Der Weg nach Katyn und zurück

Die Ereignisse rund um die Tragödie von Smolensk, als eine Delegation von hochrangigen polnischen Politikern den Tod fanden, lässt tief in die polnische Seele schauen und ist ein Beweis für die nicht zu unterschätzende Wirkung von Symbolen und Gesten in der Politik.


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In der Unglücksmaschine saßen neben dem polnische Staatspräsident Lech Kaczynski und seiner Gattin 94 weitere Personen, überwiegend aus Politik, Militär, Kirche und weiteren Verbänden. Auf dem Weg zu einer Gedenkfeier nach Katyn.

Die Kaczynskis waren nicht die beliebtesten Politiker in Europa – selbst in ihrem Land nicht. Viele junge Polen, denen ich im In- und Ausland begegnete, haben sich geschämt für die Politik der Zwillingsbrüder und für den Schaden, welchen sie dem internationalen Ansehen ihres Heimatlandes zufügten. Nach den letzten Umfragen war die Zustimmung für Lech Kaczynski als Staatspräsident auf gerade noch 20 % gefallen.

Doch die Bilder der Tragödie und die Bilder der massenhaft trauernden Polen sprechen eine andere Sprache. Die Beerdigung auf der Wawel-Burg ebenfalls. In Polen scheint ein neuer Held geboren zu sein. Ein Widerspruch nicht nur in sich, sondern auch gegenüber der Wahrnehmung, die man vorher von dem eher glücklosen Präsidenten hatte.

Die meisten Medien taten die Partei der Kaczynski-Brüder als provinziell, national, katholisch und konservativ ab. Unverständnis für ihre Politik erzeugten sie aber auch bei deutschen Konservativen. Für einige Bundesbürger war die harte Haltung Polens gegenüber Erika Steinbach und ihrer Kandidatur für einen Sitz in der „Stiftung Flucht Vertreibung und Versöhnung“ Sinnbild dafür, ein würdiges Gedenken an das Leid der Vertreibung zu verhindern, also eine eigentlich sozialistische Geschichtsmeinung fortzuführen.

Auch befremdete die Kommentatoren in Europa der Einsatz der sogenannten „antideutschen Karte“ durch die Zwillingsbrüder. Sie kam besonders gern dann zum Einsatz, wenn es darum ging, innenpolitische Auseinandersetzungen für sich zu entscheiden. Zuletzt wurde diese Karte ausgespielt, um ihren politischen Widersacher und heutigen Ministerpräsidenten Donald Tusk in der Öffentlichkeit als unpatriotisch darzustellen. So wurde durch die Partei der Zwillingsbrüder (PiS, deutsch für „Recht und Gerechtigkeit“) das Gerücht gestreut, der Urgroßvater von Tusk hätte an der Seite der Wehrmacht gekämpft. Ob er dabei Soldat oder Hilfsarbeiter war, dies freiwillig oder nicht tat, spielte dabei keine Rolle mehr. Donald Tusk scheiterte knapp bei dem Versuch, das Präsidentenamt in Polen zu gewinnen.

Die Gratwanderung zwischen politischem Populismus, wie er uns in Mittel- und Osteuropa immer wieder entgegenschlägt, und Realpolitik gelang den Kaczynskis nicht immer. Das irrwitzigste Beispiel auf internationaler Ebene war die sogenannte Quadratwurzelklausel, welche die Kaczynskis für die Stimmgewichtung in der Europäischen Union vorschlugen. Ziel dieses politischen Störmanövers war die Anrechnung der schmerzlichen Verluste Polens an seiner Zivilbevölkerung während des Zweiten Weltkriegs auf die derzeitige Bevölkerungszahl. Kurz geschrieben, es ging um mehr Einfluss für Polen in der Europäischen Union. Ungläubiges Kopfschütteln verursachten solche Forderungen in Europa und im eigenen Land.

Für mich als Politikwissenschaftler und noch vielmehr als Historiker waren solche politischen Auswürfe ein klarer Missbrauch von Geschichte. Die Instrumentalisierung von Leid der Vergangenheit – reines Kalkül, welches in unserer Welt der Realpolitik keinen Platz mehr haben dürfte.

Aber war diese Politik wirklich nur Populismus, oder verbarg sich hinter dieser ein anderer Kern? Und wie kann die Unbeliebtheit Kaczynskis die große Trauer erklären? Neben der Sympathie für Lech Kaczynski und natürlich für die vielen anderen Würdenträger kommen noch weitere Faktoren hinzu. Zum einen ist es eine Trauer um das Staatsoberhaupt, die unabhängig von der Person Lech Kaczynski ist – also eine institutionelle Trauer. Zum anderen der Ort der Tragödie – Katyn. Ein Ort, der das historische Selbstverständnis Polens unterstreicht, eine Opferrolle im historischen Ringen der europäischen Nationen inne zu haben. Um beide Gründe in seiner vollständigen Bedeutung zu erfassen, müssen wir in die Geschichte Polens eintauchen!

Für Polen ist die Geschichte des 20. Jahrhunderts eine Tragödie. Am Anfang stand nichts! 1919 tauchte Polen wackelig auf der europäischen Landkarte nach Jahrzehnten der nationalen Nichtexistenz auf. Als eine verspätete Nation im ersten europäischen Völkerfrühling, der schnell zur bitteren sibirischen Kälte erstarrte. Denn nach einer kurzen demokratischen Phase folgte der polnische Autoritarismus, bevor selbiger und mit ihr die ganze Nation durch den nationalsozialistischen und kommunistischen Totalitarismus erneut von der politischen Landkarte Europas getilgt wurde.

In diese Zeit fällt die Tragödie von Katyn. Katyn ist ein Symbol für mehrere Facetten der polnischen Geschichte. Zum ersten natürlich die Ermordung der politischen, militärischen und zivilgesellschaftlichen Eliten des Landes! 22000 Personen wurden dabei auf direkten Befehl Stalins vom 5. April 1940 in Katyn und an anderen Orten erschossen. Dies dauerte bis Anfang Mai des gleichen Jahres. Zum anderen wurde und wird mit diesem Verbrechen die Wahrnehmung der Polen bestätigt, dass die großen Nachbarnationen sich nicht nur das Territorium Polens aufteilen, sondern gleich die ganze polnische Kultur und Elite auslöschen wollen. Dieser Ort steht aber auch für eine große Lüge: Stalin lud die Schuld dem Kriegsverlierer Deutschland auf und legitimierte damit die russische Schutzmachtfunktion nach dem Krieg.

Polen fand sich nach dem Ende des 2. Weltkrieges in einer verzweifelten Lage wieder. Seine Eliten ermordet, die Regierung nach London verbannt, über der Hälfte des Vorkriegsterritoriums im Osten beraubt und entschädigt mit großen Gebieten des Deutschen Reiches, die seit Jahrhunderten zum deutschen Kernland gehörten. An sich war der Gebietszuwachs im Westen nach damaligen Überzeugungen nachvollziehbar und verständlich. Auch nach heutiger Sicht, betrachtet man nur das Verhalten der Deutschen gegenüber den Polen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der tragische Witz dabei aber war, dass Stalin mit der durch ihn forcierten Westverschiebung Polens ein politisches Kalkül verfolgte. Nach der Kapitulation des Deutschen Reiches befand sich plötzlich die Hälfte des polnischen Staatsgebietes in einem eigentlich fremden Land. Diese Gebiete nicht nur hoheitlich zu verwalten, sondern auch in die kulturelle Tradition der polnischen Nation einzufügen, war Aufgabe der Eliten damals. Die Krux an der ganzen Sache war aber, dass Stalin mit diesem geschickten Schachzug und der Leugnung von Katyn die ewige Bindung Polens an die Schutzmacht Russland einfädelte. Denn er war der berechtigten Überzeugung, dass auf der einen Seite Deutschland diesen Verlust niemals verwinden und immer darauf hinarbeiten würde, diese Gebiete wieder in Besitz zu nehmen. Auf der anderen Seite wäre Polen mit der Aufgabe dieses Staatsgebietes wieder zu einem Rumpfstaat geschrumpft. Und das Symbol Katyn würde über allem für das zerstörte Vertrauen zwischen Polen und Deutschen schweben.

Erst mit der Wahl eines Polen zum Papst, welche den Aufbruch in der Bewegung der freien Gewerkschaft Solidarność beflügelte, erwachte Polen zu neuem Selbstbewusstsein. In der Folge dieser neuen Kraft vermochten die Bürger Polens nicht nur beispielhaft den friedlichen Weg des „Runden Tisches“ vorzuleben, sondern auch mit dem symbolischen Austritt aus dem Militärbündnis des Ostblocks (Warschauer Pakt) das Ende des Ost-West-Konfliktes zu beschleunigen. Polen setzte Meilensteine für die friedliche Revolution in Mittel- und Osteuropa.

Bei alldem, was hier als historischer Abriss dargestellt wurde, waren die Kaczynski-Zwillinge dabei bzw. wurden durch die Ereignisse stark geprägt: Ob als Kinder von Untergrundkämpfern des Warschauer Aufstandes, als Anwälte der Solidarnosc oder im Büro des ersten frei gewählten Präsidenten Polens nach dem 2. Weltkrieg und Friedensnobelpreisträger Lech Walesa. Die Kaczynski-Brüder, und das gilt im Übrigen für ausnahmslos alle Personen, die bei dem Flugzeugunglück in Smolensk umgekommen sind, haben das Land nach 50 Jahren Totalitarismus wieder aufgebaut. Ein Beispiel für die Weitsicht dieser Generation führt die Flugzeugkatastrophe selbst vor Augen. Dass Polen, nach dem Verlust einer so großen Anzahl von politischem wie militärischem Führungspersonal nicht ins Chaos stürzte, zeigt, wie durchdacht die in mehreren Schritten umgesetzte Verfassung der dritten Republik ist.

Diese vorhergehenden Absätze sollten zeigen, dass zum einen in der Flugzeugkatastrophe eine hohe Symbolkraft zu finden ist. Zum anderen sollten sie auf ein Faktum in der Kaczynski-Biografie aufmerksam machen, welches erst nach dem Tod von Lech unter den Kommentatoren Erwähnung findet. Sie waren Exoten unter den Spitzenpolitikern der EU. Politik musste ihrer Ansicht nicht zwangsläufig einer Realdoktrin folgen, sondern ihre Entscheidungen fußten auf einem stark ausgeprägten geschichtlichen Bewusstsein. Für sie waren historische Themen immer aktuell!

Sie bewiesen dies an unzähligen Beispielen, die Anfangs schon aufgeführt wurden. Das wichtigste Projekt Lech Kaczynskis, als er Bürgermeister von Warschau wurde, war daher auch der Bau des Museums für die polnische Untergrundarmee. Ihr hoffnungsloser Kampf gegen die deutschen Besatzer beim Warschauer Aufstand, der die Schleifung einer europäischen Hauptstadt zur Folge hatte, ist eines der stärksten nationalen Symbole neben Katyn. Als ich dort kurz nach der Einweihung im Jahr 2005 war, überzeugte mich dieses Museumskonzept, denn es vermittelte die Geschehnisse in beeindruckender und alle Sinne ansprechender Art und Weise.

Diese Rückbindung von politischen Entscheidungen an historische Erfahrungen ist für mich grundsätzlich eine positive Botschaft. Sie bleibt solange positiv, wie sie nicht der Logik des Populismus folgt und daher versucht, von innenpolitischen Unzulänglichkeiten abzulenken. Für viele Polen wird Kaczynski zum Nationalheld werden. Auch eine durchaus erfrischende Botschaft für mich, müssen doch heutzutage eigentlich fast nur noch Sportler als Helden der Nation herhalten. Sein Heldenstatus wird nun auch noch symbolisch unterstrichen, da er auf der Wawel-Burg, dem alten Sitz der polnischen Könige, beerdigt wird. Gerade dies ging nicht wenigen Polen zu weit, denn sie trauerten nicht um Kaczynski, sondern um ihr Staatsoberhaupt!

Königsgrab auf dem Wawel (Wikimedia, Foto: Cezary PiwowarskiDie Kaczynskis haben Polen durch ihre historisch aufgeladene Hardliner-Politik von ihren Nachbarn entfremdet. Russland hatte, nicht zuletzt auch wegen der Kaczynskis, die Ermittlungen zu Katyn einstellen lassen. Auch der Gasstreit war ein Beispiel dafür, dass die Kommunikation zwischen Polen und Russland stark unterkühlt war. Erst der amtierende Premierminister Polens, Donald Tusk, hat hier mit einer Politik der kleinen Schritte die Front gegenüber Russland durchlässiger gemacht. Ihm ist es zu verdanken, dass zum ersten Mal ein hochrangiger russischer Vertreter, nämlich Putin selbst, an den offiziellen Feierlichkeiten zum Gedenken an die Opfer von Katyn teilgenommen hat. Zu diesem Treffen, welches nur 4 Tage vor dem Unglück an gleicher Stelle statt fand, wurden die Kaczynskis aus protokollarischen, aber eben auch aus Gründen ihrer Unerbittlichkeit gegenüber Russland nicht eingeladen. Nur deshalb ist die verunglückte Delegation am 9. April zu einer privaten Trauerfeier auf dem Weg nach Katyn gewesen.

Dies rechtfertigt natürlich nicht zu sagen, Lech Kaczynski sei selbst an seinem Tod und dem vieler anderer bedeutender Personen schuld. Aber es zeigt auch, dass seine und die Politik seines Zwillingsbruders in eine Sackgasse geführt haben. In eine Sackgasse, die, und jetzt schlägt die Ironie der Geschichte mit voller Gewalt entgegen, erst mit seinem Tod zu einer Brücke wird!

Die offene und bewusste Anteilnahme Russlands an der Tragödie, die Transparenz und Rücksichtnahme der russischen Ermittler und nicht zuletzt die Ernennung Putins höchstselbst als Chefermittler, sind in der Geschichte der beiden Völker einmalig! Putin ist gleich nach dem Unglück in den Wald nach Smolensk gefahren und hielt eine Rede an die polnische Nation! Im staatlichen Fernsehen wurde der vorher nur einem kleinen Kreis von Personen vorgeführte Film „Katyn“ gezeigt, der erstmals den Russen vor Augen führte, was dieser Ort für die polnisch–russischen Beziehungen bedeutet! Noch nie hat Russland für ein anderes Land die Fahnen auf Halbmast und Staatstrauer verordnet! Ein wirklich mächtiges Symbol!

Die Tragödie an diesem historischen Ort wird Russland und Polen wieder näher zueinander bringen, weil nun auf der einen Seite ein größeres Verständnis für die historischen Tragödien Polens besteht. Auf der anderen Seite empfindet das polnische Volk eine tiefe Dankbarkeit für die russische und natürlich auch deutsche Anteilnahme.

Es gibt ein Sprichwort: Generäle kämpfen immer den letzten Krieg, nicht den heutigen. Sie kämpfen also immer in der Vergangenheit, und wenn sie das nicht schnell begreifen, werden sie überrannt. Ich glaube, Lech Kaczynski war ein solcher General. Er kämpfte vergangene Schlachten! Aber! Nicht als Populist, sondern als Patriot! Diese Authentizität und Stringenz war seine Stärke, aber auch die Sackgasse seiner Politik.


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Kai Kranich

geb. 1982, Politikwissenschaftler, VDSt Dresden.

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