Der Jüngste Tag

2012 – erneut das Jahr des Weltuntergangs und Zeit für einen Blick zurück. Denn genau 50 Jahre nach der Kubakrise ist allgemein bekannt, dass im Kalten Krieg mehr als einmal die nukleare Apokalypse drohte. Doch trotz des glücklichen Ausgangs weiß heute praktisch jeder, wie der Jüngste Tag ausgesehen hätte: Der Atomkrieg ist erlebte Geschichte, Film-Geschichte geworden.


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Durch kein Medium wurde die Wahrnehmung des 20. Jahrhunderts derart geprägt wie durch den Film. Das Authentizitätsversprechen des fotografischen Aktes sowie die Einbindung historischer Vorgänge in eine sinnstiftende Erzählung ließen den Spielfilm zu einer wichtigen Quelle für das kollektive Gedächtnis werden. Das historische Ereignis wird hierbei nicht abgebildet, sondern es erlebt eine Art Wiederauferstehung, in die der Zuschauer sinnlich hineingezogen wird. Der Spielfilm funktioniert demnach als audiovisuelle Vergegenwärtigung des Vergangenen, das wie aus den Schatten des Hades emporsteigt. Hierbei erscheint es von ungleich höherer Bedeutung, die zugrundeliegenden ästhetischen und narrativen Mechanismen zu erforschen, als über den Realismus des Dargestellten zu debattieren. Denn selbst die kontrafaktischen, fiktionalen Schreckensvisionen einer nuklearen Apokalypse gehören ebenso zur Geschichte des Kalten Krieges wie die reale politische Zuspitzung während der Kubakrise.

Ein Riss durch die Welt

Bereits wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs prophezeiten Negativ-Utopien wie 1984 eine finstere Zukunft. Was in George Orwells Roman noch eine Radikalisierung der politischen Ideologien in einer bipolaren Welt war, wandelt sich schon in Helmut Käutners Filmkomödie DER APFEL IST AB (1948) zur buchstäblich weltzerstörenden Gefahr. In einer hochgradig symbolischen Sequenz im Himmelreich zerbricht Adam die noch im Bau befindliche Erde. Der notdürftig geflickte Globus weist einen glühenden Riss quer durch Europa auf, der weiteres Konfliktpotential verheißt. Noch war die Gefahr des Weltuntergangs eine bloße Vorahnung, doch es sollte nicht lange dauern, bis sich hieraus ganz konkrete Szenarien entwickelten: Als die Sowjetunion vor genau 50 Jahren Nuklearraketen nur wenige Seemeilen vor der amerikanischen Küste installierte, spitzte sich die Lage derart zu, dass der Einsatz von Atomwaffen unmittelbar drohte. Zwar konnten Geheimverhandlungen zwischen Kennedy und Chruschtschow die Eskalation der Kuba-Krise abwenden, die nukleare Vernichtung der Welt manifestierte sich in der Folge jedoch in zahlreichen fiktionalen Filmen. Vor allem Stanley Kubricks DR. STRANGELOVE OR: HOW I LEARNED TO STOP WORRYING AND LOVE THE BOMB (1964) bietet Aufschluss über die damalige gesellschaftliche Befindlichkeit und die Funktionsprinzipien öffentlich-medialer Kommunikation: Die durchaus ernstzunehmende politische Kritik tarnt sich unter dem Deckmantel der Komik, erscheint durch den bösen satirischen Erzählton jedoch umso wirkungsvoller. Begünstigt durch zahlreiche weitere Filme wurde die Auseinandersetzung zwischen den USA und der Sowjetunion so nachhaltig zu einem neuen Weltkrieg umgedeutet, dass der tatsächliche Waffengang wie in einem Drehbuch festgelegt schien. Auch die sich während des Vietnamkrieges vor allem in den USA, aber auch in Europa herausbildende Friedensbewegung nutzte dieses Potential, um starke Kritik an der Politik des atomaren Wettrüstens zu üben.

Die Rolle des Fernsehens

Die infolge des NATO-Doppelbeschlusses Anfang der achtziger Jahre beginnende Modernisierung der amerikanischen Atomwaffenbestände erhöhte nicht nur das Risiko eines Kriegsausbruchs, sondern öffnete auch die Augen für neue Gefahren: Filme wie WAR GAMES (1983) thematisierten mögliche Fehlfunktionen in der computergestützten, voll vernetzten Waffentechnik, die selbst zu einer Art Medium, dem Vorläufer des Internets, geworden war. Doch die Bedrohung durch einen Atomkrieg war mitnichten in digitale Sphären abzudrängen, sie war allgegenwärtig und wurde bereits seit den fünfziger Jahren über das Fernsehen kommuniziert. Die verharmlosenden Civil-Defense-Filme der fünfziger und sechziger Jahre waren noch immer in den Köpfen der Bürger präsent, und so erscheint es nur konsequent, dass nicht ein Kino-, sondern ein Fernsehfilm die größte Wirkungsmacht in der Darstellung eines Atomkriegs entfaltete. Ebenso eindrücklich wie einige Jahre zuvor Marvin J. Chomsky mit seiner Miniserie HOLOCAUST gelang es Nicholas Meyer mit THE DAY AFTER (1983), in die mediale Idylle des heimischen Wohnzimmers einzudringen und den Zuschauer nachhaltig zu verstören. Der Film dehnt die Ungeheuerlichkeit der realhistorischen Referenz Hiroshima auf ein globales Szenario aus. Die atomare Konfrontation zwischen den USA und der Sowjetunion wurde in der Folge derart häufig in den westlichen Medien thematisiert, dass sie wie ein reales Medienereignis wahrgenommen wurde. Die traumatisierende Wirkung von THE DAY AFTER und die hierdurch geprägten und bis heute bestehenden Vorstellungen von den Folgen eines Atomkriegs führen zu folgender These: Die medial prophezeite Eskalation des Kalten Krieges entwickelte sich vor allem aufgrund wirkungsvoller filmischer Darstellungen zu einer Konstante des Schreckens – einer möglichen Realität, die die Macht besaß, politische Diskurse einzuleiten und Entscheidungen internationaler Tragweite zu beeinflussen.

THE DAY AFTER – Die Apokalypse direkt vor der Haustür

Mit mehr als 100 Millionen Zuschauern allein in den USA ist THE DAY AFTER der erfolgreichste Fernsehfilm aller Zeiten. Hauptschauplatz ist die Kleinstadt Lawrence in der Nähe von Kansas City. Schon zu Beginn des Films ermöglichen bildliche und erzählerische Elemente dem Zuschauer eine Rezeptionshaltung, die der Filmwissenschaftler Roger Odin als „dokumentarisierende Lektüre“ beschreibt. So wird die Glaubwürdigkeit des Films nicht durch die Realität des Dargestellten, sondern den unausgesprochenen Realismus von Erzähler und Erzählweise, des Ausgangspunktes der filmischen Kommunikation, gesteigert. Zwar kennzeichnet eine dem Film vorangestellte Texttafel den fiktionalen Charakter, allein der Einsatz dieses Stilmittels, das in der Regel den Hinweis auf eine „wahre Begebenheit“ gibt, steigert jedoch paradoxerweise die Glaubwürdigkeit der dargestellten Ereignisse. Im gesamten Film verstärken darüber hinaus Einblendungen von Ortsbezeichnungen und der jeweiligen Entfernung zu Kansas-City den Authentizitätseffekt. Gleichzeitig spielen die Meilenangaben ganz konkret auf die mediale Berichterstattung über die Wirkung der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki an, in der immer wieder auf die Entfernung zum Ground Zero – dem Mittelpunkt der Explosion – als relative Größe eingegangen wird. Im Kontrast zu diesen schriftlich gegebenen Informationen beginnt die Spielhandlung mit einer collagenhaften Montage des amerikanischen Alltagslebens. Wie in einem Querschnittsfilm der zwanziger Jahre wird ein Panorama der Gegenwart gezeichnet: Fließende Luftaufnahmen machen den Zuschauer mit der Umgebung vertraut, im Gegenschnitt werden die alltäglichen Beschäftigungen der Bevölkerung präsentiert, und die pathetische „Western-Musik“ verankert die Handlung in den Gründungsmythen der amerikanischen Kultur.

Der Atomkrieg als fiktionales Medienereignis

Während der im ersten Teil des Films thematisierten Zuspitzung der internationalen Krise spielt vor allem die Simulation der modernen Mediengesellschaft eine zentrale Rolle. Der politische Konflikt wird in fiktiven, vom Bildschirm abgefilmten Fernsehnachrichten erläutert – demselben Format, mit dem der Zuschauer sich auch in Wirklichkeit über das Weltgeschehen informiert. Eine erste Verknüpfung zwischen dem Medienereignis und den individuellen Lebenswegen der Protagonisten wird durch die Darstellung der Medienrezeption vorgenommen. In dramatischen Zufahrten auf die Gesichter der Figuren wird die Bedeutungsschwere der im Fernsehen ausgestrahlten Schreckensmeldungen unterstrichen. Doch anders als bei der Kubakrise bleibt die Konfrontation in THE DAY AFTER nicht auf Fernsehberichte begrenzt. Den Start der amerikanischen Atomraketen erleben die Protagonisten mit eigenen Augen. Die bis dahin medial gebrochene Wahrnehmung der Krise wird so auf eine identifikatorische Distanz verkürzt. Die Montage von Archivbildern und Trickaufnahmen startender Interkontinentalraketen mit den entsetzten Reaktionen der fiktionalen Figuren verleiht den aus dokumentarischen Formaten bekannten Bildern eine ungeahnte Evidenz, sie deutet die theoretische Möglichkeit eines Atomkriegs zur realen Bedrohung um. Während des nuklearen Bombardements folgt die letzte Konsequenz. Durch den Abbruch der Fernsehübertragung verliert die moderne Mediengesellschaft ihre Souveränität über das Ereignis. Für die Protagonisten folgt auf die mediale und die optisch-akustische Wahrnehmung die physische Zerstörung. Selbst die filmische Aufnahmeapparatur scheint hiervon betroffen: Der Lichtblitz der Atombombe überfordert die fotochemische Beschaffenheit des Filmmaterials, das lediglich überstrahlendes Weiß abbildet. Zwischen dem Zuschauer und der umfassenden Zerstörung liegt nur noch die Oberfläche des Fernsehschirms. Das wirkliche Grauen folgt jedoch erst nach dem Spektakel. Die atomare Verseuchung der Welt wird durch eine allgegenwärtige Staubschicht und herabrieselnde Partikel angedeutet. Mit surrealen, entfärbten Bildern erhält die postapokalyptische Welt ihren gültigen Ausdruck. Nahaufnahmen von schweren Brandverletzungen nutzen das visuelle Schockmoment und läuten den körperlichen Verfall der Strahlenkranken ein. Die ausführliche Thematisierung der spätestens seit Hiroshima bekannten Symptome wie Ekzeme, Haarverlust, Erbrechen und spontane Blutungen war der eigentliche Tabubruch. Die hierzu verwendeten audiovisuellen Strategien wurden vielfach kopiert, so auch durch den britischen Zeichentrickfilm WHEN THE WIND BLOWS (1986), der das kurze Überleben und klägliche Krepieren eines sympathischen Rentnerehepaars nach einem Atomschlag zeigt.

Geschichtsfiktionen als Erlebnisschablonen

Die wiederholte filmische Darstellung der Folgen eines Atomkriegs erzeugte eine bildliche Präsenz, die auch angesichts realer Ereignisse wie der Terroranschläge vom 11. September 2001 abgerufen wird. Die Staub- und Rauchwolke, die New York noch tagelang nach dem Einsturz des World Trade Centers einhüllte, wurde unbewusst mit der filmischen Darstellung des atomaren Fallout, dieses ultimativen Zeichens für die Apokalypse, in Verbindung gebracht. Nur durch die Ähnlichkeit zu den fiktionalen Darstellungen des Atomkrieges lässt sich die langanhaltende Schockwirkung erklären. Das diesem Phänomen zugrundeliegende Prinzip ist einfach: Wie der amerikanische Psychologe Daniel Kahnemann erklärt, greift das erinnernde Selbst auf eigens komponierte Geschichten zurück, um die Eindrücke des erlebenden Selbst in einen Kontext einzubetten. Auch filmische Darstellungen werden auf diese Weise aus dem Gedächtnis aufgerufen. Der audiovisuelle Nachhall des Spielfilms nimmt demnach direkten Einfluss auf die Wahrnehmung des Weltgeschehens. Die gängige Praxis etwa von Nachrichtenmedien, auf ästhetische und narrative Strategien des Films zurückzugreifen, verstärkt die Verbindung von Fiktion und Realität in der kollektiven Wahrnehmung.


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Rasmus Greiner

geb. 1983, Dr. phil., Medienwissenschaftler, VDSt Marburg.

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