Brüssel, Lissabon und die anderen

Oft verrät ein Blick von außen viel über das Innenleben einer Organisation. EU-Europa hat eine ganze Reihe von Nachbarn mit verschiedenen Perspektiven. Sehr nah an der Union, halb eingebunden, aber doch mit distanziertem Blick sind die Schweizer. Eine Außenansicht.


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In einem historischen Schritt gründeten 1957 sechs Staaten den Vorläufer der Europäischen Union (EU). Im Laufe der Zeit stießen weitere Staaten zu diesem Bündnis, das die politische Integration seiner Mitgliedstaaten anstrebt. Sieben andere westliche europäische Staaten gründeten 1960 die Europäische Freihandelsassoziation (EFTA – „European Free Trade Association“), die sich auf wirtschaftliche Abstimmungen beschränkt. Im Vergleich zur EU bewahren sie eine größere nationale Autonomie. Die Mehrzahl von ihnen trat später aus der EFTA aus, um Mitglied der Europäischen Gemeinschaft bzw. EU zu werden. Durch das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum bilden seit 1994 beide Bündnisse – bis auf die Schweiz – einen gemeinsamen Binnenmarkt. Aufgrund der Größe der EU und ihrer engen (nicht nur) wirtschaftlichen Verbindungen zu den übrigen europäischen Staaten steigt der Druck auf letztere, EU-Regelungen in ihre nationale Gesetzgebung zu übernehmen. Formale Mitsprache bei der Gestaltung der Regelungen haben sie aber nicht.

Reform der europäischen WG

Gut ein Fünftel der Befragten in einer Umfrage in der Schweiz sehen in der EU nicht mehr als ein Prestigeprojekt der politischen Klasse. Das Bündnis mit seinen mächtigen Institutionen wird in der Regel mit übermäßiger Regulierung und Bürokratie in Verbindung gebracht. Mit Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon wird die politische Struktur der EU umgebaut. Entscheidungsprozesse sollen effizienter und die Parlamente durch mehr Mitbestimmung gestärkt werden. Für Nicht-EU-Mitgliedstaaten (sog. Drittstaaten) ergibt sich aus dem Vertrag eine größere personelle Kontinuität in den Beziehungen: Künftig wird die Vertretung der EU nach außen zentralisiert, indem der Vorsitzende des Europäischen Rates (Herman van Rompuy) und der Hohe Vertreter der Union für die Außen- und Sicherheitspolitik (Baronin Catherine Ashton) auf mehrere Jahre gewählt werden. Bislang wurden ihre Rollen von den zuständigen Regierungsmitgliedern desjenigen Landes wahrgenommen, das für jeweils ein halbes Jahr die Präsidentschaft innehat. Andererseits muss sich noch erweisen, wie die neuen Ämter mit den übernommenen Strukturen zusammenarbeiten werden. So zog bei der Besetzung der EU-Botschafterposten Ashton bereits den Unmut einiger Mitgliedstaaten auf sich, die sich ihres Einflusses auf die Personalentscheidungen beraubt sahen und ihr vorwerfen, die Entscheidung dem Kommissionspräsidenten Barroso überlassen zu haben.

Die neue EU-Telefonanlage

Der Hohe Vertreter hat direkten Kontakt zu den Regierungen der Mitgliedstaaten, da er dem Rat der Außenminister vorsitzt. Andererseits ist er Vizepräsident der Kommission und muss sich um ihre einheitliche Haltung gegenüber Drittstaaten bemühen, insbesondere bei Entwicklung, Erweiterung und Handel. Die Absicht ist, Kohärenz und Effizienz zu stärken, indem die strategische Planung und Aufsicht zentralisiert wird. Hierzu werden ihm der Europäische Auswärtige Dienst zur Seite und ein eigenes Budget zur Verfügung stehen. Dem Kommissionshaushalt muss aber das Europäische Parlament (EP) zustimmen.

Ferner muss das EP internationalen Abkommen zustimmen. Dass es die Vorlagen von Rat und Kommission nicht widerspruchslos abnickt, stellte es bereits beim SWIFT-Abkommen unter Beweis. Die mit der Abstimmung zusammenhängenden Prozesse werden komplexer werden, weswegen die Einflussnahme der Drittstaaten früher als bisher ansetzen muss. Besondere Rücksichtnahme auf die Belange einzelner Partnerstaaten werden die Parlamentarier weniger freigiebig gewähren als der zuvor zuständige, enger gefasste Personenkreis der Kommissare und Regierungschefs. Im Gegenteil ist zu erwarten, dass der Druck auf sie noch zunehmen wird, ihre Gesetzgebung an den Rechtsrahmen der EU („acquis communautaire“) anzugleichen. In diesem Zusammenhang müssen auch ihre Parlamente – wie die Parlamente der Mitgliedstaaten, die ein Einspruchsrecht erhalten – Kontakt zu den Vertretern der Kommission aufbauen und pflegen.

Bisher wurden einige Fragen im Ministerrat mit qualifizierter Mehrheit geklärt, manche Entscheidungen mussten einstimmig gefasst werden. Der Vertrag von Lissabon legt die qualifizierte Mehrheitsentscheidung als Normalfall fest, um die Handlungsfähigkeit der großen Runde zu erhalten. Doch damit geht den kleineren Mitgliedstaaten ihr wichtigstes politisches Druckmittel verloren, zumal durch die Besetzung der beiden Spitzenposten des Vorsitzenden des Europäischen Rates und des Hohen Repräsentanten mit bislang wenig einflussreichen Persönlichkeiten die faktische Macht der Regierungschefs der großen Mitgliedstaaten vermutlich gestärkt wurde. Außerdem werden die Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs künftig ohne direkte Beteiligung ihrer Außenminister nicht nur politische Leitlinien vorgeben, sondern auch Beschlüsse fassen dürfen. Nach außen wird der Eindruck verstärkt, bei der EU bestimmten wenige über Wohl und Wehe von vielen.

Zwischen Selbst- und Mitbestimmung

Der Vertrag von Lissabon hebt die Verschiedenheit der Kulturen in seinem Geltungsbereich hervor. Auf diese Weise wirkt er der Furcht vor Gleichmacherei entgegen. Die Sorge um ihre (formale) Autonomie der europäischen Drittstaaten rührt meist daraus, dass ihre Gesellschaften über lange Zeit von heftigen Umbrüchen wegen Krieg usw. verschont blieben. Sie fürchten, dass ihre innere Balance leidet und ihre spezifischen Gegebenheiten nicht genügend berücksichtigt werden, wenn sie sich übergeordneten Instanzen unterwerfen müssten. Den EU-Befürwortern in diesen Staaten spielt der Vertrag von Lissabon in die Hände, indem er die Möglichkeit eines Austritts aus der EU festschreibt. Somit wird ein „Ausprobieren“ der Mitgliedschaft möglich.

Die Integration innerhalb der EU wird fortschreiten. Künftige Vorgaben auf staatenübergreifender Ebene werden weitere Politikbereiche umfassen, z. B. ein europäisches Stromnetz, den Agrar- und Lebensmittelbereich, Gesundheitsvorsorge, Emissionshandel, Satellitennavigation (Galileo und EGNOS), technische Zusammenarbeit mit der Europäischen Verteidigungsagentur, Friedensförderung, Chemikalienverordnung REACH, Versicherungsabkommen usw. Mit der gewonnenen Handlungsfreiheit des Ministerrats beschleunigen sich die diesbezüglichen Gesetzgebungsprozesse. Auch wird die EU um weitere Staaten, z. B. auf dem Balkan, erweitert werden. Die Möglichkeit der Einflussnahme auf die auch von den Drittstaaten umzusetzenden Regelungen wird folglich immer wichtiger – beziehungsweise die Notwendigkeit, politische Netzwerke außerhalb Europas zu intensivieren.


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Jacek Walsdorfer

geb. 1979, Volkswirt und Statistiker, VDSt Halle-Wittenberg.

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