Der Chronist des kleinen Mannes

Klassiker wiederentdeckt: Der Regisseur Helmut Käutner war über Jahrzehnte eine führende Gestalt des deutschen Films. Mit dem Zeitgeist stand er dabei immer in Konflikt – und lieferte doch Zeugnisse seiner Zeit.


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„So viele Filme hat der gemacht!?“ – Fragend blickt der gepflegte alte Mann in die Kamera Marcel Neudecks, der in seiner ambitionierten Dokumentation „Wer ist Helmut Käutner?“ dem Lebensweg des 1980 verstorbenen Regisseurs nachspürt. Der Gesprächspartner Neudecks ist Artur Brauner, während der Aufnahme bereits 90 Jahre alt und einer der letzten großen Filmproduzenten Deutschlands. Brauner war eher entfernter Weggefährte als ein Freund Käutners. Trotzdem bot er ihm zu Zeiten der jungen Bundesrepublik immer wieder erfolgversprechende Engagements an, die der zehn Jahre ältere, schon lange etablierte Regisseur fast allesamt ablehnte. Die oftmals seichten Stoffe der fünfziger und sechziger Jahre interessierten ihn kaum, und dennoch sind es oftmals Filme wie „Die Zürcher Verlobung“ (1957), die den älteren Generationen in den Sinn kommen, wenn sie auf Käutner angesprochen werden. Mitunter erinnert sich der eine oder andere auch noch an grandiose Erfolge wie „Große Freiheit Nr. 7“ (1944) oder „Der Hauptmann von Köpenick“ (1956), doch dass der Regisseur immer wieder auch zeitkritische, vorsichtig politische Filme wagte, ist weitgehend unbekannt. Vielleicht, weil Käutner sich, wenn überhaupt, nur sehr leise über den Zustand der Gesellschaft äußerte. Vielleicht auch, weil politische Elemente in seinen Filmen stets formalistisch codiert, also in der Ästhetik verborgen waren.

Käutner und der Nationalsozialismus

Viel Kritik erntete der Regisseur nach Kriegsende für die Änderung seines Films „Auf Wiedersehen Franziska!“ (1941), in den er auf Drängen des Propagandaministeriums eine zusätzliche Sequenz eingefügt hatte. In dieser zieht der Protagonist, der sich gerade erst endgültig für ein kleinbürgerliches Leben mit seiner Frau entschieden hat, aus Vaterlandsliebe in den Krieg. Käutner konnte sich im nachhinein jedoch glaubhaft  von dieser Konzession distanzieren, indem er auf die Verwendung eines anderen Lichts und die Trennung der Sequenz vom Rest des Films durch Auf- und Abblenden verwies. Dass er überhaupt Zugeständnisse machte, ist sicherlich darauf zurückzuführen, dass der Regisseur bereits seine Erfahrungen mit dem Regime gemacht hatte. Seine Kabaretttruppe „Die Nachrichter“ wurde 1935 wegen der Beschäftigung eines „Nicht-Ariers“ ebenso verboten wie sein erster Spielfilm „Kitty und die Weltkonferenz“ (1939). Die darin vorkommende Figur eines sympathischen britischen Ministers war für das Propagandaministerium nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs nicht mehr tragbar. Doch Käutner blieb in Deutschland und arrangierte sich mit der nationalsozialistisch gelenkten Filmbranche. Er mied Stoffe, die in der Gegenwart spielten, so dass das einzige weitere Zugeständnis an das Propagandaministerium darin bestand, den Titel „Die große Freiheit“ mit dem Kürzel „Nr. 7“ zu versehen. Der Film wurde trotzdem innerhalb Deutschlands verboten, da Käutner darin einen für das Regime viel zu libertinen Lebensstil feierte. In den noch immer besetzten, ausländischen Gebieten durfte „Die große Freiheit Nr. 7“ jedoch aufgeführt werden, vermutlich um dringend benötigte Devisen in die Kriegskasse zu spülen. Auch andere Werke Käutners gerieten mit der nationalsozialistischen Zensur in Konflikt. Dem Melodram „Romanze in Moll“ wurde beispielsweise „Defaitismus“ vorgeworfen, „völlig zu Recht“, wie Klaus Völker konstatiert. Die kritischen Aussagepotentiale in Käutners Filmen waren jedoch tief mit der formal-ästhetischen Gestaltung verwoben. Der Nachweis unerwünschter Botschaften gestaltete sich hierdurch für die Zensur deutlich schwieriger. So vermittelte „Romanze in Moll“ zwar eine aussichtslose, von Melancholie geprägte Stimmung, übte jedoch keine konkretisierbare Kritik. Die hinter dieser Vorgehensweise steckende Vorsicht verhinderte in vielen Fällen das Verbot von Käutners Filmen.

(K)ein Neuanfang?

Auch die Nachkriegsfilme des Regisseurs sind von einer eher indirekten Artikulation gesellschaftlicher Missstände geprägt. Käutner war, wie Schauspielerin Margot Hielscher in Neudecks Dokumentation treffend beschreibt, in vielerlei Hinsicht „ein großes Kind“. Allerdings, so scheint es, war das große Kind „gut“ erzogen und wagte es nicht, sich über einen bestimmten Grad gegen seine „Eltern“ zu stellen. Was zur Zeit des Nationalsozialismus intelligent und überlebenswichtig war, wurde ihm später zum Verhängnis: Als politische Polemik wieder erlaubt war, hatte kaum jemand noch die Muße, nach scharfsinnigen Nuancen zu suchen. Mitunter zielten Käutners Filme auch thematisch in eine Richtung, die das Publikum missbilligte: Als die kriegsgebeutelte Bevölkerung am liebsten einen „Schlussstrich“ unter die Zeit des Nationalsozialismus gezogen hätte, thematisierte er in seinem Episodenfilm „In jenen Tagen“ (1947) rückblickend die Stationen des Terrors im „Dritten Reich“. Käutner erzählt hierzu episodenhaft die zwölfjährige „Lebensgeschichte“ eines Autos. Dabei werden vor allem die Opfer der Diktatur in den Fokus gerückt: Zu den Besitzern des Fahrzeugs zählten ein politischer Gegner, der am Abend des 30. Januar 1933 emigrieren muss; ein Komponist, dessen Werke verboten werden; ein einseitig jüdisches Ehepaar, das kurz nach der Reichspogromnacht Selbstmord begeht, und eine alte Dame, die in Sippenhaft gerät, weil ihr Sohn am Attentat vom 20. Juli 1944 beteiligt war. Anhand individueller Schicksale beleuchtet Käutner die öffentlich sichtbaren Etappen des Unrechts, deren Kenntnis viele Deutsche gern geleugnet hätten. Für den deutschen Film forderte der Regisseur gar die „Demontage der Traumfabrik“. Nicht mehr das Fantastische, sondern „die Probleme des deutschen Gestern, des deutschen Heute und des deutschen Morgen“ sollten verhandelt werden. Gleichzeitig ahnte Käutner jedoch schon, dass das Publikum eher nach Ablenkung suchte. Seine Bestrebungen, etwas Neues zu schaffen, verpufften im Misserfolg, so dass er immer wieder gezwungen war, auch „konventionelle“ Filme zu drehen.

Deutsche Teilung und Wirtschaftswunder

In einer Hinsicht blieb sich Käutner jedoch stets treu: Immer bewegten sich seine Filme „quer“ zu ihrer Zeit, immer widersprachen sie in gewisser Weise der aktuellen Strömung. Als Adenauer den Kurs der jungen Bundesrepublik Richtung Westen setzte, blickte Käutner nach Osten und lieferte mit „Himmel ohne Sterne“ (1955) gleichsam den ersten Film, der die deutsche Teilung thematisiert: Eine junge Mutter, die sich in der DDR um ihre gebrechlichen Eltern kümmert, überquert immer wieder illegal die innerdeutsche Grenze, um ihren Sohn bei den Schwiegereltern in der Bundesrepublik zu besuchen. Die politische Brisanz des Films entsteht vor allem durch die genaue Beobachtung: Nur sechs Jahre nach der Gründung der beiden deutschen Staaten sind die gegenseitigen Vorurteile schon tief in den Köpfen der Figuren verwurzelt. Sechs Jahre vor dem Bau der Berliner Mauer wird in Käutners Film schon an der innerdeutschen Grenze auf Flüchtlinge geschossen. Nicht große Ereignisse, sondern die Lebenssituation einfacher Leute spielt die Hauptrolle. So auch einige Jahre später in „Schwarzer Kies“ (1961): Als in einem kleinen Dorf eine amerikanische Militärbasis errichtet werden soll, möchte jeder einzelne daran mitverdienen. Doch der Schwarzhandel mit den Bauunternehmen lässt den Protagonisten in die Skrupellosigkeit abrutschen. Geldgier, soziale Kälte und Rücksichtslosigkeit sind die bestimmenden Themen, mit denen Käutner die Schattenseite des Wirtschaftswunders charakterisiert, und die heute aktueller denn je sind. Wie „Himmel ohne Sterne“ oder auch „Der Rest ist Schweigen“ (1959), in dem der Regisseur die Verstrickungen von Industrie und nationalsozialistischer Führung thematisiert, wurde „Schwarzer Kies“ weit unter Wert gehandelt. Käutners pessimistische Visionen kamen zu früh, als dass ihm die westdeutsche Aufbau-Gesellschaft zugehört hätte. Gleichzeitig wollten die „Oberhausener“, eine Gruppe namhafter junger Regisseure, die sich die Erneuerung des deutschen Films zur Aufgabe gemacht hatten, nichts mit ihm zu tun haben, da er bereits zur Zeit des Nationalsozialismus tätig war. Die Zeit hat Käutner um seine größten Erfolge betrogen. Dass ihm dies bewusst war, zeigt folgender Kommentar:  „Zuerst war ich immer das Enfant terrible und plötzlich der Papa von Opas Kino. In der Mitte war ich nie.“

Dichtung und Wahrheit

Der individuelle Stil Käutners wird oft mit der Strömung des „magischen Realismus“, der Verschmelzung von Wirklichkeit und Träumen, in Zusammenhang gebracht. Eine starke, bildhafte Symbolik und die häufig auftretende Erzählerstimme aus dem Off sorgen für eine Poetisierung, eine künstlerische Brechung der realitätsnahen Geschichten. Aus dieser Vorgehensweise resultiert jedoch eine gewisse Distanz zur Wirklichkeit, da der Zuschauer die formalen filmischen Codes erst dechiffrieren muss. Artur Brauner kritisiert in Neudecks Dokumentation, dass Käutner nach dem Krieg keine Filme mehr gelungen seien, die den Zuschauer zum Weinen gebracht hätten. Die Verwendung einer formalistischen Meta-Ebene hatte demzufolge eine Entfremdung von der Realitätswahrnehmung des Zuschauers zur Folge. Erst mit größerem zeitlichen Abstand wird sichtbar, wie treffend der Regisseur damit die damaligen Verhältnisse beschrieben hat. Die großen Ambivalenzen der deutschen Nachkriegsgeschichte, Erinnerung und Neubeginn, Wohlstand und soziale Kälte sind in Käutners weitgehend unbekannte Werke zwischen Trümmerjahren und Wirtschaftswunder eingeschrieben. Besonders heute lohnt sich ein Blick auf diese Filme, denn gerade weil sie ihrer Epoche entgegenstrebten, wurden sie zu Zeugnissen ihrer Zeit.


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Rasmus Greiner

geb. 1983, Dr. phil., Medienwissenschaftler, VDSt Marburg.

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