zutraut. Migrationswellen nach Europa werden daher zunehmen und die jungen Muslime die Konflikte ihrer Heimatländer nach Europa tragen.

Stellungnahme

Flüchtlinge aus Tunesien kommen in Lampedusa auf EU-Territorium. Es sind häufig gut ausgebildete, arbeitslose, junge Leute, die einfach ein besseres Leben anstreben und dieses in Europa suchen. Es dürfte nur die Vorhut der großen Migrationswelle aus Nordafrika sein. Die zuständigen Regierungen in Nordafrika werden kaum zufriedenstellende Lösungen finden, so dass in unserem eigenen Interesse eine gemeinsame EU-Lösung angestrebt werden sollte.

Eberhard Stotko hat in seinem Vortrag „Was heißt europäisch denken und handeln? Formen und Inhalte europäischer Politik“ bei der Straßburg-Tagung 2007 eine EU-Strategie für ein europäisches Selbstbewusstsein gefordert, um die Unterstützung der Bevölkerung für Europa wieder zu gewinnen. Er hat dabei zwei Punkte hervorgehoben

  • eine graduelle Politisierung der Europapolitik und
  • eine neue Begründungslogik, die wahrscheinlich am besten durch ein Großprojekt vermittelt wird, vergleichbar mit der seinerzeitigen Apollo-Mission in den USA.

Ich frage nun: Fordern die epochalen Umbrüche in unserer nordafrikanischen Nachbarschaft nicht geradezu ein europäisches Großprojekt heraus? In meinem Beitrag „Europa nostra – ein künftiges Imperium?” (Akademische Blätter 2/2010) habe ich schon auf das Desertec-Projekt zur Nutzung der Solarenergie aus der Sahara hingewiesen. Die Weiterleitung großer Energiemengen über größere Entfernungen muss zwar noch gelöst werden, für nähere regionale Räume lässt sich dies aber schon jetzt durchführen. Bei sicherlich hohen Kosten würde dies Europa und gleichzeitig der bevölkerungsreichen aufstrebenden jungen Generation in Nordafrika nutzen. Damit würden zwar die zu erwartenden großen Flüchtlingsprobleme nicht schnell gelöst, aber es würde eine langfristige Perspektive für die EU und Nordafrika aufgezeigt!


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Diethelm Keil

geb. 1928, Dr. phil., VDSt Tübingen.

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