Der Sinn der Politik ist Freiheit

Das Leben ist immer ein Leben mit anderen. Der Mensch ist ein „zoon politikon“, ein „staatsentwickelndes Tier“, wie Aristoteles formulierte. Er bedarf zu seiner Vervollkommnung der Gemeinschaft mit anderen Menschen. Die Frage ist nicht, wie uns heute im Zeitalter des begrenzungslosen Individualismus (und Egoismus) eingehämmert wird: Wie soll ich leben? Sondern: Wie sollen wir leben?


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Für Hannah Arendt (1906–1975), die jüdische, deutsch-amerikanische Publizistin und Gelehrte, war diese Einsicht des Aristoteles selbstverständliches Motto des Denkens wie des Lebens. Das Leben, das echte, nicht das nur gedachte, lehrte sie. Ihr erstes großes Buch „The Origins of Totalitarianism“ (1951) war eine ungemein anregende und sehr persönlich getönte Untersuchung der totalitären Schreckensherrschaft, der so viele Menschen zum Opfer gefallen waren, der sie und ihr Mann Heinrich Blücher jedoch mit Glück entkommen konnten.

„Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!“ hatte Bertolt Brecht 1939 gedichtet. Hannah Arendt hat, indem sie den Satz in „Wir leben in finsteren Zeiten!“ erweiterte, den Blick auf die Gesellschaft gerichtet und die Bedingungen untersucht, die das Böse möglich machten. Am Anfang steht das melancholische Eingeständnis, dass alle abendländische Kultur und Tradition das Böse nicht abwehren konnte. Die Tradition hatte keinen Halt geboten. Franz Kafka hatte in einem berühmten Aphorismus diese Bedingung ironisch formuliert: „Der Geist wird erst frei, wenn er aufhört, Halt zu sein.“ Das ist kein Plädoyer für Haltlosigkeit, wie es konservative Kulturkritik oft glaubte, erkennen zu müssen, sondern die Aufforderung, ohne Stock und Wegweiser selbst zu gehen. „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ hatte Kant das genannt.

Hannah Arendt beginnt da, wo alles Leben beginnt. Es ist das Glück des Neuanfangs, ein Geschenk. Der Mensch wird geboren, tritt in die Welt, gesellt sich zu andern. Keine Ideologie, kein Glaube kann verhindern, dass es immer wieder einen neuen Anfang gibt. Jeder Neuanfang eröffnet die Chance, neu zu handeln. Diese Möglichkeit kann dem Menschen nicht genommen werden, sie ist sein Glück. Gemeinsam handeln eröffnet die Chance der Freiheit: „Alle Freiheit liegt in diesem Anfangenkönnen beschlossen. Über den Anfang hat keine zwangsläufige Argumentation je Gewalt, weil er aus keiner logischen Kette je ableitbar ist“, sagt Hannah Arendt.

Es ist die republikanische Idee des freiheitlichen Neuanfangs. Die Geschichte kennt, zum Glück, Beispiele des Gelingens: die athenische Polis, die amerikanische Verfassung. Hannah Arendts Denken lässt sich in einem Satz zusammenfassen: „Der Sinn der Politik ist Freiheit.“

Kurt Sontheimers Buch „Hannah Arendt“, das letzte des früh verstorbenen Münchner Politikwissenschaftlers, richtet sich an ein akademisches Publikum, nicht an Fachwissenschaftler, und will „orientieren“. Herausgekommen ist viel mehr. Sontheimer sichtet, bewertet (und verwirft manche) gängige Arendt-Interpretationen, um einen unverstellten Blick auf Leben und Werk Hannah Arendts zu ermöglichen. Auch hier Notwendigkeit eines Neuanfangs. Angelsächsisch in Ton und Haltung: eine klügere und zugleich menschlich wärmere Einführung lässt sich kaum denken. Man muss nichts von Hannah Arendt gelesen haben, der Leser sieht sich geleitet, gleichzeitig spricht Hannah Arendt in ihrem Denken unverstellt zu ihm.

Sontheimer zeichnet ein Lebensbild Hannah Arendts. Geboren ist sie 1906 bei Hannover, wohin die Familie, der Vater ist Ingenieur, von Königsberg/Ostpreußen gezogen war. Als der Vater schwer erkrankt, kehrt die Familie nach Königsberg zurück. Hannah Arendt ist sieben Jahre alt, als der Vater stirbt, sie wird in freiheitlichem Sinn sorgsam von der Mutter erzogen, die Mutter hat einen großen Einfluss auf ihre Entwicklung.

In den gebildeten Kreisen Königsbergs, in denen sie aufwächst, ist die Mädchenbildung selbstverständlich. Durch die Großeltern hat sie das liberale Reformjudentum kennen gelernt. Sie gehört keiner religiösen Gemeinschaft an, versteht sich jedoch immer als Jüdin. Hannah Arendt gehört einer Schicht an, dem gehobenen deutschen Bürgertum, in das sich die deutschen Juden assimiliert hatten. Aufgrund ihrer Leistungen glauben sie, gerade in der Weimarer Republik, als Teil dieses Bürgertums ohne Vorbehalte anerkannt zu werden.

Schon vor dem Abitur, das sie 1924 ablegt, lernt Hannah Arendt die Universität kennen. Sie beschließt Philosophie (Nebenfächer Griechisch und evangelische Theologie) zu studieren, immatrikuliert sich in Marburg, lernt den jungen Dozenten Martin Heidegger kennen und – lieben. Da das Verhältnis in der gemütlichen Kleinstadt nicht zu verheimlichen gewesen wäre, entschließt sie sich, nach Freiburg zu wechseln. Heidegger wurde und blieb bestimmend für ihr Leben wie für ihr Denken.

Von Freiburg wechselt sie nach Heidelberg, um Karl Jaspers zu hören. Bei ihm promoviert sie im Alter von 22 Jahren in Philosophie über das Thema „Der Liebesbegriff bei Augustin“. Es ist das Jahr 1928, und auch Hannah Arendt konnte nicht verborgen bleiben, dass sich bedrohliche Veränderungen in der Gesellschaft abzeichneten. Hatte sie bisher sich in die Philosophie und den geistigen Anregungen der Universität versenkt, so brachten es die Umstände mit sich, dass sie sich, angesichts des um sich greifenden radikalen Antisemitismus der nationalsozialistischen Massenbewegung, immer mehr bewusst wurde, dass sie Jüdin war. Hannah Arendt suchte Vergleichbares in der deutschen Geschichte. Ihr nächstes Buch galt Rahel Varnhagen (1771–1833), die einen beispielhaften Kampf für jüdische Selbstbehauptung und Selbstbestimmung in Preußen geführt hatte; der Titel: „Über das Problem der deutsch-jüdischen Assimilation“. In diese Zeit fällt auch ihre erste Eheschließung. Sie lernt Günther Stern kennen, der ebenfalls Philosophie in Heidelberg studiert hatte, und heiratet ihn. Günther Stern sollte als Günther Anders ein vielbeachteter Autor der Nachkriegszeit werden. Aus der Philosophin ist inzwischen die politische Denkerin geworden. Die Bedingungen der Freiheit sind ihr Lebensthema.

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten trennt sich das Ehepaar. Günther Stern geht nach Paris, Hannah Arendt bleibt zunächst in Berlin, um eine Dokumentation antisemitischer Propaganda abzuschließen, was ihr ein paar Tage Gefängnis einbringt. Nach dieser Erfahrung flieht sie über Prag und Genf nach Paris. Sie ist inzwischen überzeugt, dass die Nationalsozialisten versuchen werden, ihre Propaganda in die Tat umzusetzen. Dies bringt sie in Kontakt mit dem Zionismus und zum Entschluss, „in die praktische Arbeit“ zu gehen.

In Paris arbeitet sie für dieses Ziel unter ärmlichen Verhältnissen, zeitweise mit ihrem Mann. Doch als Günther Stern 1936 in die USA übersiedelt, ist auch die Ehe am Ende, sie wird 1937 geschieden. Sie lernt Heinrich Blücher kennen, den sie Anfang 1940 heiratet. Hannah Arendt arbeitet wissenschaftlich über den Antisemitismus; praktisch für den Zionismus. Als der Krieg ausgebrochen war, wird sie 1940 im südfranzösischen Lager Gurs nahe der spanischen Grenze als „feindliche Ausländerin“ interniert. Nach dem Zusammenbruch Frankreichs gelingt es ihr, über Spanien nach Portugal zu fliehen. Im Mai 1941 kann sie mit ihrem Mann in die Vereinigten Staaten ausreisen.

Das Schwergewicht der Darstellung Sontheimers liegt auf Hannah Arendts Werdegang als politischer Schriftstellerin. Nach dem Totalitarismus-Buch folgt eine Phase intensiver Arbeit am Politischen. Bedeutende Aufsätze erscheinen in führenden amerikanischen Zeitschriften. 1958, folgt „The Human Condition“, 1963 „On Revolution“. Damit hat sie sich als politische Denkerin einen Namen gemacht. Dann kommt der Eichmann-Prozess und der Skandal. Hannah Arendts Berichterstattung über den Eichmann-Prozess kostet ihr gerade in der jüdischen Welt einen großen Teil der Anerkennung, die sie sich als Intellektuelle über Jahre erworben hat. Arendts Wort von der „Banalität des Bösen“ habe nun nicht mehr jenen polemischen Beiklang, der ihm seit den frühen 1960er Jahren unterstellt worden sei, sagt Sontheimer, was sehr versöhnlich klingt. „Viel Verehrung, viel Anerkennung, eine Inthronisierung der Philosophin als geistiges und politisches Vorbild“, befindet der Rezensent der Zürcher Zeitung.

Sontheimer stellt in seinem Buch über Hannah Arendt die Totalitarismuserfahrung in den Mittelpunkt. Nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts nicht nur verständlich, sondern geboten. Er kehrt glücklicherweise das übliche Verfahren der Ideengeschichte um, worin er Hannah Arendt folgt, wie der Rezensent der Süddeutschen Zeitung zustimmend anmerkt: Nicht das Werk ist größer als der Mensch, sagte sie, sondern man kann „ein Wesen spüren, das größer und geheimnisvoller bleibt, weil das Werk selbst auf eine dahinter befindliche Person zeigt“ – die „Intensität, Tiefe, Leidenschaftlichkeit der Existenz selbst“.

Die großen Bücher und die politischen Essays werden mit Liebe und Sorgfalt vorgestellt, die Briefwechsel, vielleicht das Schönste, was sie (in klassisch-romantischer deutscher Tradition) geschrieben hat, als eigenständiger Teil des Werkes erkannt. Die intensive Liebes- und Gesprächsgemeinschaft mit ihrem Mann Heinrich Blücher war viel wichtiger als die alle Aufmerksamkeit auf sich ziehende Beziehung zu Heidegger: „Mit Heinrich im Rücken kann mir gar nichts passieren“, sagt sie, scheinbar beiläufig gesprochen, dabei von nichts weniger als Treue redend. Das Wort verdient Aufmerksamkeit.

Hannah Arendts Verständnis von Treue ist ein Punkt in ihrer Biographie, der manche ältere wie jüngere Kritiker bis heute umtreibt. Dass Hannah Arendt nach dem Krieg den Kontakt zu Martin Heidegger wieder suchte, scheint alle Grenzen des Gebotenen zu verletzen.

Hannah Arendt besucht 1950 ihren ehemaligen Lehrer und Geliebten Martin Heidegger, obwohl dieser durch sein Verhalten im Dritten Reich vollkommen diskreditiert war. Den berühmten Philosophen und NS-Karrieristen hatte sie in einem Brief an Karl Jaspers 1946 „einen potentiellen Mörder“ genannt; sie machte sich keine Illusionen. Und doch schreibt sie nach dem Besuch bei Heidegger an diesen, dass ein „gnädiger Zwang“ sie davor bewahrt habe, „die einzig wirklich unverzeihliche Untreue zu begehen“, d. h. den Kontakt zu Heidegger nicht mehr aufzunehmen. Sucht man eine Erklärung für dieses Verhalten, das der political correctness zuwiderläuft und unfreundliche, nicht selten amateurpsychologische Interpretationen hervorruft, so kommt man um die Erkenntnis nicht herum, dass Hannah Arendt Martin Heidegger durch Treue verbunden blieb, eine Treue, die so sehr zu ihrer eigenen Identität gehört, dass der Verrat dieser Treue ihr Selbst beschädigt hätte. Berthold Franke hat im Merkur in dem sehr lesenswerten Essay „Über Treue“ diese Verbindung erklärt und auch auf den viel missbrauchten Begriff und der herablassend-belächelten Tugend der Treue ein neues Licht geworfen. Treuebindungen sind persönlich-geistige Bindungen, jenseits rational begründeter Entscheidungen. Sie entbinden Kräfte des Denkens, auch wenn der inhaltliche Bezug der Treue schärfster Kritik ausgesetzt werden muss. Gerade Horkheimer/Adorno, die Erfinder der Kritischen Theorie, haben auf die Pathologien hingewiesen, die in westlich-modernen Gesellschaften entstehen, die glauben, ohne Treuebindungen auskommen zu können. „Treue wirkt, wir alle leben von und mit unseren Treuebeziehungen“ (Franke). Treuebeziehungen, auch wenn ihr Hintergrund zweifelhaft geworden ist, und das kommt nicht so selten vor, wirken als Ferment und Korrektiv im Prozess der Aufklärung, die ihre Grenzen begreift. Doch einfache Lösungen sind versperrt: Hinter die Aufklärung werden wir nie zurückgehen können. Aber wir sind nicht ungeleitet: die deutsche Sprache hält Warnungen bereit: Führertreue, Markentreue, treudoof. – Fürwahr, ein weites Feld, sind wir versucht, mit Theodor Fontane auszurufen. Wo der Romancier des alten Preußen seinen Leser, skeptisch lächelnd, sich selbst überlässt, muss die jüdische Preußin Hannah Arendt neu beginnen, nachdem dieses alte Preußen und Deutschland nicht zuletzt daran zugrunde gegangen ist, dass die Deutschen in Zeiten der Krise sich nicht unter der Maxime zusammenfinden konnten: „Der Sinn der Politik ist Freiheit.“

 

Kurt Sontheimer: Hannah Arendt. Der Weg einer großen Denkerin. Piper Verlag, München/Zürich 2005. 293 Seiten.

Die wichtigsten Bücher von Hannah Arendt:

  •     Der Liebesbegriff bei Augustin. Versuch einer philosophischen Interpretation. Berlin 1929, Neuausgabe Philo Verlagsges., Berlin und Wien 2003., Frankfurt a. M., 1955); 10. Aufl. Piper, München 2003.
  •     Über den Totalitarismus. Texte Hannah Arendts aus den Jahren 1951 und 1953 (Vorwort u. abschließende Bemerkungen zur 1. Aufl. von The Origins of Totalitarism u. Kontroverse mit Eric Voegelin), Übers. Ursula Ludz, Kommentar Ingeborg Nordmann. Hannah-Arendt-Institut, Dresden 1998.
  •     Rahel Varnhagen: The Life of a Jewess. London 1958, dt. Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik. Piper, München 1959.
  •     The Human Condition. University Press, Chicago 1958, dt. Vita activa oder vom tätigen Leben, Kohlhammer, Stuttgart 1960.
  •     Eichmann in Jerusalem: A Report on the Banality of Evil. New York 1963, dt. Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Piper, München 1964.
  •     On Revolution. New York 1963, dt. Über die Revolution. Piper, München 1963.
  •     Some Questions of Moral Philosophy 1965, dt. Einige Fragen der Ethik. Vorlesung in vier Teilen. In: Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, Piper, München, 2006.
  •     On Violence. New York, London 1970, dt. Macht und Gewalt, Piper, München 1970.
  •     Lectures on Kant’s Political Philosophy. Chicago 1982, dt. Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie, Piper, München 1985.
  •     The Life of the Mind. New York 1978, dt. Vom Leben des Geistes. Bd. 1 Das Denken; Bd. 2 Das Wollen, Piper, München 1979.
  •     Denktagebuch 1950 – 1973. Hg. Ursula Ludz & Ingeborg Nordmann in Zusammenarbeit m. d. Hannah-Arendt-Institut, Dresden. 2 Bände, Piper, München 2002.
  •     The Jewish Writings. Hg. Jerome Kohn & Ron H. Feldman, Schocken, New York 2007.

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Dieter Jakob

geb. 1941, Anglist und Germanist, VDSt Erlangen.

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