Die deutsche Minderheit in Ungarn

Nach langen Jahrzehnten der Assimilation hat sich das Umfeld für die ungarndeutsche Volksgruppe zuletzt merklich verbessert. Aber die erfolgreiche Bewahrung von Kultur und Sprache hängt stark von der Politik ab.

Im heutigen Ungarn gibt es drei größere Siedlungsgebiete, wo Angehörige der deutschen Minderheit in höherer Anzahl leben: Westungarn entlang der österreichischen Grenze, das Ungarische Mittelgebirge (vom Ofner Bergland bis zum Plattensee-Oberland) mit den Zentren Ofen/Buda und Zirc bzw. Südungarn mit dem Zentrum Fünfkirchen/Pécs. Die Vorfahren der deutschen Minderheit in Westungarn sind „Urbewohner“ dieser Gegend und bilden ab dem 13.-14. Jahrhundert in wichtigen Zentren wie Ödenburg/Sopron und Wieselburg/Moson die Mehrheitsbevölkerung im ehemaligen Deutsch-Westungarn. Nachdem Karl der Große die Ostmark und Friaul gründet, ziehen bairische und fränkische Ansiedler nach Pannonien, die allerdings bis zur Zeit der ungarischen Landnahme gegen Ende des 9. Jahrhunderts wahrscheinlich in der – vor allem slawischen – Bevölkerung aufgehen. Auch die Staatsgründung von Stephan dem Heiligen, der die bayrische Königstochter Gisela heiratet, bringt wieder eine deutsche Ansiedlung mit sich. Im 11. Jahrhundert entwickelt sich allmählich das Siedlungsgebiet durch die Besiedelung, vorangetrieben von den salischen Kaisern Heinrich II. und IV. Auch in den Städten vom Ungarischen Mittelgebirge (z.B. in Ofen – heute Buda, Teil von Budapest) sind solche sog. altdeutsche Siedlungen festzustellen, obwohl die Ansiedlungswellen nach der Vertreibung der Türken im 18. Jahrhundert auch hier wirken.

In Südungarn leben die Nachkommen von Ansiedlern nach den Türkenkriegen, die meistens aus Hessen, aus der Pfalz, aus der Mainzer, Frankfurter, Fuldaer Gegend bzw. auch aus den Erbländer der Habsburger-Monarchie ins Land ziehen. Aus dieser Vielfalt der deutschen Ansiedler entwickelt sich die landesübliche Bezeichnung „Schwaben“ bzw. „schwäbisch“ für die Bezeichnung ihrer Dialekte, vor allem in Südungarn und im Ungarischen Mittelgebirge. In Westungarn hingegen ruft die Bezeichnung „Schwaben“ in Bezug auf die deutsche Minderheit eine Gegenreaktion bei den Angehörigen der Minderheit hervor. Bekanntlich sind nur 2-4 Prozent der Deutschen in Ungarn wirklich schwäbischer Herkunft, obwohl die landesübliche Bezeichnung der Minderheit dies suggeriert, dabei handelt es sich allerdings um eine geschichtlich untermauerte pars pro toto Entwicklung.

Im 19. Jahrhundert begann der sprachliche und identitätsbezogene Assimilationsprozess der Deutschen in Ungarn, der im Prinzip bis zum heutigen Tage nicht aufzuhalten war. Hierfür waren Gründe wie höhere Schulausbildungschancen, soziale Aufstiegschancen, geographische und soziale Mobilität verantwortlich. Eine wichtige Zäsur bedeutet beim Wandel der allgemeinen, aber auch sprachlichen und schulischen Situation der deutschen Minderheit in Ungarn das Ende des 2. Weltkrieges, bzw. die ober schon angeführte Vertreibung von etwa 200 000 Deutschen anschließend. Im folgenden halben Jahrhundert können wir zwei Entwicklungsphasen auseinanderhalten: Erstens die sog. „schweren Jahrzehnte“, die 50er, 60er und 70er Jahre, zweitens etwa seit Mitte der 80er Jahre die neue Phase einer eher positiven Entwicklung. In der ersten Phase können wir über bekannten historischen, politischen und wirtschaftlichen Benachteiligungen der Angehörigen der deutschen Minderheit berichten, sowohl auf der Ebene der Einzelpersonen, als auch auf der Ebene der Gemeinschaft. Ein immer größerer Teil der Angehörigen der deutschen Minderheit findet es nicht attraktiv, sich zu der Minderheit zu bekennen. Der soziale Aufstieg und überhaupt jede Art von Selbstverwirklichung ist mit dem Ungarischen verbunden, deswegen nimmt das Tempo des sprachlichen Wechsels rapide zu. In den ersten Jahren dieser Phase wurde des weiteren Deutsch aus den Schulen und Kindergärten verbannt.

Heutzutage ist die deutsche Minderheit in Ungarn die größte nationale Minderheit mit schätzungsweise 200–220.000 Personen. Mit etwa 600–800.000 Personen ist allerdings die ethnische Minderheit der Roma ebenfalls zu erwähnen. Alle anderen nationalen Minderheiten kommen insgesamt auf etwa 180.000 Personen. Diese Angaben beruhen auf Eigenangaben bzw. amtlichen Schätzungen. In der offiziellen Statistik sind infolge der historischen Ereignisse niedrigere Angaben zu finden. Es ist zu erwähnen, dass die Vertreibung von etwa 200.000 Deutschen in den Jahren 1946–48 auf Grund der Daten der amtlichen Volkszählung aus dem Jahre 1941 erfolgte. Daher sind auch laut Meinung des ungarischen Zentralen Statistischen Amtes (ung. KSH) noch eine Zeit lang keine sicheren Zahlen zu erwarten. Die Daten der letzten Volkszählung 2001 haben allerdings im Falle der deutschen Minderheit eine steigende Tendenz gezeigt. Im Vergleich zur Volkzählung 1990 stieg die Anzahl derer, die als Nationalität Deutsch angegeben haben, von ca. 36.000 auf 63.000, und fast 90.000 Personen  haben eine starke Bindung zur Kultur der deutschen Minderheit angegeben.

Aktuelle Lage der Deutschen in Ungarn

Seit Mitte der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts sind also positive Tendenzen bezüglich der Lage der Deutschen in Ungarn vorhanden. Immer intensiver gewordenen Kontakte zum deutschen Sprachraum durch Schüleraustauschprogramme, Partnerschaftsverträge zwischen Gemeinden und Städten in Ungarn und in Deutschland, Österreich und der Schweiz, die sehr oft auf Grund der Zusammenarbeit von Heimatvertriebenen und Heimatverbliebenen Ungarndeutschen gestaltet werden, oder der Einsatz von Lektoren in Institutionen, in denen auch Angehörige der deutschen Minderheit Deutsch oder Germanistik lernen bzw. studieren sind zu vermelden. Ein langsamer und nicht eindeutig erfolgsreicher Prozess Richtung bilingualer Schulen beginnt, auch auf der Mittelschulebene. Sogar im Kindergartenbereich gibt es erste Schritte in Richtung zweisprachige Erziehung. Nicht zuletzt hat die nach der Wendezeit und nach der politischen, wirtschaftlichen Öffnung des Landes aufgewertete Stellung der deutschen Sprache positive Signale und Impulse für die Ungarndeutschen mit sich gebracht. Der Marktwert des Deutschen in Ungarn ist generell hoch, was von den Angehörigen der deutschen Minderheit erkannt und ausgenutzt wird, sogar in der europäischen Perspektive ist die deutsche Sprache aus der Warte von Ungarn mit vielen Möglichkeiten verbunden.

Innenpolitische Entwicklungen prägten das Bild ebenfalls, die Verabschiedung des Minderheitengesetzes im Jahre 1993 und die darauffolgende neue Struktur der sog. Minderheitenselbstverwaltungen (Körperschaften die die kulturelle Autonomie durch Wahlen verwirklichen, z.B. Schulträgerinnen werden können) führten zu einem Neubeleben der Minderheitenaktivitäten in aller Lebensbereichen. Sprachlich gesehen sind folgende Tendenzen festzuhalten: Die Einengung der dialektalen deutschen Kompetenz ist in Westungarn nicht so vorangeschritten wie in der Umgebung von Budapest, allerdings im Vergleich zu Südostungarn, wo auch in der mittleren Generation breite Schichten der Ungarndeutschen produktiv und rezeptiv die deutsche Dialektform beherrschen und sogar in der jüngeren Generation nicht nur vereinzelt diese Kompetenz erscheint ist, der Prozess stärker ausgeprägt. Das Vordringen des Ungarischen wurde unterstützt durch Mischehen und durch das neue Modell der Familie, in der nicht mehr drei Generationen zusammenleben und die Großeltern die Sprache und Kultur vermitteln. Eine sehr interessante Entwicklung ist bei der deutschen Standardsprache zu beobachten. In der zweiten Phase der Entwicklung gewinnt dieselbe rasch an Bedeutung, so dass sie als Prestigesprache gilt in allen Schichten der deutschen Minderheit. Interessanterweise werden auch in den Schichten, die deutsche Dialektkenntnisse noch aufweisen können, die Kommunikationsdefizite der Dialekte scharf erfasst und bewertet. Es wird gefordert, dass die Kinder oder Enkelkinder in der Schule die Standardsprache erlernen sollen. Vor allem in manchen Intelligenzkreisen der deutschen Minderheit kann man einen demonstrativen Gebrauch dieser Varietät beobachten, meistens verbunden mit minderheitenspezifischen öffentlichen Situationen. Ob dieses neue Vordringen der deutschen Standardsprache zur Folge hat, dass dieselbe als eine Art neue Erst- oder Zweitsprache funktionieren kann, bleibt abzuwarten.

Um die sprachlich-kulturelle Lage richtig beurteilen zu können, müssen die Tatsachen der Möglichkeiten in der Bildung detailliert angeführt werden. Das Schulwesen der deutschen Minderheit in Ungarn funktionierte seit den 80er Jahren der 20. Jahrhunderts zwar unter besseren Rahmenbedingungen, aber es fehlten die klaren gesetzlichen und fachlichen Fundierungen bezüglich des Minderheitenunterrichts. Die chaotische Situation ist z.T. bis heute noch vorhanden, sogar im Bereich der Terminologie. Begriffe wie Nationalitätenunterricht, Minderheitenunterricht, Sprachunterricht, zweisprachiger Unterricht usf. wurden sowohl beim Unterrichtsministerium, als auch bei den betroffenen Institutionen bzw. bei den Gemeinde- und Stadträten, die als Institutionsträgerinnen funktionieren, unterschiedlich verwendet und ausgelegt. Hinter den anmutenden statistischen Zahlen des Unterrichtsministeriums über die Anzahl der Schüler, die an einem deutschen Minderheitenunterricht teilnehmen, steckt eine kunterbunte Realität, wobei die meisten Kinder von Angehörigen der deutschen Minderheit keine Schule oder keinen Kindergarten besuchen, die ihren spezifischen Ansprüchen entsprechen würden. Der typische Fall v.a. in kleineren Ortschaften – und bekanntlich leben die meisten Ungarndeutschen in solchen Ortschaften – ist, daß in der Grundschule (die sich stolz Nationalitätenschule nennt) de facto Deutsch als Fremdsprache unterrichtet wird. Vielerorts ist dies auch nur in einem Klassenzug der Fall, und alle anderen Stunden bzw. die außerschulischen Aktivitäten laufen natürlich (?!) in ungarischer Sprache. Im Vergleich zu den quasi einsprachig deutschen Minderheitenschulen in Rumänien für die schon größtenteils ausgewanderte deutsche Bevölkerung oder zu den mehr als 100 ebenfalls einsprachigen privaten Schulen der etwa 20.000 Personen umfassende deutschen Minderheit in Dänemark, ist die Lage mehr als kritisch zu betrachten.

Die Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen (LdU) registrierte diese negativen Tendenzen und beschloss, dass als Verwirklichung der kulturellen Autonomie die LdU als Trägerin von wichtigen schulischen und kulturellen Institutionen funktionieren sollte. Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts wurden wichtige Schulzentren in eigene Trägerschaft der deutschen Minderheit übernommen. Seit 2004 funktioniert in dieser Form die Valeria Koch Mittelschule, Grundschule, Kindergarten und Schülerwohnheim in Fünfkirchen/Pécs (Südungarn) und das Friedrich-Schiller-Gymnasium, berufliches Gymnasium und Schülerwohnheim in Werischwar/Pilisvörösvár bei Budapest. Das Ungarndeutsche Bildungszentrum in der Stadt Baja, wird von einer Stiftung getragen, hier nimmt die LdU ebenfalls an der gemeinsamen Trägerschaft teil. Weitere wichtige Institutionen zum Ausbau der kulturellen Autonomie wurden in diesen Jahren ebenfalls gegründet, so das Ungarndeutsche Pädagogische Institut und das Ungarndeutsche Kultur- und Informationszentrum (www.zentrum.hu).

Dieser institutionelle Rahmen ist notwendig, um eine Wiederbelebung der deutschen Sprach und Kultur vorantreiben zu können, da der normale Prozess der Weitergabe der Sprache in den Familien kaum mehr möglich ist, aus den angeführten Gründen sind zwei-drei  Generationen aufgewachsen, die sich dadurch auszeichnen, dass unter den Angehörigen der deutschen Minderheit prozentual gesehen relativ wenige eine deutsche sprachliche Varietät authentisch beherrschen. Das bedeutet, dass es hier auch darum geht, im Falle einer überintegrierten Minderheit, die sich sprachlich weitgehend assimiliert hat, den Versuch zu starten, den Prozess des Sprachwechsels in Richtung Ungarisch zu unterbrechen. Falls dieser Versuch mit Hilfe eines gut ausgebauten zweisprachigen und langfristig auch z.T. einsprachigen Unterrichtswesens nicht gelingt, führt dies zur vollkommenen Assimilation der Deutschen in Ungarn. Ob es gelingen kann, hängt von vielschichtigen Aspekten ab. Es gibt Beispiele für eine gelungene Reaktivierung einer fast schon in Vergessenheit geratener Sprache (z.B. Hebräisch, Katalanisch), aber der Erfolg ist v.a. davon abhängig, ob sich die staatlichen Institutionen dieser Aufgabe positiv gegenüberstehen und unterstützen. Die „Neubelebungsattitüde“ – also der Wille seitens der Minderheitengruppe zur Belebung der Sprache ist unter den Deutschen in Ungarn nach meiner Einschätzung vorhanden. Die Angehörigen der Minderheit, die eine Restidentität besitzen, sind häufig der Meinung, dass wenigsten ihre Kinder und Enkelkinder Deutsch auf einem sehr hohen Niveau beherrschen sollten. Unter den Jugendlichen der Minderheit wirken v.a. die positiven Signale aus der Wirtschaft und der erweiterte europäische Horizont stimulierend.

Zusammenfassung und Ausblick

In diesem Beitrag wurde die aktuelle Situation der deutschen Minderheit in Ungarn kurz skizziert und bewertet. Die politisch-gesellschaftlich dominierten langsamen Entwicklungen haben einen Punkt erreicht, wo ein qualitativer Sprung in Richtung von zwei- und einsprachigen deutschen Schulen und Kindergärten gemacht werden muss. Falls die Institutionen nämlich nicht die zur Unterbrechung des Sprachenwechsels Deutsch-Ungarisch notwendigen Rahmenbedingungen schaffen können, führt der sprachlich-kulturelle Identitätswandel zur vollkommenen Assimilation der Minderheitengemeinschaft. Die optimale Lösung wäre in diesem Bereich, wenn die Minderheitenselbstverwaltungen als Erfüllung der sog. kulturellen Autonomie selbst die Trägerschaft der kulturellen und schulischen Einrichtungen übernehmen könnten, wie dies in den erwähnten regional wichtigen Schulzentren schon der Fall ist.

Ohne Sprache gibt es keine Minderheit oder Identität. Dies ist eine Binsenweisheit, aber auch bei den Ungarndeutschen ist es eindeutig so, dass die bis jetzt geschilderte sprachliche Situation folgende Frage mit sich bringt: Kann die ehemalige Muttersprache, bzw. eine andere Varietät derselben in den Minderheiteninstitutionen neu belebt und erlernt werden? Die deutsche Minderheit in Ungarn ist ja z.T. eine Sprachminderheit, z.T. eine Gesinnungsminderheit, so dass breite Schichten lediglich für die Nachkommen oder z.T. für ihre eigene Person die Kompetenz der deutschen Sprache (wieder)herstellen wollen. Dies funktioniert laut verschiedener Meinungen im Falle von Einzelpersonen relativ einfach, wenn man aus Nostalgiegründen bezüglich der Ahnen u.dgl. dies vorantreibt, die Frage ist allerdings bei Völkern oder bei Minderheiten komplizierter. Falls der Sprachwechsel noch vor dem Ende unterbrochen wird und diese Möglichkeit besteht bei den Deutschen in Ungarn ohne Zweifel, wenn die Anzahl der Sprachkompetenzträger vergrößert werden kann, ist die Antwort auf unsere Frage ein eindeutiges „Ja“.

Allerdings sind solche Neubelebungen von Sprachen nur erfolgreich, wenn eine breite Schicht der Minderheit dahinter steht und sie vorantreibt und eine gut ausgebildete, zweisprachige, von den öffentlichen, staatlichen Institutionen unterstützte gesellschaftliche Gruppe von Intelligenzlern und „Bürokraten“ im positiven Sinne die Sache ebenfalls unterstützt. Wenn diese Anforderungen berücksichtigt werden, muss festgestellt werden, dass in den ungarländischen sog. Minderheitenschulen und -Kindergärten dieselben nur selten erfüllt werden. Ein wichtiger Punkt ist in unserem Falle, dass die Akzeptanz und das Interesse der Mehrheitsbevölkerung an der deutschen Sprache – vor allem wegen wirtschaftlicher Faktoren – z.T. vorhanden ist. Auch im europäischen Rahmen können also die Bestrebungen zur Belebung der deutschen Sprache in Ungarn positiv bewertet werden und auch die Stabilisierung der deutschen Gemeinschaft im Lande. Die Frage ist, ob es möglich sein wird und ob es gelingt, hierbei haben Deutschland und Österreich eine wichtige Verantwortung vor allem bezüglich ihrer (europaweiten und EU internen) Sprachenpolitik bzw. Volksgruppenpolitik.


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Im heutigen Ungarn gibt es drei größere Siedlungsgebiete, wo Angehörige der deutschen Minderheit in höherer Anzahl leben: Westungarn entlang der österreichischen Grenze, das Ungarische Mittelgebirge (vom Ofner Bergland bis zum Plattensee-Oberland) mit den Zentren Ofen/Buda und Zirc bzw. Südungarn mit dem Zentrum Fünfkirchen/Pécs. Die Vorfahren der deutschen Minderheit in Westungarn sind „Urbewohner“ dieser Gegend und bilden ab dem 13.-14. Jahrhundert in wichtigen Zentren wie Ödenburg/Sopron und Wieselburg/Moson die Mehrheitsbevölkerung im ehemaligen Deutsch-Westungarn. Nachdem Karl der Große die Ostmark und Friaul gründet, ziehen bairische und fränkische Ansiedler nach Pannonien, die allerdings bis zur Zeit der ungarischen Landnahme gegen Ende des 9. Jahrhunderts wahrscheinlich in der – vor allem slawischen – Bevölkerung aufgehen. Auch die Staatsgründung von Stephan dem Heiligen, der die bayrische Königstochter Gisela heiratet, bringt wieder eine deutsche Ansiedlung mit sich. Im 11. Jahrhundert entwickelt sich allmählich das Siedlungsgebiet durch die Besiedelung, vorangetrieben von den salischen Kaisern Heinrich II. und IV. Auch in den Städten vom Ungarischen Mittelgebirge (z.B. in Ofen – heute Buda, Teil von Budapest) sind solche sog. altdeutsche Siedlungen festzustellen, obwohl die Ansiedlungswellen nach der Vertreibung der Türken im 18. Jahrhundert auch hier wirken.

In Südungarn leben die Nachkommen von Ansiedlern nach den Türkenkriegen, die meistens aus Hessen, aus der Pfalz, aus der Mainzer, Frankfurter, Fuldaer Gegend bzw. auch aus den Erbländer der Habsburger-Monarchie ins Land ziehen. Aus dieser Vielfalt der deutschen Ansiedler entwickelt sich die landesübliche Bezeichnung „Schwaben“ bzw. „schwäbisch“ für die Bezeichnung ihrer Dialekte, vor allem in Südungarn und im Ungarischen Mittelgebirge. In Westungarn hingegen ruft die Bezeichnung „Schwaben“ in Bezug auf die deutsche Minderheit eine Gegenreaktion bei den Angehörigen der Minderheit hervor. Bekanntlich sind nur 2-4 Prozent der Deutschen in Ungarn wirklich schwäbischer Herkunft, obwohl die landesübliche Bezeichnung der Minderheit dies suggeriert, dabei handelt es sich allerdings um eine geschichtlich untermauerte pars pro toto Entwicklung.

Im 19. Jahrhundert begann der sprachliche und identitätsbezogene Assimilationsprozess der Deutschen in Ungarn, der im Prinzip bis zum heutigen Tage nicht aufzuhalten war. Hierfür waren Gründe wie höhere Schulausbildungschancen, soziale Aufstiegschancen, geographische und soziale Mobilität verantwortlich. Eine wichtige Zäsur bedeutet beim Wandel der allgemeinen, aber auch sprachlichen und schulischen Situation der deutschen Minderheit in Ungarn das Ende des 2. Weltkrieges, bzw. die ober schon angeführte Vertreibung von etwa 200 000 Deutschen anschließend. Im folgenden halben Jahrhundert können wir zwei Entwicklungsphasen auseinanderhalten: Erstens die sog. „schweren Jahrzehnte“, die 50er, 60er und 70er Jahre, zweitens etwa seit Mitte der 80er Jahre die neue Phase einer eher positiven Entwicklung. In der ersten Phase können wir über bekannten historischen, politischen und wirtschaftlichen Benachteiligungen der Angehörigen der deutschen Minderheit berichten, sowohl auf der Ebene der Einzelpersonen, als auch auf der Ebene der Gemeinschaft. Ein immer größerer Teil der Angehörigen der deutschen Minderheit findet es nicht attraktiv, sich zu der Minderheit zu bekennen. Der soziale Aufstieg und überhaupt jede Art von Selbstverwirklichung ist mit dem Ungarischen verbunden, deswegen nimmt das Tempo des sprachlichen Wechsels rapide zu. In den ersten Jahren dieser Phase wurde des weiteren Deutsch aus den Schulen und Kindergärten verbannt.

Heutzutage ist die deutsche Minderheit in Ungarn die größte nationale Minderheit mit schätzungsweise 200–220.000 Personen. Mit etwa 600–800.000 Personen ist allerdings die ethnische Minderheit der Roma ebenfalls zu erwähnen. Alle anderen nationalen Minderheiten kommen insgesamt auf etwa 180.000 Personen. Diese Angaben beruhen auf Eigenangaben bzw. amtlichen Schätzungen. In der offiziellen Statistik sind infolge der historischen Ereignisse niedrigere Angaben zu finden. Es ist zu erwähnen, dass die Vertreibung von etwa 200.000 Deutschen in den Jahren 1946–48 auf Grund der Daten der amtlichen Volkszählung aus dem Jahre 1941 erfolgte. Daher sind auch laut Meinung des ungarischen Zentralen Statistischen Amtes (ung. KSH) noch eine Zeit lang keine sicheren Zahlen zu erwarten. Die Daten der letzten Volkszählung 2001 haben allerdings im Falle der deutschen Minderheit eine steigende Tendenz gezeigt. Im Vergleich zur Volkzählung 1990 stieg die Anzahl derer, die als Nationalität Deutsch angegeben haben, von ca. 36.000 auf 63.000, und fast 90.000 Personen  haben eine starke Bindung zur Kultur der deutschen Minderheit angegeben.

Aktuelle Lage der Deutschen in Ungarn

Seit Mitte der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts sind also positive Tendenzen bezüglich der Lage der Deutschen in Ungarn vorhanden. Immer intensiver gewordenen Kontakte zum deutschen Sprachraum durch Schüleraustauschprogramme, Partnerschaftsverträge zwischen Gemeinden und Städten in Ungarn und in Deutschland, Österreich und der Schweiz, die sehr oft auf Grund der Zusammenarbeit von Heimatvertriebenen und Heimatverbliebenen Ungarndeutschen gestaltet werden, oder der Einsatz von Lektoren in Institutionen, in denen auch Angehörige der deutschen Minderheit Deutsch oder Germanistik lernen bzw. studieren sind zu vermelden. Ein langsamer und nicht eindeutig erfolgsreicher Prozess Richtung bilingualer Schulen beginnt, auch auf der Mittelschulebene. Sogar im Kindergartenbereich gibt es erste Schritte in Richtung zweisprachige Erziehung. Nicht zuletzt hat die nach der Wendezeit und nach der politischen, wirtschaftlichen Öffnung des Landes aufgewertete Stellung der deutschen Sprache positive Signale und Impulse für die Ungarndeutschen mit sich gebracht. Der Marktwert des Deutschen in Ungarn ist generell hoch, was von den Angehörigen der deutschen Minderheit erkannt und ausgenutzt wird, sogar in der europäischen Perspektive ist die deutsche Sprache aus der Warte von Ungarn mit vielen Möglichkeiten verbunden.

Innenpolitische Entwicklungen prägten das Bild ebenfalls, die Verabschiedung des Minderheitengesetzes im Jahre 1993 und die darauffolgende neue Struktur der sog. Minderheitenselbstverwaltungen (Körperschaften die die kulturelle Autonomie durch Wahlen verwirklichen, z.B. Schulträgerinnen werden können) führten zu einem Neubeleben der Minderheitenaktivitäten in aller Lebensbereichen. Sprachlich gesehen sind folgende Tendenzen festzuhalten: Die Einengung der dialektalen deutschen Kompetenz ist in Westungarn nicht so vorangeschritten wie in der Umgebung von Budapest, allerdings im Vergleich zu Südostungarn, wo auch in der mittleren Generation breite Schichten der Ungarndeutschen produktiv und rezeptiv die deutsche Dialektform beherrschen und sogar in der jüngeren Generation nicht nur vereinzelt diese Kompetenz erscheint ist, der Prozess stärker ausgeprägt. Das Vordringen des Ungarischen wurde unterstützt durch Mischehen und durch das neue Modell der Familie, in der nicht mehr drei Generationen zusammenleben und die Großeltern die Sprache und Kultur vermitteln. Eine sehr interessante Entwicklung ist bei der deutschen Standardsprache zu beobachten. In der zweiten Phase der Entwicklung gewinnt dieselbe rasch an Bedeutung, so dass sie als Prestigesprache gilt in allen Schichten der deutschen Minderheit. Interessanterweise werden auch in den Schichten, die deutsche Dialektkenntnisse noch aufweisen können, die Kommunikationsdefizite der Dialekte scharf erfasst und bewertet. Es wird gefordert, dass die Kinder oder Enkelkinder in der Schule die Standardsprache erlernen sollen. Vor allem in manchen Intelligenzkreisen der deutschen Minderheit kann man einen demonstrativen Gebrauch dieser Varietät beobachten, meistens verbunden mit minderheitenspezifischen öffentlichen Situationen. Ob dieses neue Vordringen der deutschen Standardsprache zur Folge hat, dass dieselbe als eine Art neue Erst- oder Zweitsprache funktionieren kann, bleibt abzuwarten.

Um die sprachlich-kulturelle Lage richtig beurteilen zu können, müssen die Tatsachen der Möglichkeiten in der Bildung detailliert angeführt werden. Das Schulwesen der deutschen Minderheit in Ungarn funktionierte seit den 80er Jahren der 20. Jahrhunderts zwar unter besseren Rahmenbedingungen, aber es fehlten die klaren gesetzlichen und fachlichen Fundierungen bezüglich des Minderheitenunterrichts. Die chaotische Situation ist z.T. bis heute noch vorhanden, sogar im Bereich der Terminologie. Begriffe wie Nationalitätenunterricht, Minderheitenunterricht, Sprachunterricht, zweisprachiger Unterricht usf. wurden sowohl beim Unterrichtsministerium, als auch bei den betroffenen Institutionen bzw. bei den Gemeinde- und Stadträten, die als Institutionsträgerinnen funktionieren, unterschiedlich verwendet und ausgelegt. Hinter den anmutenden statistischen Zahlen des Unterrichtsministeriums über die Anzahl der Schüler, die an einem deutschen Minderheitenunterricht teilnehmen, steckt eine kunterbunte Realität, wobei die meisten Kinder von Angehörigen der deutschen Minderheit keine Schule oder keinen Kindergarten besuchen, die ihren spezifischen Ansprüchen entsprechen würden. Der typische Fall v.a. in kleineren Ortschaften – und bekanntlich leben die meisten Ungarndeutschen in solchen Ortschaften – ist, daß in der Grundschule (die sich stolz Nationalitätenschule nennt) de facto Deutsch als Fremdsprache unterrichtet wird. Vielerorts ist dies auch nur in einem Klassenzug der Fall, und alle anderen Stunden bzw. die außerschulischen Aktivitäten laufen natürlich (?!) in ungarischer Sprache. Im Vergleich zu den quasi einsprachig deutschen Minderheitenschulen in Rumänien für die schon größtenteils ausgewanderte deutsche Bevölkerung oder zu den mehr als 100 ebenfalls einsprachigen privaten Schulen der etwa 20.000 Personen umfassende deutschen Minderheit in Dänemark, ist die Lage mehr als kritisch zu betrachten.

Die Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen (LdU) registrierte diese negativen Tendenzen und beschloss, dass als Verwirklichung der kulturellen Autonomie die LdU als Trägerin von wichtigen schulischen und kulturellen Institutionen funktionieren sollte. Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts wurden wichtige Schulzentren in eigene Trägerschaft der deutschen Minderheit übernommen. Seit 2004 funktioniert in dieser Form die Valeria Koch Mittelschule, Grundschule, Kindergarten und Schülerwohnheim in Fünfkirchen/Pécs (Südungarn) und das Friedrich-Schiller-Gymnasium, berufliches Gymnasium und Schülerwohnheim in Werischwar/Pilisvörösvár bei Budapest. Das Ungarndeutsche Bildungszentrum in der Stadt Baja, wird von einer Stiftung getragen, hier nimmt die LdU ebenfalls an der gemeinsamen Trägerschaft teil. Weitere wichtige Institutionen zum Ausbau der kulturellen Autonomie wurden in diesen Jahren ebenfalls gegründet, so das Ungarndeutsche Pädagogische Institut und das Ungarndeutsche Kultur- und Informationszentrum (www.zentrum.hu).

Dieser institutionelle Rahmen ist notwendig, um eine Wiederbelebung der deutschen Sprach und Kultur vorantreiben zu können, da der normale Prozess der Weitergabe der Sprache in den Familien kaum mehr möglich ist, aus den angeführten Gründen sind zwei-drei  Generationen aufgewachsen, die sich dadurch auszeichnen, dass unter den Angehörigen der deutschen Minderheit prozentual gesehen relativ wenige eine deutsche sprachliche Varietät authentisch beherrschen. Das bedeutet, dass es hier auch darum geht, im Falle einer überintegrierten Minderheit, die sich sprachlich weitgehend assimiliert hat, den Versuch zu starten, den Prozess des Sprachwechsels in Richtung Ungarisch zu unterbrechen. Falls dieser Versuch mit Hilfe eines gut ausgebauten zweisprachigen und langfristig auch z.T. einsprachigen Unterrichtswesens nicht gelingt, führt dies zur vollkommenen Assimilation der Deutschen in Ungarn. Ob es gelingen kann, hängt von vielschichtigen Aspekten ab. Es gibt Beispiele für eine gelungene Reaktivierung einer fast schon in Vergessenheit geratener Sprache (z.B. Hebräisch, Katalanisch), aber der Erfolg ist v.a. davon abhängig, ob sich die staatlichen Institutionen dieser Aufgabe positiv gegenüberstehen und unterstützen. Die „Neubelebungsattitüde“ – also der Wille seitens der Minderheitengruppe zur Belebung der Sprache ist unter den Deutschen in Ungarn nach meiner Einschätzung vorhanden. Die Angehörigen der Minderheit, die eine Restidentität besitzen, sind häufig der Meinung, dass wenigsten ihre Kinder und Enkelkinder Deutsch auf einem sehr hohen Niveau beherrschen sollten. Unter den Jugendlichen der Minderheit wirken v.a. die positiven Signale aus der Wirtschaft und der erweiterte europäische Horizont stimulierend.

Zusammenfassung und Ausblick

In diesem Beitrag wurde die aktuelle Situation der deutschen Minderheit in Ungarn kurz skizziert und bewertet. Die politisch-gesellschaftlich dominierten langsamen Entwicklungen haben einen Punkt erreicht, wo ein qualitativer Sprung in Richtung von zwei- und einsprachigen deutschen Schulen und Kindergärten gemacht werden muss. Falls die Institutionen nämlich nicht die zur Unterbrechung des Sprachenwechsels Deutsch-Ungarisch notwendigen Rahmenbedingungen schaffen können, führt der sprachlich-kulturelle Identitätswandel zur vollkommenen Assimilation der Minderheitengemeinschaft. Die optimale Lösung wäre in diesem Bereich, wenn die Minderheitenselbstverwaltungen als Erfüllung der sog. kulturellen Autonomie selbst die Trägerschaft der kulturellen und schulischen Einrichtungen übernehmen könnten, wie dies in den erwähnten regional wichtigen Schulzentren schon der Fall ist.

Ohne Sprache gibt es keine Minderheit oder Identität. Dies ist eine Binsenweisheit, aber auch bei den Ungarndeutschen ist es eindeutig so, dass die bis jetzt geschilderte sprachliche Situation folgende Frage mit sich bringt: Kann die ehemalige Muttersprache, bzw. eine andere Varietät derselben in den Minderheiteninstitutionen neu belebt und erlernt werden? Die deutsche Minderheit in Ungarn ist ja z.T. eine Sprachminderheit, z.T. eine Gesinnungsminderheit, so dass breite Schichten lediglich für die Nachkommen oder z.T. für ihre eigene Person die Kompetenz der deutschen Sprache (wieder)herstellen wollen. Dies funktioniert laut verschiedener Meinungen im Falle von Einzelpersonen relativ einfach, wenn man aus Nostalgiegründen bezüglich der Ahnen u.dgl. dies vorantreibt, die Frage ist allerdings bei Völkern oder bei Minderheiten komplizierter. Falls der Sprachwechsel noch vor dem Ende unterbrochen wird und diese Möglichkeit besteht bei den Deutschen in Ungarn ohne Zweifel, wenn die Anzahl der Sprachkompetenzträger vergrößert werden kann, ist die Antwort auf unsere Frage ein eindeutiges „Ja“.

Allerdings sind solche Neubelebungen von Sprachen nur erfolgreich, wenn eine breite Schicht der Minderheit dahinter steht und sie vorantreibt und eine gut ausgebildete, zweisprachige, von den öffentlichen, staatlichen Institutionen unterstützte gesellschaftliche Gruppe von Intelligenzlern und „Bürokraten“ im positiven Sinne die Sache ebenfalls unterstützt. Wenn diese Anforderungen berücksichtigt werden, muss festgestellt werden, dass in den ungarländischen sog. Minderheitenschulen und -Kindergärten dieselben nur selten erfüllt werden. Ein wichtiger Punkt ist in unserem Falle, dass die Akzeptanz und das Interesse der Mehrheitsbevölkerung an der deutschen Sprache – vor allem wegen wirtschaftlicher Faktoren – z.T. vorhanden ist. Auch im europäischen Rahmen können also die Bestrebungen zur Belebung der deutschen Sprache in Ungarn positiv bewertet werden und auch die Stabilisierung der deutschen Gemeinschaft im Lande. Die Frage ist, ob es möglich sein wird und ob es gelingt, hierbei haben Deutschland und Österreich eine wichtige Verantwortung vor allem bezüglich ihrer (europaweiten und EU internen) Sprachenpolitik bzw. Volksgruppenpolitik.


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Koloman Brenner

geb. 1968, Dr. phil., Sprachwissenschaftler, VDH Budapest.

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