Ego

Eigeninteressen: warum sie Sender und Empfänger nutzen und warum dennoch die einen sie nicht aussprechen und die anderen sie nicht hören wollen.


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Der Staufer Friedrich der Erste, besser bekannt als Barbarossa, war von 1155 bis 1190 deutscher König und beanspruchte als Kaiser alte und neue Hoheitsrechte des Heiligen Römischen Reiches in Italien. Zudem zerschlug er Besitztümer seiner Widersacher und führte einen Kampf gegen den päpstlichen Überordnungsanspruch. Eine geschichtliche Deutungslinie sieht als wesentliche Triebfeder seines Handelns das Bestreben, eine starke monarchische Zentralgewalt zu bewahren und auszubauen. Durch die Gründung des deutschen Kaiserreichs sieben Jahrhunderte später  wurde nach damaliger Deutung Barbarossas mittelalterliches Reich wieder aufgerichtet. Mit der Einweihung des Kyffhäuserdenkmals 1896 erreichte die Barbarossaverehrung als Nationalmythos einen Höhepunkt. Mit der Sage vom Kaiser, der im Kyffhäuser schläft und dereinst wiederkehren wird, um das Reich zu neuer Größe zu führen, sollte sich 1871 die Hoffnung auf nationale Einheit durch Wilhelm den Ersten („Barbablanca“) endlich erfüllt haben.

Warum erzählen wir diese Geschichte? Nun, sie ist aus heutiger, unverklärter Sicht als Gründungsmythos entlarvt. Die Barbarossa-Legende wurde gezielt genutzt, dem neuen Kaiserreich Sinn und Identität zu stiften, ihm eine Tradition zu schaffen, die es nicht besaß. Eine Legende ist eine Geschichte mit einem an sich wahren Kern. Sie dient jedoch in aller Regel nicht der Wahrheit, sondern dem, was wir dafür halten sollen. Legenden sollen einen ganz bestimmten Zweck erfüllen – zumeist sollen sie schlichtweg Eigeninteressen verschleiert durchsetzen. Etwa an die Macht zu gelangen oder an der Macht zu bleiben.

Die wahren Interessen bleiben dabei im Dunkeln. Man tut so als ob, um zu bekommen, was man will. In diesem Sinne stricken wir auch heutzutage alle an solchen Mythen: Dann heißt es: „Nein, um mich geht das hier nicht – aber bedenke die anderen! Die Umwelt! Den Planeten!“ Überspitzt formuliert: Die meisten Lehrer wollen für sich gar nichts, es geht ihnen um die Zukunft der jungen Menschen im speziellen und der Bildung im allgemeinen. Eltern rackern nur für die Kinder, Bauern nur für die Landschaftspflege und gesunde Lebensmittel und auf keinen Fall wegen reichlich fließender Subventionen. Banker wollen nichts lieber als schnell und unbürokratisch helfen, wenn Unternehmen einen Kredit benötigen, und sie sind überglücklich, wenn sie einem kleinen Sparer durch gute Anlagetipps eine bisschen Freude bereiten können.

Die Journalistin und Buchautorin Angela Elis nennt das die „Betrüger-Republik Deutschland“. Frau Elis findet das nicht reißerisch, sondern angemessen: „Wo man hinkommt“, schreibt sie, „wird so getan als ob, überall trifft man auf diese Fassadenpersönlichkeiten.“ Zuweilen habe sie den Eindruck, „dass entscheidend ist, wie wir das, was wir tun, darstellen, nicht, was wir sind und wollen. Nur bloß nicht sagen, was man wirklich will – darauf setzen alle ihre Energien.“

Nur wer die Interessen des Gegenübers kennt, kann vertrauen

Dieses falsche Spiel entfaltet jedoch eine zunehmend zerstörerische Wirkung. Denn: In unserer Wissensgesellschaft ist eine Kommunikation, bei der vertrauenswürdige, zuverlässige Inhalte ausgetauscht werden, die Grundlage aller Entscheidungen. Vertrauen ist in der heutigen Wirtschaft gleichsam das, was im Industriezeitalter Kohle und Stahl waren. Wo sich die Absicht aber nur vermuten lässt, blüht das Misstrauen – und die Reaktion darauf ist uns zumindest auf dem Finanzmarkt wohlbekannt. Natürlich sind wir alle nicht naiv. Jeder Mensch hat eigene Interessen. Doch alles erschließt sich erst durch einen zweiten Blick. Es bleibt uns gar nichts anderes übrig, als erst einmal zu interpretieren, was jemand wirklich sagen will. Schlimm, sagt die Autorin Elis, sei ja nicht, „dass Leute mal lügen, das tun wir alle. Schlimm ist das Systemische daran, dass nämlich gar keiner mehr sagt, was er wirklich im Schilde führt und dadurch das Leben und die Geschäfte immer schwieriger und aufwendiger werden.“

Gut 80 Jahre vor Christi Geburt formulierte der römische Politiker und Philosoph Cicero sein „cui bono“, übersetzt: „Wem nützt’s?“. Wir haben gelernt, beim Eintritt eines Ereignisses danach zu fragen, in wessen Interesse es liegt. Dabei wird aber immer öfter vergessen, dass die Frage „cui bono?“ keine eingebaute Erkenntnisgarantie hat. Dass jemandem etwas nützt, ist noch lange keine Garantie für die Täterschaft. So führt Ciceros berühmte Formel manchesmal in die Irre, denn wir müssen interpretieren, was das Gegenüber uns sagen wollte – und machen es uns allzu oft zu einfach.

Das führt dann zu wilden Verschwörungstheorien: Etwa jener, nach der allein das Interesse des Kapitals den Weltfrieden gefährdet; und dabei über Leichen geht. Zwar weiß man eigentlich, dass Krisen komplex sind, mit vielen Ursachen, die aus ebenso vielen, häufig einander diametral entgegengesetzten Interessen bestehen. Verschwörungstheoretiker aber lieben das einfache Interesse, die überschaubare Vorteilnahme im Zeichen des bösen Kapitals.

Die Kosten, verursacht durch die Verschleierung von Eigeninteressen, sind also durch die stets notwendige Interpretation und den gefährlichen Interpretationsspielraum nicht zu unterschätzen. Die Vorteile, mit offenen Karten zu spielen sind – aus der reinen Beobachterrolle – demnach eindeutig: Das eigene Interesse am Handeln legt uns fest. Es macht Menschen berechenbar, verstehbar. Wenn jemand sein Interesse klarmacht, dann wissen wir, woran wir sind. Wir können uns ein Urteil bilden und entscheiden.

Interessen gelten als unschick

Und warum sprechen wir dann nicht aus, was wir sind und was wir wollen? Weil die wahren Interessen niemand hören mag! Zur Verdeutlichung zurück zum Beispiel der kapitalistischen Eigeninteressen. Dort lässt sich bei vielen die Neigung beobachten, monetäre Eigeninteressen per se schlecht aussehen zu lassen. Wem nützt’s? Nicht immer, aber oft genug lautet die Antwort: all jenen, die sich ihr wahres oder vermeintliches Unglück nicht erklären können oder wollen. Wie eh und je warten sie auf jemanden, der sie erlöst – und sei es nur mit der Nachricht, dass jemand anderer schuld ist an der eigenen Misere. Es ist zwar kein schönes Gefühl, wenn man sich als ohnmächtiges Objekt fremder Mächte fühlt – aber es hilft schon ein wenig, wenn man sich sagen kann, dass jemand die Strippen zieht und man sich als Opfer verschwörerischer Interessen wähnen kann. Dazu gehört der feste Glaube daran, dass wer immer ein Interesse verfolgt, natürlich andere einschränken muss. Dass jemand bekommt, was er will, ohne dass es anderen schadet, widerspricht unserem instinktiven Empfinden. Das persönliche Interesse gilt als Gegenspieler des Gemeinwohls! Etwas leisten und dafür Geld verlangen? Verdienen und am Ende gar Profit machen wollen? Das gilt im juste milieu als unschicklich. Das Leben – so wollen uns die Gutmenschen weismachen – soll plötzlich ein Ehrenamt sein. Und weil es so scheint, dass die Mehrheit der Bevölkerung mittlerweile diese Ansicht teilt, spielen Politik, Bürger und Unternehmen eben jenes Theater mit.

Zwischenfazit: Immer größere Teile der Gesellschaft wollen egoistische Motive nicht hören, weil sie diejenigen vermeintlichen Interessen verdammen, die sie meinen, hinter dem öffentlichen Gesagten vermuten zu müssen.

Um zu sehen, dass das einmal anders war, müssen wir gar nicht sehr weit zurückschauen. Zu deutschen Wirtschaftswunderzeiten war nicht alles besser, aber manches klarer: Interesse war das, was einer bestimmten Person oder einer Gruppe nützte, und man schämte sich nicht dafür, das auch zu sagen. Um die Interessen in einer Gemeinschaft durchzusetzen, organisierte man sie – man fasste sie in Interessengruppen zusammen und unterstützte dann jenen Teil der Gesellschaft und politisch jene Partei, die am ehesten die Durchsetzung der eigenen Interessen versprach.

Früher fand es niemand sonderbar, dass bei Tarifverhandlungen Gewerkschafter für ihre Mitglieder mehr Geld für weniger Arbeit forderten; was denn auch sonst? Und dass Arbeitgeber lieber nicht so viel zahlen und ihre Mitarbeiter lieber ein bisschen mehr arbeiten lassen wollten. Gewiss, gelegentlich wurde auch damals schon das Gemeinwohl beschworen, wo es bloß um den eigenen Nutzen ging. Aber so vordergründig hintergründig wie heute agierte man weiland nicht.

Wo heute mehr Lohn gefordert wird, geht es nicht mehr um die eigenen Vorteile, sondern, heißt es, um das Wohl der Volkswirtschaft als Ganzes, deren Binnenkonjunktur unter zu geringen Abschlüssen natürlich leidet.

Altruismus und Irrationalität

Um zu verstehen, warum das einmal anders war, müssen wir uns freilich geistig zum Ende des 16. Jahrhunderts zurückbegeben, als das organisierte Eigeninteresse die historische Bühne betrat. Der folgende Abschnitt ist aus Wolf Lotters Aufsatz „Was ihr wollt“ übernommen; er bringt den entstehenden Konflikt auf den Punkt:

„Irgendwo in der spanischen Mancha sehen wir den tragischen Helden seiner Zeit, Don Quijote, den Ritter von der traurigen Gestalt, der auf seinem armen Gaul Rosinante gegen die Windmühlen kämpft, begleitet von seinem treuen Diener Sancho Panza, der seinem Herrn unter anderem das Wissen voraushat, dass die Zeiten sich geändert haben.

Der Roman ist vielfach und sehr unterschiedlich interpretiert worden. Keine Kontroverse gibt es aber darüber, dass Cervantes‘ Held uns den Zeitgeist unter den europäischen Eliten seiner Ära vor Augen führt. Allmählich gewinnen die ersten zarten Ideen der Aufklärung und der Vernunft an Boden. Man fragt sich, was Menschen wirklich bewegt. Was es abseits der heroischen, der edlen Motive, wie sie bis dahin idealisiert werden, noch gibt. Was treibt uns außer Glaube und Moral noch an?

Don Quijote ist der Repräsentant der Alten Welt, ritterlich, emotional, ein Held, der schnödes, weltliches Interesse weit von sich weist. Das mag manchen nett erscheinen, doch Cervantes hat ein Bild seiner berühmtesten Figur hinterlassen, bei der die heroischen Leidenschaften das sind, was sie sind, nämlich ‚närrisch oder gar schwachsinnig’. Don Quijote ist liebenswert. Aber zweifellos ein Idiot und ein gefährlicher obendrein“.

Interesse, das steht damals bereits für Vernunft, für zielgerichtetes Handeln und – das Allerwichtigste – für Berechenbarkeit. Dem gegenüber stand die Welt der Leidenschaftlichen. Doch das waren eben nicht, wie man heute verharmlosend meint, sensible Haudegen mit dem Herzen auf dem rechten Fleck, sondern überwiegend brutale Affektmenschen, die, wenn ihnen etwas nicht passte oder sie nach etwas verlangten, kurzerhand dreinschlugen, ohne Rücksicht auf Verluste. Das war kein Geheimnis.

Der Einzug des rationalen Eigeninteresses in das Denken der Menschen war darum ein Fortschritt. Wer lernte, in Interessen zu denken statt in Gefühlen, der, konnte man annehmen, würde sich ganz von selbst zusammenreißen und nicht jeder Versuchung erliegen. So wurde dann im 17. und 18. Jahrhundert das Wort „Interesse“ der Inbegriff der Rationalität. Das Interesse, Geld zu verdienen, ja, Profit zu machen, galt keineswegs als unmoralisch – und man verfolgte sein Interesse mit gesundem Egoismus. Das englische Wort für Zins („interest“) bezeugt die neue Einstellung bis heute.

Am anschaulichsten zeigte uns der Ökonom (und Moralphilosoph) Adam Smith, wie wichtig das persönliche Interesse für die Entwicklung der Gesellschaft war. Denn in Gemeinschaft kommt man viel eher zu Besitz als in dem einsamen und verlassenen Naturzustand. Die Gedankenkonstrukte von Moral und Gemeinwohl waren Mittel zum Zweck – und zum Wohlstand aller. Der Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe von der Goethe-Universität in Frankfurt sieht es so: „Der interessierte Bürger weiß, dass das System die Voraussetzung für seinen Erfolg ist. Der gierige Mensch hingegen gefährdet das System. Es hat aber keinen Sinn, seine Grundlagen zu zerstören. Interesse ist Leidenschaft unter Kontrolle.“

Nun, warum aber hat sich das Bild des Interesses so geändert? Und warum gilt so vielen das Engagement für ihre eigene Sache als unvereinbar mit den Zielen der Gemeinschaft? Der emeritierte Princeton-Professor Albert O. Hirschman schreibt das dem Umstand zu, dass das materielle Interesse im 19. Jahrhundert die alten Leidenschaften so erfolgreich verdrängt, beziehungsweise unter Kontrolle gebracht habe, „dass die Welt auf einmal leer, trist und langweilig“ schien. Damit sei „die Zeit reif gewesen für die romantische Kritik an dieser bürgerlichen Ordnung, die im Vergleich zu früheren Epochen jetzt ungeheuer armselig wirkte“. Keine Helden, nur ein interessiertes Publikum, dem es um die Mehrung weltlicher Güter ging, während Abenteuer etwas für Außenseiter geworden waren. Schon damals galt die Vernunft als öde. Und diese „nostalgische Kritik“, so Hirschman, durchzieht dann das ganze Jahrhundert – von Karl Marx, der das Interesse als Hauptfeind entdeckt, bis hin zu „Freuds These, dass die Unterdrückung der Libido eben der Preis des Fortschritts sei“. „So“, sagt Werner Plumpe, „fing man im 19. Jahrhundert an, den interessierten Bürger, den Unternehmer auf ein einziges Leitmotiv, auf eine einzige Absicht zu reduzieren: sein Profitinteresse. Marx macht daraus einen romantischen Kampf, in dem es Gute gibt und Böse, und gut sind die ohne, böse die mit Interessen. Wer Interesse zeigt, der führt nichts Gutes im Schilde – das hat sich seither durchgesetzt, und in den jetzigen Krisenjahren verstärkt sich das noch.“.

Dass man sein Interesse nicht offen zeigen darf, sondern immer andere, gemeinwohlige, allgemein gute oder politische Gründe vorschieben muss, liegt genau daran: dass die Menschen ein gestörtes Verhältnis zu dem haben, was Wirtschaft kann und was materielle Interessen leisten können.

Plädoyer für einen gesunden Egoismus

Aus gesamtgesellschaftlicher Sicht dient die Ökonomie schlicht dazu, dass Güter und Dienstleistungen in annehmbarer Qualität zu angemessenen Preisen zur Verfügung stehen. Die Leute verlangen aber längst nach mehr: nach Sinn, nach einem erfüllten Leben, nach Antworten auf alle ihre Fragen; nach ein wenig Erlösung also. Das ist Fortschritt und zu beglückwünschen. Doch wenn das nicht klappt, wenn die Ökonomie den „Sinn“ nicht liefert, den sie letztlich gar nicht liefern kann, gibt man dem System die alleinige Schuld.

Es braucht aber Bürger, die sich ihrer Fähigkeit zum eigenständigen Handeln, zum Aufspüren und Durchsetzen ihrer Interessen nicht entwöhnen. Sie müssen mündige und am öffentlichen Leben interessierte Teilnehmer sein, die sich in Wahrheit und Offenheit um wenig anderes kümmern, als um sich selbst.

Denn die bürgerliche Gesellschaft und unsere Demokratie bestehen eben darin, dass ihre Bürger vernünftig, also aus Eigeninteresse, an ihr beteiligt sind, und dass sie das auch so sagen und klarmachen können.

Es braucht eine Kultur, in der Mittel gefunden werden, mit denen man erreicht, was man will, ohne damit anderen zu schaden. Und es braucht eine Kultur, die diese Mittel anerkennt und den ehrlichen Weg belohnt. Das persönliche Interesse ist kein Gegenspieler des Gemeinwohls. In einer solchen Kultur ist Interesse wieder mehr als eine alte Legende. Einer Kultur, in der man nicht bloß sagen darf, was man will. Sondern muss.


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Andreas Bruckner

geb. 1985, Volkswirt, VDSt München.

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