Ein Jahr in China

Es gibt Erfahrungen, die werden als fascinosum et tremendum wahrgenommen, fesselnd und beängstigend zugleich. Mit diesen Erlebnissen ist eine eigene Art von Schönheit verbunden, die gerade in der Kombination aus Bekanntem und Unerwartetem besteht. In der Volksrepublik China lässt sich dieser Eindruck leicht gewinnen. Von seinen Erfahrungen berichtet der ferngereiste Jonathan Schreck.


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LIEBER BUNDESBRUDER SCHRECK, DU HATTEST VON EINEM INTERESSANTEN  AUFENTHALT  ERZÄHLT. WO WARST DU, WAS HAT  DICH HINGETRIEBEN?

Ich war 2012/2013 ein Jahr in China, nach der zehnten Klasse. Dieser Gedanke, so ein Auslandsjahr zu machen, hat sich erstmals gebildet, da war ich zehn, zwölf Jahre alt, wahrscheinlich, durch Dokumentationen von Menschen, die ins Ausland gehen. Das war so der Anstoß. Meine Familie hat das ziemlich unterstützt. Die hat auch viel Erfahrung mit dem Ausland. Mein Großvater war Missionar in Afrika gewesen und dementsprechend ist auch mein Vater in Afrika geboren und aufgewachsen, ist in Constantine (Algerien) auf ein französisches Internat gegangen. Meine Mutter ist mit Städtepartnerschaft betraut. Beide Großväter haben lange Zeit in den USA gelebt und sind dort zur Universität gegangen. Die Kombination der verschiedenen Erzählungen hat mich dann zur Frage getrieben, in welches Land ich gerne gehen würde. Nicht in die USA, die uns so ähnlich sind, dass sie mich nicht aus meiner Komfortzone herausbringen würden. Ich hatte das Gefühl, dass ich in China mehr erleben kann, mehr andere Sachen mitnehmen kann.

UND WAS HATTEST DU DIR ERWARTET IN CHINA AN NICHT-AMERIKANISCHEN ERFAHRUNGEN?

Ich glaube, das war vor allem etwas Abstraktes. Diese Begriffe, mit denen man immer um sich wirft, andere Kultur, andere Menschen kennen lernen, andere Kulturen verstehen, das ist etwas, wenn man tatsächlich im Ausland ist, auch ganz anders wahrnimmt, als wenn man das vorher plakativ, fast gebetsmühlenartig, wenn danach gefragt wird, so runterspult. Aber das konkret zu greifen, fällt einem doch eher schwer, weil man dann insgesamt die Erfahrung macht, so unterschiedlich sind die Menschen nicht, und gleichzeitig erlebt man doch so Sachen, die man hier nicht erlebt hätte. Wenn man wirklich drinsteckt in einer Kultur und sie so kennenlernt, ist es fast schwerer zu sagen, was die Kultur ist. Zum einen, weil sie selbstverständlicher wird, und zum anderen, weil man auch mehr die Gemeinsamkeiten im Fokus hat.

WAS WÜRDEST DU DENN SAGEN, WAS WAR DAS SELBSTVERSTÄNDLICHSTE, ODER WO WARST DU VIELLEICHT SOGAR ENTTÄUSCHT, WEIL DU DACHTEST, DAS SOLLTE EIGENTLICH ANDERS SEIN?

Also, man hat ja viele Bilder von China, dementsprechend hat man auch vieles zutreffend erwarten können. Was mich sehr gewundert hat – und was auch sehr ähnlich ist wie in Deutschland –, ist der Umgang mit Fast Food. Es gibt dort einfach auch sehr viele Starbucks, sehr viele McDonald’s, KFC und so weiter. Da ist wiederum der Unterschied, dass das aus irgendeinem Grund in China als ganz besonders gutes Restaurant angesehen wird, und da kann man auch schon mal mit der Familie zum KFC gehen. Die haben sogar Weihnachtsmenus und so weiter, so dass man sogar an Weihnachten zum KFC gehen kann.

IST DENN DA ÜBERALL ZIMT DRAUF ODER WAS?

(Lacht.)

Ich war nicht an Weihnachten im KFC, das habe ich mir dann doch nicht angetan. Man kann das ja auch in Deutschland machen, aber Familien gehen wirklich zu McDonald’s und feiern dort ihre Geburtstage.

UND WAS WAR AUF DER ANDEREN SEITE DAS BEFREMDLICHSTE?

Wie stark diese Indoktrinierung und diese Charakterbildung durch die Schule und durch Autoritätspersonen die einzelnen Individuen wirklich formen. Es gab nur eine Lehrerin, die ganz offen gesagt hat, also das und das, was Mao gemacht hat, war schlecht, ohne das jetzt in extremem Maße zu relativieren, und zwar über das Maß hinaus, okay, der hatte gute Absichten, sondern „der Große Sprung nach vorne“, der war tatsächlich gut. Gleichzeitig auch die Schüler, die daran glauben.
Ein sehr viel und offen reflektierender Mensch, der in so ein System hineinkommt, erlebt dann einmal wöchentlich „Volksliebe-Unterricht“, wo man einen Lolli bekommt, wenn man China besonders lobt und irgendwelche besonders tollen Sachen über China sagt, und wo auch jede Woche ein Schüler eine Präsentation machen muss, wo nichts Böses über China gesagt werden darf, sondern einfach: „Wunderbar, so toll ist China!“, da lacht man natürlich so ein bisschen drüber. Und gleichzeitig merkt man natürlich auf der anderen Seite den Druck, der dahinter steht. Wenn Lehrer anfangen zu weinen, wenn sie ihr Programm nicht durchziehen können, etwa bei Aufführungen. Und die trotzdem weitergemacht haben. Diese Mentalität in der Schule und insgesamt im ganzen Land, die habe ich sehr unterschätzt. Das war auch am Anfang sehr wenig offensichtlich. Man hat erst so mit der Zeit erlebt, wie dieser Drill, natürlich auch gerade militärischer Drill in Form von täglichen Übungen und auch einer kurzen Militärausbildung am Anfang bei uns, wirklich massiv auf die Charaktere einwirkt.

HATTEST DU GELEGENHEIT, DICH MIT DEN CHINESEN VOR ORT ODER ANDEREN EUROPÄERN AUSZUTAUSCHEN?

Also, ich hatte sehr großes Glück. Ich war an einer Schule mit sehr vielen anderen Ausländern, die sehr viele Austauschschüler aufgenommen hat. Wir hatten bei uns drei Italiener, eine Schweizerin und später noch einen Venezolaner auf der Schule und zusätzlich noch eine „Extra-Abteilung“ mit zwölf Thais, die eben auch von der Mentalität ein bisschen ähnlicher waren. Es ist schon ein großer Unterschied, wofür ich auch sehr dankbar bin, weil die Chinesen einfach keine Zeit hatten. Als wir in Harbin angekommen sind, hat mein Gastbruder hat zu mir gesagt: „Jetzt bin ich momentan noch ein bisschen beschäftigt, aber ich freue mich, dass du da bist, und in drei Monaten habe ich wieder Zeit, da können wir dann was zusammen machen.“ Und das ist natürlich so in der Familie. In einer deutschen Familie hättest du niemals gesagt: „In drei Monaten können wir mal was zusammen machen. Da gehen wir mal in den Park oder so.“ Also, die Zeit ist einfach nicht da. Und da ist es sehr gut, wenn man andere Ausländer hat, mit denen man eben seine Wochenenden verbringen kann, mit denen man auch in der Schule Sachen machen kann. Andere Austauschschüler, die allein in der ganzen Stadt waren, hatten da schon deutlich mehr Probleme, konnten aber im Zweifelsfall auch deutlich mehr Chinesisch, weil sie sich mit den Leuten eben auch sehr viel auseinandersetzen mussten.

WIE VIEL CHINESISCH KONNTEST DU, WIE VIEL HAST DU ERWORBEN IN DER ZEIT?

Zum Beispiel bei der Fuxentagung in Göttingen habe ich mich mit einem anderen Fuxen, der auch Chinesisch konnte, auf Chinesisch unterhalten können. Als ich nach Hause zurückgekommen bin, konnte ich über Alltagsthemen fließend sprechen, ich hatte da mein B1-Diplom gemacht. Wir hatten zwölf Zeitstunden Schule jeden Tag, davon jeweils mindestens drei Stunden Chinesisch-Unterricht, an den meisten Tagen sogar fünf Stunden, und der Rest eben in normalen chinesischen Klassen auf Chinesisch. Mein Chinesisch-Lehrer hat gesagt, zehntausend Zeichen kann er, zwölftausend traut er sich zu, und er hat jeden Tag zwanzig Seiten im Wörterbuch gelesen, also das Wörterbuch wirklich gelesen, damit er als Chinese, der Chinesisch lehrt, sich die unmöglichsten Zeichen merken kann. Das ist halt sehr, sehr schwierig.

WENN MAN SO DIE STATISTIK SICH ANGUCKT, LERNEN DIE MEISTEN AUS LÄNDER ANFANGS RECHT ÜBLE DEUTSCHE WORTE. WIE SIEHT DAS IM
CHINESISCHEN AUS, DAS JA EINE GROSSE HÖFLICHKEITSKULTUR HABEN SOLL?

Das ist richtig. Das ist ganz lustig, ich habe auch in der Gastfamilie niemals solche Wörter gelehrt bekommen. Das war dann tatsächlich so, wenn man irgendwo in die Disco gegangen ist, irgendwelche Bekanntschaften gemacht hat, und dann ältere Jungen vor allem, die schon in der Universität waren – was ein bisschen lustig war, ich war zu dem Zeitpunkt sechzehn Jahre alt und konnte in China in jede Disko reingehen –, und die waren zwanzig, fünfundzwanzig, und man hatte irgendwie das Gefühl, man ist reifer als die. Aber die haben dann solche Wörter beigebracht, oder andere Austauschschüler haben welche gelehrt bekommen und haben die direkt ausgetauscht, Aber ja, diese Höflichkeitsbarriere ist auf jeden Fall da. Das ist schon noch mal was anderes.

DU KOMMST AUS EINER SEHR SCHÖNEN STADT, DIE ABER NICHT DER WELTGRÖSSTE IST. WIE KAM DIR DA CHINA VOR?

Ich komme aus Pforzheim, 120.000 Einwohner. Also London und Paris hatte ich schon gesehen, aber China ist nochmal eine andere Liga. Also die Stadt, in der ich war, war natürlich für China eine Kleinstadt, 5,4 Millionen Einwohner nach westlicher Zählung, Chinesen nehmen immer noch das Umland mit rein, es sind ja letzten Endes auch riesige Agglomerationen mit verschiedenen Stadtkernen, und dann kommt man auf zwölf Millionen. Und wenn man dann erst einmal eine Stunde vom Flughafen zur Wohnung fährt und dann nochmal eine Stunde weiter in die Stadtmitte, das ist schon etwas, das man so nicht erlebt in Europa.

AUSSER, MAN LEBT IN MÜNCHEN.

(Lacht.)

Ja, aber da liegt es vielleicht eher am Stau. Man fährt halt die ganze Zeit durch eine Stadt hindurch. Man landet am Flughafen, man sieht Häuser, und die Häuser sehen auch alle gleich aus. Viertel, das wären in Deutschland schon einzelne Städte, Kleinstädte zwar, aber einzelne Städte, und in diesen Vierteln sehen alle Häuser gleich aus. Es ist ein anderes Gefühl. Chinesische Städte sind auch nicht so schöne Städte. Die haben zwar ihre Prestigebauten, die alte Innenstadt wurde für chinesische Verhältnisse sehr schön, allerdings für westliche Verhältnisse sehr künstlich wirkend, restauriert. Chinesische Städte sind so eine Mischung aus Chaos – ständig wird überall gebaut – und Stau. Und das ist am Anfang relativ belastend, man verliert schnell den Überblick. Im Kleinen sieht alles gleich aus. Man kann sich schnell verirren, man weiß nicht, welches Haus ist jetzt welches. Im Großen ist es durch die gewaltige Größe der Stadt. Wenn man mal in den falschen Bus steigt, dann kann man das auch sehr spät bemerken, und dann ist man eine halbe Stunde rein in eine Stadt, von der man keine Ahnung hat.

HAST DU EINE AUSSENSEITERPOSITION BEHALTEN? HAST DU DICH INS KOLLEKTIV GEFÜGT?

Also, ich habe das relativ selten erlebt, dass sich Leute komplett wie Chinesen fühlen, „Ja, das ist meine Kultur, hier fühle ich mich zuhause.“ Ich glaube, die meisten kehren nach Hause zurück mit dem Gefühl, ich bin mit meiner Kultur hingegangen und komme mit meiner Kultur und einer anderen zurück, aber das heißt jetzt nicht, dass das mich irgendwie – abgesehen vielleicht von meinem Horizont – verändert hat.“ Und bei mir ist das genauso. Wenn man dann mit anderen Ausländern zusammen in einem Café sitzt, sich über die Kultur unterhält, dann bildet man so eine Insel in diesem großen Kollektiv, die sich darüber lustig machen kann. Es gab viele Momente, wo ich das bedau ert habe, wo ich das Gefühl hatte, ich hätte noch mehr mitnehmen können. Unsere Kulturen sind sich auch nicht so fremd, wie man das vielleicht denkt. Man muss schon sehr tief in der chinesischen Kultur drin sein, um die Schwächen sehen zu können. Man hat einfach vom  Charakter her in unserer Kultur eine viel schnellere, tiefgreifendere Entwicklung. Schon wenn man sagt „Chinesen“: Das wirkt immer so extrem stereotyp, aber meiner Erfahrung nach haben Chinesen keine Zeit, in ihrem Schulsystem in ihrer Art dieser drillhaften Erziehung auch, sich persönlich zu entwickeln. Man hat einfach das Gefühl, man spricht mit Leuten, deren biologisches Alter ihrer charakterlichen Entwicklung zehn Jahre voraus ist. Da sind wirklich Mädchen, siebzehn, achtzehn, die sich nicht mit dir unterhalten können, weil sie dich toll finden. Das Gesicht mit den Händen bedecken und weglaufen, also derartiges. Vielleicht wird das ein oder andere in Deutschland zu stark durchgelassen. Da ist die Schule Wohlfühlplatz, vielleicht in zu starkem Maße. Aber an und für sich ist in China dieser extreme Drill in seiner Form für die Charakterentwicklung destruktiv, und dieses „reingezogene“ Wissen nicht wertvoll genug, um das auszugleichen. Wir haben alle Wikipedia, wir haben alle Fachbücher, in denen wir nachschlagen können, alle Ressourcen, mit denen wir dieses spezielle Wissen nach lesen können. Dieser kreative Ansatz fehlt da. Und das schränkt die einzelnen Schüler ein.

SIEHST DU EINEN ZUSAMMENHANG ZWISCHEN DIESER BESCHRÄNKUNG UND DEN LIMITATIONEN DES INTERNET ZUGANGS, DER „ÖFFENTLICH ZUGÄNGLICHEN QUELLEN“?

Ich weiß nicht, da schwingt man sich auch in Deutschland immer auf das hohe Ross. Jede Kultur hat so ihre Schwachpunkte. Bei uns ist es vielleicht der Umgang mit dem Nationalsozialismus, oder auch mit dem Ersten Weltkrieg, den wir immer sehr aus der Täterperspektive sehen. Und die Chinesen haben auch eine besondere Art, mit der Kulturrevolution, mit der noch immer bestehenden Diktatur umzugehen. Auf der einen Seite gewährt diese erstaunlich viele Freiheiten, gerade, was das Ökonomische angeht, also wo der absolute Kapitalismus herrscht und Banken erstaunliche Freiheiten bekommen. Auf der an deren Seite, gerade was das Internet angeht: Man kann nicht Tian’anmen Square auf Wikipedia nachlesen. Es gibt auch anscheinend Angebote, nicht für Ausländer, für „richtige“ Chinesen, die schön an die Partei glauben, dass man Webseiten, die auf die eine oder andere Weise gefährlich sind oder als solche wahrgenommen werden, melden kann, und dann gibt es einen Lohn dafür. Das ist wirklich sehr umfassend. Dementsprechend hatten sich dann auch fast alle Ausländer ein VPN zugelegt –  vergleichbares können natürlich auch Chinesen machen –; erstaunlich auch, wie viele Chinesen zum Beispiel Facebook haben, das auch komplett gesperrt und verboten ist – aber es ist so ähnlich wie in Kuba. In einer bis zu einem gewissen Grade freien Gesellschaft funktionieren solche Gebote nur bei denen, die auch ideologisch das nicht wahrnehmen wollen.

SIEHST DU DARIN SO ETWAS WIE DEN ANFANG EINER GESELLSCHAFTLICHEN BEWEGUNG, ODER WIRD DAS EINFACH TOLERIERT INNERHALB DER STAATSDOKTRIN?

Ich glaube, so reformwillig, wie China sich manchmal gibt, ist es nicht. Auch in Hongkong passiert zu wenig, die Forderungen sind immer noch sehr, sehr groß. Beispielsweise, wenn zwar die chinesische Regierung Hongkong auch als Autonome Region versteht, ist es doch noch sehr unter der Fuchtel von Peking. Ich hatte das Gefühl, wenn es tatsächlich mal zu einem Punkt kommt, wo das chinesische Volk absolut nicht mehr zufrieden ist mit seiner Regierung, dann könnte das gerade zu explosionsartig werden. Bei Chinesen gibt es halt erstaunliche Szenen. Ein Chinese wurde mal nicht in den Bus gelassen, weil er kein Geld da bei hatte, und angetrunken war. Er ist dann auch weggegangen und später mit zwei, drei Freunden vorbeigekommen und hat den Busfahrer zusammengeschlagen. Da ist irgendwas Unterdrücktes da. Aber ich glaube nicht, dass das innerhalb der nächsten zwanzig Jahre passiert. Und das hat zwei Gründe. Zum einen ist der  durchschnittliche Chinese ziemlich zufrieden mit seiner Situation. Spätestens seit Deng Xiao Ping hat China einen unglaublichen Weg beschritten von mehr oder weniger diplomatischer Impotenz zu einem Land, das wirtschaftlich und diplomatisch extrem stark ist, zahlenmäßig die größte Armee hat und jetzt auch den verhassten Japanern endlich Paroli bieten kann, wo sich das Gewicht der Mächte  verschoben hat zugunsten Chinas. Ohne die USA wäre Japan da ziemlich in Bedrängnis, auch wenn China keinen richtigen Krieg anzetteln würde. Dazu sind sie viel zu pazifistisch. Aber auch mit dem Inselbau und so weiter. China ist sich schon sehr bewusst, dass es stark ist. Sie wollen keine Kriege führen, aber sie setzen ihre Politik durch und nehmen nicht so viel Rücksicht, wie man viel leicht denkt.

UND ZUM ZWEITEN?

Zum zweiten ist das Gewaltmonopol sehr stark beim Staat. Natürlich ist das bei Diktaturen sehr häufig so, dass der Staat sehr stark wirkt, aber gerade China mit einer riesigen Armee, mit keinen Waffen beim Volk – nicht mal der normale Verkehrspolizist hat eine Schusswaffe, da sieht man meistens Knüppel. Und wenn man solche Szenen sieht, hat man schon das Gefühl, dass da im Zweifelsfall einfach der Staat deutlich bessere und mehr Karten in der Hand hält, wenn es da zu Ausschreitungen kommen sollte. Und durch reinen Protest, glaube ich nicht, dass sich da was verändern würde. Vielleicht ist das ganz gut mit der DDR zu vergleichen, da hat der friedliche Protest ja zu einer Veränderung geführt, aber da war man ja auch jahrzehntelang unzufrieden mit der Situation, und es hat trotzdem sehr, sehr lange gedauert, bis das Regime zusammengebrochen ist. Und in China ist nochmal der Unterschied, dass die Menschen zufrieden sind.

HAST DU VONSEITEN DEINER GASTGEBER INTERESSE AN DIR, AN DEUTSCH LAND, AN DER „SCHÖNEN NEUEN WELT“ VERSPÜRT?

Das Wahrnehmen einer „schönen neuen Welt“ hat man schon. Deutschland, reiches Land, das Land von VW, Mercedes, Audi und so weiter. Aber vor allem ökonomisch. Es ist nicht das Land der persönlichen, individuellen Freiheiten, in dem man man selbst sein kann, sondern ein Land, in dem man reich sein kann. Man hat sich nie groß über Staatsformen unterhalten. Schon über Globalpolitik. Auf der einen Seite China und Russland, auf der anderen Seite die USA, und da kam auch die Ansage, die USA mögen wir einfach reicht, weil die mit den Japanern zusammen sind, die Japaner hassen wir. Das wäre richtig schlimm, das wäre das Schlimmste für sie, wenn Europa auf der Seite der USA wäre und dann gegen China  kämpfen würde. Das war das einzige Politische.

GAB ES ANFRAGEN, WAS DICH BEWOGEN HAT, IN DEM ALTER IN EIN FREMDES LAND ZU GEHEN?

Das kommt jedes Mal, wenn man sich mit Europäern unterhält und das zur Sprache kommt. Sechzehn, in ein anderes Land gehen, warum denn sowas? Die Chinesen haben die genau umgekehrte Sichtweise. Natürlich will man nach China, China ist toll.

(lacht)

WÜRDEST DU ES DEN ANDEREN EMPFEHLEN, SO EINEN AUSTAUSCH ZU MACHEN?

Auf jeden Fall. Es gehört eine Offenheit dazu, man darf keine Angst haben, ins kalte Wasser geschmissen zu werden. Erfahrungsgemäß lösen sich alle Probleme auf. Man läuft nicht gegen Wände und kommt nicht durch. Aber man darf keine Angst haben, darauf zuzulaufen. Ich glaube, jeder, der bis zu einem gewissen Grad Interesse hat, der sich das vorstellen kann, für den ist es eine super Erfahrung, die einen persönlich weiterbringt, die einem Erfahrungen bringt, die man auf andere Art und Weise nur sehr schwer bekommen kann, und zwar nicht nur die Sprachkompetenz, die nicht nur so unglaublich viel schneller, leichter und auch spaßiger erreicht werden kann – ich habe Leute getroffen, die haben acht Jahre lang in der Schule Chinesisch gelernt, und die hatten einen Chinesisch-Stand wie ich nach drei Monaten. So eng in diesem System eingebunden zu sein, das erlaubt einem natürlich auch eine einmalige Sicht, gerade in einem Alter, in dem man das vielleicht noch mehr wahrnehmen kann, mehr Kompromisse auch zwischen dem, was man mit sich mitgebracht hat, und dem, was man vorfindet, eingehen kann. Diese Mischung aus Sprache, Kultur, persönlichen Kompetenzen, Probleme anzugehen, zu lösen, Freundschaften einzugehen … wenn man einmal diese Erfahrung gemacht hat: ich bin auf so viele Menschen zugegangen, das hat immer geklappt, dann hat man auch keine Angst mehr, Menschen anzusprechen. Und dem entsprechend entwickelt man sich persönlich in eine Richtung, in der man viel leichter mit Menschen umgehen kann, in der man Menschen auch als Schlüssel sehen kann und einfach sehr viel einfacher hineinkommen kann. Und dadurch, dass Probleme nie alleine im Raum stehen, man hat entweder Menschen um einen herum oder Menschen, die Teil des Problems oder Teil der Lösung sind. Man kann immer über Menschen Probleme lösen. Das ist der Hauptpunkt, neben Sprache und Kultur, den man mitnehmen kann: dass man über Menschen Probleme lösen kann. Das hat mich in der Orientierungsphase beim Auslandsjahr am meisten beeindruckt: Es gibt in den Planspielen zur Vorbereitung keine Möglichkeit, zur Lösung zu kommen. Es geht nicht. Die einfache Möglichkeit, es doch  hinzubekommen, ist einfach, den Leiter nach der Lösung zu fragen,  und er wird einem das, was man bekommen will,  geben. Und diese Erfahrung, ich kann es nicht lösen, aber er gibt es mir einfach, das ist etwas, das man über das gesamte Auslandsjahr erlebt. Man kommt hin mit einem Koffer mit ein paar Kleidern, aber das ist nichts Relevantes. Alles an dere haben andere Menschen: die Sprache haben andre Menschen, die Freunde haben andere Menschen, sind andere Menschen, die Sachen, die man braucht, haben andere Menschen, und man muss konstant um Dinge bitten, fragen, muss sich mit Menschen auseinandersetzen. Zum Beispiel Freundschaft, man fragt ja nicht nach der Freundschaft, man lernt Dinge ganz einfach auf eine ganz natürliche Art und Weise zu erwerben. Das formt einen  Charakter sehr, sehr stark. Das verändert auch die Sicht auf die Menschen. Das hat überall Vorteile. Man redet einfach mit Menschen, weil man weiß, es lohnt sich. Jeder Mensch, mit dem ich rede, mit dem lohnt es sich zu reden – zum Beispiel das jetzt auch

(lacht)

Man spricht einfach mit Menschen und es er geben sich Möglichkeiten, Vorteile, im Kern von allem steckt der Mensch. Und das ist es, was man da lernt, und was man auch lernt wertzuschätzen.

IN DIESEM SINNE HERZLICHEN DANK FÜR DAS GESPRÄCH!


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Jonathan Schreck

geb. 1996, studiert Jura im 1. Semester und ist Fux beim VDSt Königsberg-Mainz

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