Bismarck und Europa

Angela Merkel ist im Zuge der Schuldenkrise zur zentralen Figur aufgestiegen, zu „Europas heimlicher Königin“ oder, auch dieser Vergleich ist zu hören, zum Wiedergänger des eisernen Kanzlers Bismarck. Noch sind die Vergleiche halb scherzhaft; aber weist Bismarcks nationales Einigungswerk nicht Ähnlichkeiten auf zum europäischen von heute? Authari Lapp mit einem Rück- und Ausblick.


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berliner kongress 1878Der 18. Januar 1871 im Spiegelsaal zu Versailles, mit der Ausrufung von Preußens König Wilhelm zum „Deutschen Kaiser“, markiert eine Zeitenwende: Erstmals in der Geschichte entsteht ein deutscher Nationalstaat, das „Deutsche Reich“. (Das frühere „Heilige Römische Reich Deutscher Nation“ war ein supranationales Gebilde.)

Den Ausgangszeitpunkt für ein tieferes Verständnis von Deutschland als einer Nation könnte man dennoch sehr lange vor die Reichsgründung legen, zumindest zum Beginn der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts. In dieser Zeit hatte bereits das deutsche Bildungswesen ein sehr hohes Niveau erreicht, wenn es auch nur von einer relativ kleinen Schicht der Bevölkerung getragen wurde. Es war dies die Zeit, wo sich das Deutsche als Sprache einen Platz in der Literatur eroberte. Hier sind als Protagonisten unter vielen andern zu nennen: Winckelmann, Lessing und Herder, dazu dann die Dichter der „Sturm- und Drang“-Epoche in der Literatur, Goethe mit seinem „Götz“, Schiller mit „Don Carlos“.

Besonders Herder wies auf die Bedeutung der Sprache als Bindeglied für eine Nation hin.
Peter Watson erläutert das in seinem lesenswerten Buch „Der deutsche Genius“:
„Somit ergab sich für Herder, dass sich in einer Sprache immer auch die Geschichte und die Psychologie eines bestimmten gesellschaftlichen Erbes spiegeln, und (….) Sprache gibt ein Volk, eine Nation zu erkennen, und Sprache eint eine Gemeinschaft nicht nur, in ihr äußert sich auch deren Bewusstsein von der eigenen Verschiedenheit von anderen Sprachgemeinschaften. Dieser Theorie zufolge ist jedes Volk natürlicher Bestandteil der Humanität, nur ausgestattet mit einer eignen Sprache, die es denn auch als sein unverwechselbares und heiliges Gut bewahren muss. …“ Soweit Herder, zitiert nach Peter Watson.

Entwicklungen auf wirtschaftlichem und gesellschaftlichem Gebiet

Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts, hatten wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen begonnen, die sich mit der Reichsgründung beschleunigten:Schnelles Bevölkerungswachstum. Die Bevölkerung verdoppelte sich in wenigen Jahrzehnten.

  • Beginnende Industrialisierung. Das führte u. a. zum Bau von Eisenbahnen in allen deutschen Ländern, schließlich zum längsten und dichtesten Eisenbahnnetz der damaligen Welt.
  • Deutschland war zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein Agrarstaat, der alle industriellen Güter importieren musste. Langsam verwandelte sich Deutschland zu einem Industriestaat, der zum Wechsel vom 19. ins 20. Jahrhundert zur zweitgrößten Industrienation der Welt nach den USA wurde.

Dieser Wandel wurde wesentlich herbeigeführt durch den Aufwuchs der Wissenschaften, was wiederum eine Folge der Neuausrichtung der Universitäten war. Die von Wilhelm von Humboldt begründete Berliner Universität leistete hier Pionierarbeit. Sie wurde zum Prototyp für alle Universitäten, die im 19. Jahrhundert in der Welt gegründet wurden. Die von Humboldt verkündeten These von Zusammenwirken von Forschung und Lehre sowie der Freiheit der Lehre erwuchs im 19. Jahrhundert ein immenser Wissenszuwachs, der vor allem auch Deutschland und der deutschen Industrie und den Geisteswissenschaften zu Gute kam. Nicht ohne Grund erhielten deutsche Wissenschaftler in den ersten 50 Jahren der Nobelpreisverleihung die absolute Mehrheit aller Nobelpreise. Allein die Berliner Universität (von 1818 bis 1949: Friedrich-Wilhelm-Universität) stellte über 20 Nobelpreisträger auf allen Gebieten.

Holpriger Weg zur Reichsgründung auf politischem und militärischem Gebiet

In und vor den Kriegen zur Befreiung Preußens und Europas von der Diktatur Napoleons wirkten u. a. Dichter wie Ernst Moritz Arndt und der Philosoph Johann Gottlieb Fichte. Fichte war nicht nur der erste Rektor der heutigen Humboldt-Universität in Berlin. Er entwarf auch im Jahre 1807/08 die berühmten „Reden an die deutsche Nation“. Auch diese Reden hatten wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung von Ideen zu einem deutschen Nationalstaat.

Ebensolche Wirkung hatte auch der Aufruf des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. vom 17. März 1813: „An mein Volk und mein Kriegsheer“. Dieser Aufruf führte nicht nur zu allergrößten materiellen und persönlichen Opfern der Bevölkerung. Im Nachhinein wuchs auch der Wunsch der Menschen nach direkter Beteiligung an Politik und Weiterentwicklung des Staates.

Diese Wünsche des Volkes, vertreten durch Studenten, Gelehrte, Journalisten erfüllten sich jedoch nicht. In Gegenteil.

Die Restauration in Europa führte zurück zu den Verhältnissen, wie sie vor der französischen Revolution geherrscht hatten. Deutschland war und blieb von 1815 an für mehrere Jahrzehnte ein Staatenbund unter österreichischer Führung.

Wir alle kennen die vergeblichen Versuche in Deutschland, dieser Restauration entgegen zu wirken:

  • das Hambacher Fest von 1832,
  • die Revolutionen von 1830/48/50, deren Niederschlagung große Opfer beim Volk zur Folge hatte
  • der vergebliche Versuch der Demokratisierung unserer Nation mittels einer „Deutschen Nationalversammlung in Frankfurt“ 1848.

Erst als Folge mehrerer Kriege, von denen die letzten zwei (1864/66) für Preußen erfolgreich waren, erhielt Bismarck die Möglichkeit, zur Vereinigung der deutschen Länder. Bismarck musste dazu erst den machtgierigen französische Kaiser Napoleon III. in die Falle einer Kriegserklärung an Preußen locken, was er ja bekanntermaßen mit der sog. „Emser Depesche“ schaffte. Mit der Kriegserklärung durch Frankreich konnte Bismarck die deutschen Länder hinter sich scharen und den damals größten Gegner eines vereinten Deutschlands besiegen. Kurz vor der Niederringung Frankreichs, als deutsche Truppen schon Paris umzingelt hatten, wurde dann am 18. Januar 1871 in Versailles das „Deutsche Reich“ unter preußischer Führung ausgerufen.

Ich möchte daran erinnern, dass dieses neue Deutsche Reich in seiner Entstehung keine parlamentarische Legitimation durch das Volk hatte, sondern, dass es auf dem Willen der Könige und Fürsten beruhte, deren Gottesgnadentum wiederum ein fester Bestandteil der religiösen Überzeugungen Bismarcks war. Die Verfassung aber war die einer konstitutionellen Monarchie, viel demokratischer als damals die Verfassungen in den sogenannten demokratischen Ländern im Westen.

Folgen der Reichsgründung

In Folge der Reichsgründung gewann Deutschland einen ungeheuren Leistungs- und Machtzuwachs, der auf seiner großen Bevölkerung, der Wirtschaftsleistung, den wissenschaftlichen und kulturellen Leistungen und auch auf seinem militärischen Potential beruhte.

Deutschland bewältigte das unendliche Elend, das durch die Industrialisierung und die damit folgende Massenarbeitslosigkeit entstand am Ende durch eine für die damaligen Verhältnisse fortschrittliche und ausgewogene Sozialpolitik.

Deutschland wähnte daher, nach der Jahrhundertwende vom 19. ins 20. Jahrhundert, dass es sich nun mit jedem Land der Welt messen konnte. Auch die Wettbewerber sahen das so und schmiedeten Pläne, dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten.

Was war nun die Größe und die Leistung Bismarcks?

Die Leistung und die Größe Bismarcks bestand darin, dass er unglaubliche Hindernisse zu überwinden hatte, ehe er zu dem von ihm verfolgten Ziel kam:

  1. Bismarck musste den König von Preußen in vielen Einzelschritten dazu bringen, dass er sich der Verantwortung der Übernahme der deutschen Kaiserkrone unterwarf.
  2. Wilhelm I. hat erklärtermaßen unter der unnachgiebigen Führung durch den von ihm ernannten Kanzler gelitten.
  3. Bismarck musste den Widerstand des Wettbewerbers Österreich ausschalten. Österreich wollte selbst die Führung für eine Reichsgründung allerdings unter Einschluss seiner multinationalen Bevölkerung. Das wäre dann allerdings kein „deutsches“ Reich geworden.
  4. Bismarck musste den Widerstand aller andern großen europäischen Staaten überwinden: von Frankreich, Russland, Italien, Dänemark und teilweise auch den von Großbritannien.
  5. Bismarck musste die Landesherren in den deutschen Ländern für seine Idee gewinnen.
  6. Bismarck musste schließlich mit dem Widerstand des deutschen Bürgertums rechnen wegen der Reichseinigung „von oben“. Dieser Widerstand nahm aber ab mit den zunehmenden Erfolgen Bismarcks auf dem Weg zur Reichseinigung.

Was lehrt uns das Jahr 1871 für unsere Zeit?

Vergleichen wir unsere heutige Zeit mit dem Jahre 1871, so könnte man sagen: Europa befinden sich politisch und wirtschaftlich in einer Phase wie Deutschland unmittelbar vor der Reichsgründung.

  • Wie die deutschen Einigungsbestrebungen in und nach den Napoleonischen Kriegen. so hatte nach den verheerenden Verwüstungen des II. Weltkrieges, die Europaidee einen enormen Zuspruch bekommen. Entscheidend dabei war, dass in den ersten Stunden überragende Staatsmänner, u. a. De Gaulle und Adenauer, erkannten, dass die überkommenen Feindbilder überwunden werden mussten und Europa nicht über eine Hegemonie (das ist der Unterschied zu Bismarck) sondern nur über eine partnerschaftlich gemeinsame Führung auf den Weg gebracht werden kann. Immer stand dabei im Blickpunkt, dass Deutschlands natürliche Machtposition infolge seiner Größe nicht zu dessen ständigem Führungsanspruch in Europa führen durfte.
  • Europa heute ist eine freiwillige Vereinigung unabhängiger Staaten unter halbjährlich wechselnder Führung mit vor allem wirtschaftpolitischen Gemeinsamkeiten und nicht unerheblichen Sonderrechten der einzelnen Staaten, vor allem der selbständigen Außenvertretung.
  • In Krisenzeiten – so wie jetzt in der Finanzkrise oder vordem bei der Frage der Deutschen Wiedervereinigung – werden schnell die überkommenen Denkschemata reaktiviert: In Deutschland wird die Rückkehr zur D-Mark gefordert, in den andern Ländern wird die deutsche Übermacht als Schreckensszenario an die Wand gemalt.

Dabei wird in Deutschland gerne vergessen, dass wir als Exportnation abhängig sind von freien Warenflüssen, von dem freien Zufluss an wesentlichen Rohstoffen und Energieträgern, und von der Garantie des geistigen Eigentums (Patentrechte!). Deutschland alleine hätte in der globalisierten Welt nicht den Hauch einer Chance seine Interessen gegen rücksichtlose Wettbewerber zu verteidigen, wenn es nicht in einem starken Europa eingebunden wäre.

Die europäischen Partner andererseits dürften durchaus auch von Europa profitieren, sei es durch den freien Waren- und Personenverkehr, die Niederlassungsfreiheit, die gemeinsame Währung und eben auch den Schutz vor einem übermächtigen Deutschland infolge der europäischen Verträge.

Dazu kommt:

Europa zusammengenommen hat heute ein menschliches Potential von 500 Mio Menschen, ist damit deutlich größer als die USA mit ihren 350 Mio Menschen. Europa (der 27) hatte 2011 ein geschätztes Bruttoinlandsprodukt von 12,6 Billionen €, das größte der Welt und mehr als die USA, deren BIP für 2011 auf 11,3 Billionen € geschätzt wird. Europa befindet sich aber in einer schweren Finanzkrise, einem Wirtschaftskrieg, wie manche sagen. Es wird (scheinbar) angegriffen, bekämpft von Rating-Agenturen und Finanzhaien.

Europa steht vor der Entscheidung: Soll es sich nun angesichts dieser Krise fester zusammenschließen und die in Europa schlummernden Riesenpotentiale gemeinsam entfalten? Oder soll jedes Land versuchen, für sich allein das Beste aus der Situation zu machen?

Für mich gibt es auf Grund des oben Gesagten nur eine Lösung: Europa muss sich – gerade in und wegen der derzeitigen Krise – fester zusammenschließen. Es muss alle die mitnehmen, die den gemeinsamen Weg in Richtung einer weiteren Integration gehen wollen und muss die ungeheuren Ressourcen, die in Europa schlummern erschließen.


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Authari Lapp

geb. 1938, Brigadegeneral a. D., VDSt Berlin & Charlottenburg.

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