Biologie und Glaube

In Teil 2 der Serie „Physik, Gehirn und Glaube“ fragt sich Wolfgang Bachmann, was eigentlich Leben ist, wie es entstand und woher die menschliche Neigung zu metaphysischen Ausflügen stammt.


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serie: physik, gehirn & glaube
von Prof. Dr.-Ing. Wolfgang Bachmann

Teil 1: Religion und Wissenschaft:  Wie hängt dies zusammen, das Ich, das Gehirn, das Gemüt, der Verstand? Was unterscheidet uns vom Tier?
Teil 2:Einbruch der Wissenschaft in die ReligionBiologie ist die Wissenschaft vom Leben. Und „Leben“ ist ein wesentliches Anliegen der Religionen, wie auch der Naturwissenschaften.
Teil 3: Seelenverwaltung.
 Es gibt keine Religion, die sich nicht ausgiebig zum Thema „Seele“ festlegt. Auch die Psychiatrie hat dazu klare Vorstellungen. Die „Seele“, eine Vorstellung, die beim Verlöschen des Lebens in Existenznot gerät.
Teil 4: Technikfeindlichkeit und Glaubenssucht Wir brauchen Technik, können aber nur schwer deren ungewollte Nebenwirkungen akzeptieren. Was sind „Strahlen“? Für den glaubensbereiten Laien sind es magische, sehr schädliche Fernwirkungen.
Teil 5: Der Medizinmann kommt Wenn sich Technikangst paart mit übergroßer Sorge um die eigene Gesundheit, bleibt die Vernunft auf der Strecke. Hokuspokus, Schamanismus – alles soll uns kurieren, nur nicht die wissenschaftliche Medizin.
Teil 6: Zusammenfassung Religion, Macht und Ethik. Wie könnte es weitergehen?

 

In einem großen amerikanischen Wörterbuch (American Heritage), das durch Sorgfalt und Gründlichkeit auffällt, wird „Leben“ (engl. life) so definiert: „Leben – die Eigenschaft, die sich in Funktionsweisen wie Metabolismus, Wachstum, Reaktion auf Reizung, und Vermehrung zeigt, durch die alle lebenden Organismen sich von toten Organismen unterscheiden oder von unbelebter Materie.“

Leben ist erst in Teilen erkundet. Es fehlt noch der experimentelle Nachweis für tierisches Leben aus der Retorte.

Am klarsten ist noch die Biologie der Endpunkte, Zeugung und Tod. Das interessiert jeden. Auch ein großer Teil der Weltliteratur handelt von der Dramatik und häufigen Brutalität dieser Endpunkte. Außer Biologen und Belletristikern sind bei diesem Thema Bürgerprotestler, Religionsexegeten, Gesetzgeber und Ethiker beteiligt. So auch bei der folgenden Szene: Ein junges Mädchen geht mit seinem Hund spazieren und wird überfallen. Sie wird dabei schwanger und ihr Hund erblindet. Soll sie abtreiben dürfen? Soll sie den Hund einschläfern lassen? „Schutz des Lebens“ fordert die Zeitung und „Auch der Hund hat Lebensrecht, er kommt ins Tierheim“.

Hier prallen zwei unvereinbare ethische Prinzipien aufeinander. Priorität des Entwicklungspotentials (aus dem Embryo kann ein Mensch werden) oder des Entwicklungszustands (der Embryo hat noch keine menschlichen Qualitäten)?

Jedes Insekt ist komplexer entwickelt als der frühe Embryo. Mit welcher Legitimation sollen dem kaum sichtbaren Etwas Rechte eingeräumt werden? Gesinnungsethik gibt eine klare Antwort: Maßgeblich ist das Entwicklungspotential – unakzeptabel sind folglich jegliche Abtreibung, Verhütung (der Nidation), Präimplantations-Auslese. Gesinnung will über Freiheitsanspruch dominieren. Doch das Kriterium „Entwicklungspotential“ ist frag-würdig: Es überschreitet die Grenze zwischen Naturwissenschaft und Metaphysik, Religion.

Aus Sicht der Verantwortungsethik (Max Weber, 1919) ist beim Embryo eher der Entwicklungszustand zu würdigen. Damit öffnet sich die Tür zur Selbstverantwortung der werdenden Eltern, zur Verantwortung für die Lebensqualität des werdenden Menschen, auch zur Verantwortung angesichts der Überbevölkerung. Eugenik als Prinzip staatlicher Gewalt ist aus schmerzhafter historischer Erfahrung abzulehnen. Gilt dies auch für die Eltern? Eugenische Befugnisse der Eltern gegenüber ihren Embryonen?

Und was das Haustier betrifft, steht „Tierschutz“ hinter „Menschenschutz“ zurück: Die Überlebenschance des Haustiers ist den menschlichen Interessen unterstellt. Ist das Tier noch nützlich – als Gefährte? Als Nahrung? Als Arbeitsmaschine? Als Besitz? Tierschützer sehen dies anders. Doch können sie die Frage kaum beantworten, wie weit sich ihr Schutzgedanke auf der Skala der Tiergröße erstreckt – „Schützt die Maus? Schützt die Milbe? …“ Zweifel sind erlaubt.

Darf ein Tier gequält werden? Die emotionale Antwort, nein, drängt sich auf. Aber eine rationale Antwort ist viel schwerer. Vielleicht hilft es, nach dem Sinn menschlichen Lebens zu fragen. Besser noch: Was ist der Sinn der Menschheit auf diesem Planeten? Von außen ist uns kein Sinn gesetzt, doch die Evolution hat uns an die Spitze aller Lebewesen befördert – eine unbequeme Position, verlangt sie doch die Verantwortung für alles Lebendige um uns herum. Wenn es denn einen „Sinn“ geben soll, dann doch der, unseren Planeten in einen Garten Eden zu verwandeln. In diesem Garten wird Tierquälerei nicht geduldet.

Eine Empfehlung ohne Aussicht auf Gehör. Sie ist sinngemäß schon bekannt aus dem Alten Testament (Genesis), „Seid fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch und herrscht über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Land regen“, aber auch von unerwarteter Stimme aus dem 19ten Jahrhundert:

„Selbst eine ganze Gesellschaft, eine Nation, ja alle gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen, sind nicht Eigentümer der Erde. Sie sind nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer, und haben sie als gute Eltern den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen.“ (K. Marx, Kapital III)

Sieben Lebensstufen

„Leben“ ist eine System-Kategorie. Unter Einbeziehung der vorstehend genannten Zitate scheinen alle lebenden Systeme zu einer der folgenden 7 Qualitätsstufen des Lebens zu gehören:

1. Autonom – selbständige Handlungen
2. Metabolisch: wie 1. Dazu Konsum und Transformation von Energie und Material
3. Reproduktiv: wie 1… 2. Dazu Reproduktion, Reparatur
4. Mutagen: wie 1…3. Dazu leichte Variierbarkeit des Bauplans.
5. Zellulär: wie 1…4. Dazu aufgebaut aus gleichartigen Zellgruppen.
6. Wachsam: Wie 1…5. Dazu Situationsanalyse und – Reaktion.
7. Menschlich: Wie 1…6. Dazu Sprache, Schrift, Planung, Werkzeug.

Wir werden wohl eines Tages zu einer verantwortungsbewussten neuen ethischen Regelung finden müssen, die „Schutz der Menschheit vor Verelendung“ heißen wird. Das „Lebensrecht“ wird dann vielleicht abhängen von organisierten „Patenschaften“ – Leben, für das keiner Verantwortung übernehmen will, könnte seinen Schutz verlieren. Ein unheimliches Thema.

Das Buch des Lebens

Kurz gefasst – was ist also „DNS“? In der Sprache der Chemie klingt die Antwort so: Die „DNS“ – Desoxyribonukleinsäure (engl. DNA) – ist ein nicht-periodischer Polyester, zusammengefügt aus 3 einfachen Molekülbausteinen.

Das spiralig gewundene Superriesenmolekül „DNS“ stellt den biochemischen, digitalisierten Bauplan für die Eiweißsynthese dar.

Der spiralisch gewundene Rand der Doppelhelix-DNA besteht aus Phosphorsäure. Bei der Zellteilung spaltet sich der Strang längs der im Bild zu sehenden gestrichelten Linie: Aus der umgebenden „Suppe“ lagern sich passende Nukleotide an und komplettieren so jeweils eine neue Doppelhelix.

Schöpfungstheorie

Aus religiöser Sicht sind nicht nur Schmetterling oder Mensch, sondern die ganze milliardenschwere Vielfalt der lebenden Natur in einmaliger göttlicher Tat erzeugt worden („Schöpfung“ statt „Evolution“). Die Vermehrung der Nachkommenschaft beruht dann gegen das Wissen der Vererbungslehre auf Inzest und Inzucht.

Hier ein typisches Beispiel der Schöpfungs-Argumentation: „Niemand würde auch nur im Traum daran denken, die Konstruktion eines verhältnismäßig einfachen Objekts, wie das einer Hängebrücke, anders als dadurch zu erklären, dass er Intelligenz, Arbeit und Plan als hinter ihr verborgen voraussetzt. Wir erkennen augenblicklich, dass sie einige Intelligenz erforderte – sie entstand nicht einfach von selbst.“

Entstehung nach der Panspermia-Theorie

Etwas komplexer als die Schöpfungstheorie ist die „Panspermia-Theorie“: Leben kam auf die Erde durch Import von Sporen, Samen, Molekülen im Verlauf urzeitlicher Meteor-Einfänge.

„Es wird geschätzt, dass zwischen dem letzten großen Asteroideneinschlag und dem ersten Auftreten von Leben auf der Erde etwa 20 g/cm2 organisches Material aus dem Weltraum auf die Erde niederging.“

Unübersehbar ist aber der fatale logische Mangel: „Wie ist auf dem unbekannten fernen Planeten das Leben entstanden? Wieder durch Meteoreinfang …?“

Die Pasteur-Theorie. Leben aus Leben

„Leben“ entsteht in heutiger Zeit zwar nur noch aus „Leben“. Aber das ist wieder ein unendlicher Zirkelschluss (ursprünglich verfasst von Louis Pasteur: „Omne vivum e vivo“) – wie ist also das Leben entstanden, aus dem Leben entsteht? Aus Leben – und dieses wiederum?

Die komplizierteste der drei prinzipiellen Theorien der Entstehung des Lebens auf der Erde postuliert „Leben muss auf ganz natürliche Art entstanden sein.“ Noch handelt es sich um ein Rätsel, das bisher nur in Bruchstücken gelöst wurde.

Probleme der Evolutionstheorie

Nicht nur das Glauben ist schwieriger geworden. Auch die Berufung auf die Evolutionstheorie hat heute ihre Tücken. Evolutionstheorie ist für Physiker attraktiv. Doch es gibt bedenkenswerte Einwände, z. B. das Stochastik-Problem, das Korrelations-Problem oder das Zeit-Problem.

Evolution beruht auf stochastischen (=zufälligen) Bauplanänderungen mit darauffolgenden, evtl. möglichen Nischen-Eroberungen. Auf dem Weg von der Hypothese zum Gesetz ist Bewährung in reproduzierbaren Experimenten gefragt, sowie bestandene Falsifizierungsversuche. Doch die Evolution ist nicht reproduzierbar, es ist die Geschichte einer einmaligen Entwicklung. Immerhin könnte man ersatzweise diese Entwicklung nachstellen, simulieren. Ist es denkbar, dass diese Milliarden Jahre währende Entwicklung minutiös genau nachgestellt werden kann? Mit Berücksichtigung von 1 Milliarde mal 365 Wetterberichten? Und genauer Analyse sämtlicher Einschläge von Meteoriten? Die Kontinentaldriften nicht zu vergessen, oder die vielmaligen Wanderungen des magnetischen Nordpols und des Golfstroms? Kann dann aus dem Evolutionskonzept jemals eine überprüfbare Hypothese, gar ein Gesetz werden?

Zufall scheint nur ein anderes Wort für Ahnungslosigkeit zu sein. Wir werden immer ahnungslos bleiben bezüglich der Feinheiten des Evolutionsgeschehens.

An der Universität von Uppsala wurde an Fischen im Aquarium beobachtet, dass die Gehirngröße negativ korreliert mit der Darmlänge und mit der Reproduktionsrate, d. h. die „dümmeren“ Fische hatten bessere Reproduktionschancen! Was stören uns die Guppys in Uppsala? Bisher schien doch immer klar zu sein, dass die Zunahme des Gehirnvolumens und seines Detailreichtums genau das (rückblickend betrachtete) Ziel der Evolution war. Auffällig auch, dass die Neandertaler von vor 30.000–20.000 Jahren ein deutlich größeres Gehirn hatten als wir, der Homo sapiens. Also hat die Evolution schon den Rückwärtsgang eingeschaltet?

Wie lange könnte es gedauert haben, bis die Evolution durch trial-and-error (Würfeln) das menschliche Genom, genauer den DNA-Code mit mehr als einer Milliarde Elementen erwürfelt haben könnte?

Der Informationsgehalt I des Genoms, angegeben in MB („MegaBytes“) beträgt L/222, wenn L=Länge der DNA-Kette bei 4-wertiger Codierung, hier L=2.85 109, also I=680 MB. Jeder Mensch könnte also seinen gesamten „Bauplan“ auf einer 700-MB-CD speichern.

Wieviele verschiedene „Baupläne“ N sind möglich? Jeder will doch „anders“ sein als sein Nachbar. Kein Problem – es gibt mehr als genügend viele. Ja, es sind zuviele, N=4L=10 0.6 L = 10 1,7Mrd. Ein Beispiel von Quasi-Unendlichkeit.

Vielleicht hilft ein etwas anschaulicherer Vergleich: Die Oper „La Traviata“ von Giuseppe Verdi passt gerade auf eine Audio-CD von 700 MB. Die Evolution müsste durch blindes Erwürfeln von immer neuen CDs auch eben dieses Musikstück erzeugen können. Nochmaliges Würfeln des 680-MB-Codes könnte z. B. statt des erwünschten genetischen Codes 350 digitale Urlaubsfotos in bestimmter Sortierung wiedergeben, beim dritten Mal Würfeln könnten alle Bände von „Meyers Enzyklopädischem Lexikon“ oder die „Britannica“ herauskommen. Ein Buchstabe verändert wäre schon eine weitere Würfelrunde. Die Evolution hätte sehr lange würfeln müssen, Abermilliarden mal die Dauer des Universums!

Es muss bei der DNS-Entstehung ein ganz strenges, grundlegendes Selektionssystem obwaltet haben, welches das „Würfeln“ unsinniger Codesequenzen weitestgehend ausschließt. Aus scheinbarer Freiheit wird Lenkung, „Fügung“ – diesseitige.

Aus der großen genetischen Variationsbreite der Nachkommenschaft filtert eine entdeckte Nische die passende Genkombination heraus. Doch bei der Vererbung entsteht immer wieder die große Variationsbreite. Kann die Umwelt auf die Gene zurückwirken? Ein Regulator-Gen scheint entdeckt worden zu sein, das bestimmte angepasste Gene zu stabilen Gruppen zusammenfasst. Damit wäre eine extreme Einengung der quasi unendlichen Vielfalt genetischer Entwicklungsmöglichkeiten gegeben. Neue Hoffnung für eine modifizierte Naturtheorie der Entstehung des Lebens.

Glaube, Leben, Maschinen

Der Gläubige gewinnt Kraft aus der Vorstellung jenseitiger, ihm zugewandter Kräfte und einer Heilserwartung für nach dem Tode. Der Glaube kann Grundlage einer vorbildlichen, humanen Lebensführung sein, kann aber auch in menschenverachtenden Fanatismus ausarten. Gläubigkeit geht einher mit starker sozialer „Rückkopplung“ – umgeben von Gleich-Gläubigen wächst die Gewissheit, das richtige Weltbild zu haben. Metaphysik dominiert Physik.

Erst wurde die Erdscheibe zur Kugel, der Himmel, Sitz der Götter, verbog sich zu einer Schale. Dann schaute Neil Armstrong im erdnahen Himmel (1,2 Lichtsekunden) nach, „a giant step for mankind“, und das Hubble-Teleskop erkundete den erdfernen Himmel (10 Mrd. Lichtjahre). Isis und Osiris wurden abgelöst von Zeus und Hera, inzwischen wurden auch diese verbannt. Heute regieren Shiva, Jahwe, Allah und die christliche Dreieinigkeit. Doch der gestirnte Himmel über uns steht nicht mehr zur Verfügung. Glauben ist schwieriger geworden.

Gehirn und Automat – das Moravec-Experiment

Kann das Gehirn als Ganzes mit Digitaltechnik nachvollzogen werden? Der amerikanische Roboterentwickler Hans P. Moravec (Carnegy-Mellon-Universität) hat ein etwas drastisches, aber geistreiches Gedankenexperiment ersonnen:

Einem mit irreparablen Unfallschäden zerstörten menschlichen Körper wird das noch intakte Gehirn entnommen und in lebenserhaltender Flüssigkeit aufbewahrt. Alle sensorischen Verbindungen werden an einen Rechner angeschlossen. Das Gehirn in seinem Behälter erlebt eine virtuelle Realität. Es hat keine Möglichkeit und auch keinen Anlass, die Realität anzuzweifeln. Im nächsten Schritt werden nach und nach winzig kleine Gehirnteile durch Rechner ersetzt, in denen äquivalente Simulationsprogramme laufen. Die offenen Nervenschnittstellen der entnommenen Gehirnteile sind sauber über (heute noch nicht beherrschte) ultrafeine Kabelstecker an den Rechner angedockt. Damit kann das Ichbewusstsein, also die geistige Person des Unfallopfers, keine Veränderung bemerken. Nach und nach frisst sich der Austausch durch das ganze Gehirn. Am Ende „lebt“ die Person – immer noch völlig ahnungslos, fröhlich und ungestört, nur noch in Form eines Rechnerprogramms. Kein Gehirn mehr, keine Biologie.

Stimmt etwas nicht? Es muss schon beim ersten Schritt passiert sein, dem Austausch eines Stücks Hirn von der Größe eines Fliegenhirns. Was lief da falsch?

Gehirn und Menschenwürde

Die Menschenwürde beruht auf der Vorstellung der Erhabenheit des Menschen über alle anderen Lebewesen aufgrund seines freien Willens. Er kann sich entscheiden für Gut und Böse, und er ist dafür verantwortlich.

Doch dieses Konzept will so gar nicht passen zu den Schlussfolgerungen von MacLean, dessen seit den 60er Jahren propagiertes, stark vereinfachtes Gehirnmodell große Anerkennung gefunden hat: Danach zeigt das Gehirn des modernen Homo sapiens eine entwicklungsgeschichtliche Unterteilung in drei nacheinander hinzugekomme Strukturen („the triune brain“), bildlich ausgedrückt als „Reptil“, „Pferd“ und „Mensch“. Das „Reptil“ (hauptsächlich „Basalganglien“) steht für Instinktverhalten, wie Territorialität, Aggressivität, Dominanz. Das „Pferd“ („Paleomammalian complex“, „limbic system“) steuert Motivation, Fütterungsverhalten, Sozialverhalten. Die menschliche Gehirnstruktur („Neomammalian complex“, „Neocortex“ ermöglicht Planung, Modellierung, Erkenntnis, Abstraktion.

„MacLean hat gezeigt, daß das körperlich tieferstehende Limbische System, das die Gefühle kontrolliert, die höheren geistigen Funktionen überwältigen (hijack) kann, wenn es muß.“ (Kazlev,1999)

Gehirn und Religiosität – das Gott-Modul

Ohne Rückfrage bei Theologen, Philosophen oder Psychologen begründen jetzt respektlose Bioelektroniker ein neues interdisziplinäres Forschungsgebiet – „Neurotheologie“ (J. Grolle, 2002). Als erstes Ergebnis wurde das „Gott-Modul” lokalisiert. Die Schaltkreise des Parietal-Organs, welche für die räumliche Orientierung zuständig sind und die scharfe Grenze zwischen Innenwelt und Außenwelt markieren, müssen abgeschaltet sein. Die Front- und Schläfenlappen-Kreise, die die Zeit markieren und die Selbstwahrnehmung bewirken, müssen ausgeklinkt sein…” (Begley, Underwood, 2001)

Zum Erleben mystischer Erfahrungen, Erleuchtungen, Erscheinungen muss das Gehirn also in einen kritisch gestörten Zustand gebracht werden. Genau dies ist auch der Zweck von Meditation und Drogenkonsum. Erst bei abgeschalteten Kontrollinstanzen können traumhafte Bilder sich ungehindert als „Realität“ anbieten.

Es gibt heute bildgebende Verfahren zur Beobachtung der Gehirnaktivität am lebenden Menschen in noch nie dagewesener Feinheit (z. B. „MEG“=Magnetoenzephalographie). Nach dem „MEG”-Verfahren arbeitende „magnetische Kameras” können, durch die Schädeldecke hindurchsehend, Fotos der Hirnrinde erzeugen. Man erkennt wie auf einer Landkarte Bereiche („Module“?), die gerade aktiv sind. Das klingt sehr technisch, ist aber von himmelstürzender Tragweite: Ähnlich wie vor 500 Jahren die ersten Teleskope anfingen, den von Göttern bewohnten Weltraum freizulegen, beginnt jetzt die Bioelektronik, das Gehirn zu enträtseln, das Ich zu suchen, die Seele.

Die „Seele“ wird wohl am besten als Bewusstsein, Ichgefühl verstanden, dann ist diese natürlich materiell an das Zentralnervensystem, das Gehirn gebunden. Hat auch die Maus eine Seele? Und die Fliege? Schrumpft die Seele mit der Größe des Gehirns?

„Ein guter Anfang für eine solche Umkehr zur wahren Wissenschaft ist ‚Das Gott-Modul’, ein Teil des Gehirns, das gerühmt wird als ‚fest-verdrahtet um himmlische Stimmen zu hören’. Das Gott-Modul ist nicht nur wichtig, weil es beweist, dass Religion und Geist (spirituality) in biologischer Form im Menschen existieren.“

„Einige Schaltkreise des Gehirns müssen unterbrochen sein, um den Eindruck zu erzeugen, daß Zeit, Angst und Bewußtsein sich aufgelöst haben. Welche sind das? Es muß die Aktivität der Amygdala [„Mandelkern“, „Corpus amygdaloideum“, zum Limbischen System gehöriger Kern des Großhirns] gedämpft worden sein; sie überwacht die Umgebung nach Gefahren und registriert Angst.“

Gehirn und Übersinn

Der „unvernünftige Leerlauf des menschlichen Gehirns“ bestärkt eine gelegentlich aufkommende Empfindung der Unvollkommenheit gegenüber einer transzendenten Welt. Durch biologische Struktur vorgeprägt, scheint es sein Bild im Spiegel zu ahnen, scheint es zu fühlen, dass es weniger leistet als es sollte. Schon Karl Jaspers grübelte darüber:

„Transzendenz ist das Sein, das niemals Welt wird, aber das durch das Sein in der Welt gleichsam spricht.“

Lässt sich vielleicht der Begriff der „Überstruktur“ auf das Gehirn als Basiselement anwenden? Es ginge dann um eine Art von auf dieser Erde noch nie erprobtem, kommunikativem Zusammenschluss vieler Gehirne:

„In der Psychoszene hat als erster C.G. Jung jeden Menschen als ‚unbewußt vermischt mit anderen Individuen’ beschrieben und das Konzept des ‚kollektiven Unbewußten’ entwickelt.“

„Der Kommunikationsgedanke ist nicht Utopie, sondern Glaube. Es ist für jeden die Frage, ob er dahin drängt und ob er daran glaubt … an die Möglichkeit, durch dieses Miteinander die Wahrheit zu finden …“

Karl Jaspers scheint diese mögliche Erhebung des einzelnen Gehirns aus seiner biologischen Beengtheit durch externe Kommunikation (heute würde man eher „Vernetzung“ sagen) geahnt zu haben.

Eine ungeahnte höhere Welt könnte sich erschließen, deren geistige Dimensionen das Einzelgehirn nicht zu erfassen vermag. Vielleicht ist Religiosität nichts als das Mangelsyndrom des nicht realisierten Überstruktur-Gehirns, eines Kollektivgehirns von unvorstellbarer Dimension und Leistung – vielleicht das eigentliche transzendente Ereignis.


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Prof. Dr.-Ing. Wolfgang Bachmann

geb. 1939, AH VDSt Darmstadt, Hochschullehrer für Nachrichtentechnik, Autor des 400s. Lehrbuchs „Signalanalyse“, Vieweg Verlag 1992, als Erfinder genannt in über 50 Patentschriften, macht sich Gedanken, weit über die Grenzen der eigenen Fakultät hinaus.

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