Die Geschichte der abendländischen Philosophie

Der Oxforder Philosoph Anthony Kenny wagt – und gewinnt


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Sir Anthony Kenny, ehemals Master des Balliol College und Warden des Rhodes Trust, Oxford, ehemals Präsident der British Academy, vor allem aber Philosoph, hat etwas getan, was schon im 20. Jahrhundert kaum mehr gewagt wurde: eine Darstellung der abendländischen Philosophie von der Antike bis zur Gegenwart. Anthony Kenny hat selbst in einer humorvollen Rede zum Abschluss seines Werkes im Oxford & Cambridge Club, London, 2007 darüber berichtet, dass es in der englischsprachigen Welt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur zwei Autoren gab, die die gesamte Philosophie darstellten: Bertrand Russell („A History of Western Philosophy“, 1945, einbändig) und der Jesuitenpater Frederick Copleston („A History of Philosophy“, 1946-1974, 1986, zehnbändig). Russell habe brillant geschrieben, sei aber nicht immer zuverlässig, Copleston sei ungemein genau, aber schwer zu lesen. Leider vereinige er, Kenny, nicht beider Tugenden in sich. Immerhin habe Russell nicht zuletzt für sein Buch 1950 den Nobelpreis für Literatur bekommen. Doch er hoffe, zumindest genauer als Russell und anregender als Copleston zu sein.

Genau und lesbar

Die Leser seiner Philosophiegeschichte in der angelsächsischen Welt haben ihm das bestätigt, mit der deutschen Übersetzung haben die Leser in der deutschsprachigen Welt nun die gleiche Chance, Philosophiegeschichte klar und anregend dargeboten zu bekommen. Dieses leicht selbstironische Understatement bestimmt auch Kennys Methode. Er habe nicht das philosophische Selbstverständnis Hegels, der glaubte (vgl. Heidelberger Vorlesungen 1816/17), Philosophie darstellen zu müssen als „organisch fortschreitendes, sich vernünftig entwickelndes Ganzes, in dem der absolute Geist systematisch zu sich selbst kommt“, worauf der Rezensent der Süddeutschen Zeitung (5.2.2013) zurecht hinwies. Es gebe, so Kenny, keine Kraft, die philosophischen Fortschritt in irgendeine bestimmte Richtung lenke; das Ziel kenne man nicht.

Diese Bescheidenheit, die nichts mit Standpunktlosigkeit zu tun hat, prägt das Werk von Anthony Kenny – und macht es zu einem unentbehrlichen Nachschlagewerk der abendländischen Philosophie. Dabei kommt ihm zugute, dass er seine erste philosophische Schulung an der Gregorianischen Universität in Rom erhielt, wo man ihn lehrte, kanonische Werke auch kritisch zu lesen: Querlesen im Geiste des Heiligen Thomas von Aquin sozusagen. Bis 1963 wirkte Anthony Kenny als katholischer Geistlicher, bevor er sich in Oxford der Philosophie ergab. Anthony Kenny versteht sich heute als Agnostiker (vgl. „The Unknown God: Agnostic Essays“, 2005, und „What I Believe“; 2006).

Von den Vorsokratikern bis heute

Er verfasste unter anderem Bücher über Aristoteles und Descartes, Thomas von Aquin, Gottlob Frege und Ludwig Wittgenstein. Die bedeutendsten abendländischen Philosophen sind und bleiben für ihn Plato, Aristoteles, Thomas von Aquin, Descartes, Kant und Wittgenstein; durch die Arbeit an der Geschichte der Philosophie habe er zudem Schopenhauer und Heidegger sehr schätzen gelernt, wenngleich er nicht sagen könne, er habe letzteren wirklich verstanden.

Anthony Kenny beschreitet in seiner monumentalen Geschichte der abendländischen Philosophie von Thales von Milet bis zu Jacques Derrida zwei Wege. Das spiegelt sicher seine eigene Bildungsgeschichte wider.

Da ist einerseits das philosophische Interesse, das er mit dem Leser teilt, das gegebene Probleme und Einsichten immer neu durchdenkt. Er skizziert die Umrisse möglicher Lösungen und lässt den Leser teilhaben an Fragen, die die Philosophie seit 2500 Jahren umtreiben. Hier ist er der „historisierende Philosoph“, der zu den klassischen Feldern der Philosophie Auskunft gibt, also über Logik, Erkenntnistheorie, Metaphysik, Philosophie des Geistes und Ethik bis hin Gott spricht.

Aus vielem eines

Als „philosophierender Historiker“ will er andererseits verstehen, in welchen geschichtlichen und sozialen Kontexten Menschen philosophisch gedacht haben. Wie entstehen Gedanken und Ideen, welche Relevanz haben sie heute noch?

Die vier Bände beschäftigen sich mit der Philosophie der Antike, des Mittelalters, der Neuzeit und der Moderne. Anthony Kenny verfolgt keine Fortschrittsidee oder gar das Walten des Hegelschen „Weltgeistes“, aber es wird doch deutlich, wie sich Sprache, Probleme und Stil des Philosophierens verändert haben; wo Fragen aufgegeben, vertieft oder neu formuliert werden mussten. Der Leser – der philosophiegeschichtlich interessierte wie der philosophisch nachdenkliche Freund der Philosophie – bekommt, was er möchte. Man könnte es auch lateinisch ausdrücken: e pluribus unum. Das ist zumindest ein bescheidenerer Anspruch als die Verkündigungen des Hegelschen „Weltgeistes“.

 

Anthony Kenny: Geschichte der abendländischen Philosophie. Vier Bände: Antike-Mittelalter-Neuzeit-Moderne. Aus dem Englischen übersetzt von Manfred Weltecke. Primus Verlag, Darmstadt 2012. 1404 Seiten, 149 Euro.

(Engl.: Anthony Kenny, „A New History of Western Philosophy“, 4 vols., Oxford 2004-2007. Taschenbuchausgabe 16,95 €)


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Dieter Jakob

geb. 1941, Anglist und Germanist, VDSt Erlangen.

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