Ausweitung der Marktzone

Von vielen unbemerkt findet ein Übergreifen der ökonomischen Märkte auf tradierte moralische und kulturelle Werte statt. Michael J. Sandel warnt in seinem Buch davor, menschliche Gemeingüter der Logik der Ökonomie zu unterwerfen. Damit findet er weitgehend Zustimmung bei unserem Rezensenten Julian Nida-Rümelin.


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Spätestens seit der Abdankung des Marxismus als einer wirkungsmächtigen Ideologie westlicher Intellektueller ist eine andere Ideologie dominant geworden, die man oft fälschlicherweise als „Neo-Liberalismus“ bezeichnet. In den USA hängen die Neo-Konservativen dieser Ideologie deutlicher an als die Liberalen. In Kontinentaleuropa wurde sie im Gegensatz zum angelsächsischen Raum bis heute nicht wirklich hegemonial. Dennoch hat die Idee, dass die beste aller Welten in Gestalt eines idealen und globalen ökonomischen Marktes bestünde, auch die politischen Agenden nicht nur konservativer und liberaler Parteien geprägt. Es lohnt sich daher, über das Funktionieren von Märkten nachzudenken. Sie sind ein ideales Mittel, um Angebot und Nachfrage zu koordinieren und damit die Produktion von Gütern und Dienstleistungen effizient zu steuern. Alle Versuche, dies durch eine Zentral-verwaltungswirtschaft zu ersetzen, sind bislang gescheitert. Diese Stärke ökonomischer Märkte lässt sich präzisieren: Unter idealen Bedingungen, d. h. dann, wenn die Qualität und der Preis aller Güter und Dienstleistungen allen gleichermaßen bekannt sind (vollständige Transparenz), wenn der Transport keine (großen) Kosten verursacht (niedrige Transferkosten) und wenn die Anbieter hinreichend zahlreich miteinander konkurrieren (also sich keine Mono- oder Oligopole ausbilden), schaffen Märkte pareto-effiziente Verteilungen. Pareto-effizient nennt man eine Verteilung genau dann, wenn gilt, dass keine einzelne Person bessergestellt werden könnte, ohne eine andere Person schlechterzustellen, oder anders formuliert: Solange es möglich ist, mindestens eine Person besserzustellen, ohne eine andere Person schlechterzustellen, dann finden ideale ökonomische Märkte einen Weg, um das zu realisieren.

Dieser unbestreitbaren Stärke stehen drei Schwächen gegenüber: Märkte sind verteilungsblind, d. h. sie garantieren nicht, dass die vorhandenen Ressourcen allen zugute kommen, ja sie sind damit vereinbar, dass ganze Bevölkerungsteile ausgeschlossen bleiben, ja im Extremfall verhungern. Märkte sind zudem zukunftsblind, d.h. sie berücksichtigen die Interessen zukünftiger Generationen nicht oder jedenfalls nur unzureichend, da diese heute noch nicht mit Nachfrage auf den Märkten wirken. Und schließlich: Märkte können kollektive Güter nicht (zureichend) bereitstellen. Kollektive Güter sind solche, die von dem Individuum, das für dieses Gut zahlt, das dieses Gut kauft, nicht je individuell konsumiert werden können. Kollektive Güter stehen allen oder jedenfalls einer größeren Gruppe von Personen zur Verfügung, unabhängig davon, ob sie dafür einen Preis entrichten oder nicht. Seit Elinor Ostrom ist dieses Defizit wieder stärker ins Bewusstsein nicht nur der ökonomischen Disziplin, sondern auch einer breiteren Öffentlichkeit gerückt. In den Untersuchungen, für die der Nobelpreis verliehen wurde, hat sich herausgestellt, dass es oft die kulturellen Bedingungen sind, die eine mehr oder weniger effiziente Bewirtschaftung kollektiver Güter in einer Gemeinschaft ermöglichen, die dann von diesem Gut profitiert. Vom einen Extrem eines kollektiven Gutes, das jeweils allen zur Verfügung steht, bis zum anderen Extrem eines Gutes, das jeweils nur demjenigen zur Verfügung steht, der dafür auch einen Preis entrichtet hat, gibt es ein breites Spektrum, das durch den Begriff der Gemeingüter charakterisiert ist. Märkte können auf sich gestellt Gemeingüter nicht bereitstellen.

Bis zur Lektüre von Michael Sandels neuem Werk „Was man für Geld nicht kaufen kann. Die moralischen Grenzen des Marktes“ habe ich die Überzeugung vertreten, dass ökonomische Märkte auch unter idealen Bedingungen genau diese drei Defekte aufweisen: verteilungsblind, zukunftsblind und unfähig, Gemeingüter bereitzustellen. Zwar war mir die schon lange anhaltende Kritik an der Kommodifizierung durch die Ausweitung ökonomischer Märkte durchaus präsent, aber ich hielt diese Problematik nicht für hinreichend zentral und unterstellte sogar ein gewisses Maß an anti-ökonomischem Affekt. Publikationen wie die von Viviane Forrester („L‘horreur économique“) oder jetzt kürzlich von Frank Schirrmacher („Ego: das Spiel des Lebens“) bestärkten mich in dieser Einschätzung (vgl. meine „Optimierungsfalle. Philosophie einer humanen Ökonomie“).

Nach der Lektüre dieses Buches muss ich meine These revidieren: Es sind nicht drei, sondern es sind vier systematische Defekte ökonomischer Märkte, die nur durch Moral, Kultur und Staat revidiert werden können. Die These, dass ökonomische Märkte nur dann mit einer humanen Gesellschaftsordnung vereinbar sind, wenn sie moralisch, kulturell und institutionell eingebettet bleiben, hat damit eine neue Dimension: Ökonomische Märkte müssen in ihrer Wirksamkeit beschränkt werden, um die Verwandlung von moralischen und kulturellen Werten in käufliche, ökonomische Güter zu unterbinden. Dabei wird die Grenzziehung immer umstritten bleiben und Gegenstand anhaltender kultureller Diskurse sein.

Adam Smith’ „unsichtbare Hand“ fügt keineswegs alles zum Besten

Michael Sandel gelingt es eindrücklich, an einer nicht enden wollenden Reihe von Beispielen die Problematik der Kommodifizierung, der Umwandlung von Werten und Normen in ökonomische Güter deutlich zu machen. Er tut dies in einer kraftvollen, aber zugleich vorsichtigen Weise. Kraftvoll, weil er die tieferen Gründe für unser Unbehagen offenlegt, vorsichtig, weil er vollständig darauf verzichtet, eine Theorie zu entwickeln, die jeweils angeben könnte, wann etwas zu einem ökonomischen Gut taugt und wann nicht. Michael Sandel bleibt insofern der kommunitaristischen Tradition treu, zu deren US-amerikanischen Gründervätern er seit seiner Kritik der „Theorie der Gerechtigkeit“ von John Rawls gehört (Liberalism and the Limits of Justice von 1982). Der Kommunitarismus ist bei aller Unterschiedlichkeit der politischen Positionierung, die von ziemlich weit links (etwa Michael Walzer mit Spheres of Justice) bis ziemlich weit rechts (etwa Alasdair McIntyre mit After Virtue) reichen kann, dadurch zusammengehalten, dass er universalistischen Theorien der Gerechtigkeit und individualistischen Konzeptionen des Guten misstraut. Es ist die Zugehörigkeit zu einer (kulturellen und sozialen) Gemeinschaft, die die moralische Identität von Individuen ausmacht und die Inhalte politischer Gerechtigkeit prägt.

Allerdings führt die kommunitaristische Kritik in ein Paradoxon, auf das mit besonderem Scharfsinn Amy Gutman hingewiesen hat: Die liberale Gesellschaft mit Rechtsstaatlichkeit, Markt und Freizügigkeit, Anerkennung individueller Rechte als Bürger und als Mensch, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Freiheit der Berufswahl und der Selbstschädigung etc. beruht auf einer gemeinschaftlichen (kommunitären) Praxis, einer kulturellen Identität, die zu kritisieren dem Kommunitarismus mangels externer (universalistischer) Kriterien versagt ist. Daran krankt auch dieses Buch: Es kann nur an die Intuitionen der Leserschaft appellieren, um den drohenden Wertverlust zu stoppen, aber nicht begründen, warum die Praxis des Marktes unrecht ist. Der Modus der Argumentation bleibt intuitionistisch.

Welche moralischen Ressourcen sind schützenswert?

Das Faszinierende an dem Buch von Michael Sandel ist, dass die einzelnen Argumente, die gegen ein Übermaß an Kommerzialisierung vorgebracht werden, empirisch durch zahlreiche Beispiele belegt sind. Die Studien, auf die sich der Autor bezieht, liegen dabei zum Teil viele Jahre oder Jahrzehnte zurück, auch die Argumente, die er entwickelt, sind in der Regel nicht neu. In dieser dichten, auch sprachlich überzeugenden Komposition lassen sie dem Leser keinen Ausweg: Der ökonomische Markt wirkt auf sich selbst gestellt zerstörerisch, er vernichtet Werte, Zugehörigkeiten und Motivationen, auf die wir nicht verzichten wollen. Die Bereitschaft, sich für das Gemeinwohl einzusetzen, geht zurück, wenn sie mit monetären Anreizen verbunden wird; Tugenden und Liebe, nach Ökonomen-Meinung kostbare und rare Güter, die man schonen sollte, indem man die Alltagspraxis, soweit es geht, auf dem Kalkül des Eigennutzes aufbaut, werden, wenn Michael Sandels Befund zutrifft, dadurch nicht geschont, sondern gefährdet. Liebe, Gemeinsinn, Wohlwollen sind Güter, die durch Gebrauch zunehmen und bei Nicht-Gebrauch verkümmern. Die Empfehlungen der Ökonomie, möglichst viele Interaktionen marktförmig zu gestalten, sind also weit davon entfernt, unsere moralischen Ressourcen zu schonen, sie lassen diese vielmehr erodieren. Das ist ein starkes und überzeugendes Argument. Was fehlt, ist eine Erläuterung, welche moralischen Ressourcen nun bewahrenswert sind und welche nicht. Die Freizügigkeit des ökonomischen Marktes mag den Widerwillen gegen abweichende Lebensformen mindern, aber das sollten wir nicht als Verlust einer moralischen Ressource beklagen. Wie unterscheiden wir diejenigen moralischen Bindungen, die bewahrenswert, von solchen die verzichtbar oder gar inhuman sind?

Theorielosigkeit als Programm

Aus philosophischer, aber auch aus ökonomischer Sicht irritiert es, dass an keiner Stelle der Versuch unternommen wird, die Kritik der Kommerzialisierung theoretisch zu untermauern, ethische Kriterien zu entwickeln, welche die Grenzen des ökonomischen Marktes bestimmen sollten. Wer Michael Sandels frühere Schriften kennt, konnte allerdings auch nichts anderes erwarten. Die Theorielosigkeit ist nicht nur bei Sandel, sondern bei vielen Kommunitaristen Programm. Die Stärke kommunitaristischer Sozialphilosophie ist ihr empirischer Reichtum, ihre erfahrungsgesättigte Klugheit, ihre Offenheit gegenüber der Vielfalt menschlicher Lebensformen, Praktiken und Kulturen. In ihr lebt der Geist des Aristoteles wieder auf und weist den Intellektualismus Platons und der zeitgenössischen ökonomischen Modellwelten mit Empathie und Aufmerksamkeit zurück. Die Lebenswelt kehrt so in die sozialphilosophische Reflexion zurück, allerdings um den Preis theoretischer Askese.

 

Michael J. Sandel: Was man für Geld nicht kaufen kann. Die moralischen Grenzen des Marktes; Ullstein Verlag; Berlin 2012; 295 S. 19,99 €; ISBN 978-3550080265


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Julian Nida-Rümelin

geb. 1954, Professor für Philosophie.

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