Ein kulturelles Kochrezept

Es heißt, dass es ebenso viele Definitionen von Kultur gibt, wie es Ethnologen gibt – mindestens.


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In vielfältigen Diskussionen hat der Begriff „Kultur“ eine inflationäre Bedeutung erlangt, um Unterschiede menschlichen Zusammenlebens zu erklären. Mit dem Ziel, Fremde aus der eigenen Gesellschaft auszuschließen, hat der Verweis auf kulturelle Unterschiede und unvereinbare Lebensweisen den diskreditierten Rassebegriff sogar ersetzt. Man spricht daher auch von Kulturalismus oder Neorassismus.

Auch wenn vieles dafür spricht, mit dem Begriff vorsichtiger zu sein, da auch Kultur meist nur eine Teilerklärung bieten kann, wird durch diese extreme Sichtweise deutlich, dass sich der vielfach geäußerte Allgemeinplatz, dass man eher sagen solle, wofür man stehe und nicht wogegen, klar als Wunschdenken entpuppt. Menschliche Gruppen entstehen vor allem durch eine Abgrenzung zu anderen Gruppen. Festgemacht wird dies an angeblich eindeutigen Unterscheidungsmerkmalen wie Sprache, Religion, Tradition, Vermögen, Kleidung, Herkunft etc. Diese räumlichen, zeitlichen oder sozialen Gemeinsamkeiten führen dazu, dass sich der einzelne als Teil eines Ganzen fühlt und dementsprechend auch sein eigenes Handeln versteht. Aus der entstandenen neuen Identität ist also ein „Wir“-Gefühl erwachsen.

Dieses Gefühl wird dabei so stark, dass man sich eine andere Zugehörigkeit nicht mehr vorstellen kann und aufgrund bestimmter, persönlicher Eigenschaften ganz natürlich zu der Gruppe gehört. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von „imagined communities“, die allein von der Überzeugung einzelner, dazuzugehören, gebildet werden. Quasi als Bestätigung sich selbst gegenüber wird die Gruppenzugehörigkeit nun an bestimmten Merkmalen festgemacht.

Kultur und Ethnie

Genau in diesen Bereich fällt auch die Unterscheidung zwischen den Begriffen „Ethnie“ und „Kultur“. Im Alltag oft synonym verwendet, sorgt die Vermengung für eine unnötige Komplexität. Heruntergebrochen auf die wichtigste Aussage wird eine menschliche Gemeinschaft als Ethnie bezeichnet, wenn sie sich auf eine gemeinsame Geschichte und meist auch auf eine gemeinsame Abstammung beruft. Dies drückt sich etwa im Vorherrschen von Binnenheiraten oder durch geschichtlich begründete Territorialansprüche aus. Der Begriff der „Kultur“ setzt nun genau im Moment des „Wir“-Gefühls an und beschreibt die Lebensweisen der Gemeinschaft, ihre Werte, Normen, Kenntnisse, Denkweisen und Verhaltensmuster.

Eingebildete Grenzen

Die Abgrenzung einer ethnischen Gruppe findet sowohl nach innen wie nach außen statt und erfolgt durch die Zuschreibung bestimmter Merkmale, wie etwa Traditionen, Lebensweise oder physische Eigenschaften. Die wichtigsten kulturellen Gemeinsamkeiten sind den Angehörigen einer Ethnie auch bewusst und werden entsprechend an die Nachkommen weitergegeben. Eine gemeinsame Sprache spielt etwa für die Bewahrung von Wissen, Werten und Normen sowie die Abgrenzung gegen andere Ethnien eine besondere Rolle. Diese Gemeinsamkeiten sind jedoch einem permanenten Wandel unterzogen, und so schaffen etwa Verkehrssprachen (z. B. Französisch, Englisch, Spanisch) neue übergeordnete Einheiten. Wie wichtig eine klare Unterscheidung zwischen den Begriffen „Kultur“ und „Ethnie“ ist, wird daran deutlich, dass sich kulturelle Veränderungen nicht zwangsläufig auch in einer Veränderung ethnischer Grenzen widerspiegeln müssen. Es können also selbst dann ethnische Grenzen bestehen, wenn sich die Lebensverhältnisse überhaupt nicht unterscheiden lassen. Das Reden über „Sitten und Bräuche“ wird somit eigentlich gegenstandlos, definiert aber dennoch soziale Grenzen. Es besteht also ein Widerspruch zwischen dem permanenten sozialen Wandel und dem konservierenden Selbstbild einer Gruppe von ihrer Kultur. Aufgelöst wird der Widerspruch durch die persönlichen Interessen des einzelnen, der die Möglichkeit bekommt, je nach Situation eher Gemeinsamkeiten oder eher Unterschiede zu betonen.

Natürlich ist dies eine sehr vereinfachte Darstellung, doch reicht sie aus, um zu zeigen, wie stark Ethnie und Kultur miteinander zusammenhängen. Ähnlich wie bei der Frage nach dem Ursprung des Huhns und des Eis, wäre es jedoch falsch, beides als das Gleiche darzustellen. Es geht vielmehr um das Spannungsfeld zwischen Einheit und Vielfalt, darum was als gleich und was als verschieden wahrgenommen wird.

Ethnizität

Als Ergebnis dieses Prozesses der Abgrenzung in Form und Selbst- und Fremdzuschreibungen entsteht die „Ethnizität“ – die Überzeugung, zu einer bestimmten ethnischen Gruppe zu gehören. Sowohl die besonderen Merkmale der eigenen Gruppe als auch ihre Abgrenzung nach außen werden durch Kontakte zu anderen Gruppen immer wieder neu interpretiert und verändert.

Die jeweiligen Identitäten werden genutzt, um sich selbst und andere Menschen in leichter zu überblickende Kategorien einzuordnen. Die zwar konstruierten Merkmale sind dabei jedoch keineswegs beliebig und können nicht jederzeit verändert oder neu erfunden werden. Vielmehr fußen sie auf früherem Verhalten, das von der aktuellen Generation erlernt wurde. Die Kategorien sind dabei häufig so stark und real, dass sie für den einzelnen zur festen Wirklichkeit werden. All diese Elemente und Kenntnisse, Emotionen und Gewohnheiten lassen sich empirisch fassen und in einem System beschreiben. Die Grenzen dieser Gesamtheit „Kultur“ sind jedoch nicht eindeutig zu ziehen und verändern sich ständig – sind also nicht natürlich, sondern schlicht mehr oder weniger überzeugend.

Meine Aufgabe

Konkret bedeutet dies für den Leser, dass es bei der Diskussion über deutsche Minderheiten im Ausland vor allem auf die Frage ankommt, welches Verständnis diese Gruppen selbst vom Label „deutsch“ haben. Bezeichnet sich die einzelne Gruppe selbst als „deutsch“ oder wird es ihr von außen zugeschrieben? Gibt es überhaupt aktive Verbindungen in die Bundesrepublik oder bezieht sich das Label „deutsch“ auf ein eigentlich schon mythisches Ursprungsland? Gibt es also eine von der Bundesrepublik losgelöste Entwicklung?

Betrachten wir in diesem Zusammenhang beispielhaft die Sprache als eines der wichtigsten Unterscheidungsmerkmale: In welchen Situationen wird die deutsche Sprache verwendet? Welche Art von Deutsch wird überhaupt gesprochen? Gibt es einen Einfluss des Hochdeutschen oder entwickelt sich der Dialekt unabhängig davon?

Wenn man nun aus Deutschland heraus einen Blick auf „deutsche“ Minderheiten wirft, verleitet dies zur Annahme, diese stünden zueinander in einer direkten Beziehung. Jedoch kann sich die Selbstperspektive deutlich davon unterscheiden. Daraus lässt sich schließen, dass die Beschreibung anderer Gruppen als „deutsch“ wenig über die Gruppe als solche aussagt, sondern vielmehr darüber, wie man selber diese Gruppe wahrnimmt.

Damit stellt sich also nochmal explizit die Frage, von wem das Label „deutsch“ verliehen wird. Von einem selber? Von der Mehrheitsgesellschaft des jeweiligen Landes? Oder werden sie als eine Art „Beutedeutsche“ gesehen, d. h. sie werden aus nostalgischen Gründen zu Deutschland gezählt aufgrund einer gemeinsamen geschichtlichen oder sprachlichen Vergangenheit. Sollte dies der Fall sein, so entwickelt die Gruppe eine eigene Identität und ist somit als eigenständige Ethnie anzusehen.

Nachgehakt

Wie man anhand des angelegten Fragenkatalogs sehen kann, findet eine Abgrenzung immer anhand bestimmter Kriterien statt. Die einzelnen Merkmale werden zwar nicht willkürlich ausgewählt, bleiben dennoch aber künstlich überhöhte Unterscheidungselemente. Ein Beispiel dafür ist die Konstruktion einer europäischen Identität. Für die Identitätsbildung spielen allgemein Emotionen die entscheidende Rolle, doch noch sind die Flagge, die Hymne und Europa mit ihrem Stier noch nicht wirklich stark emotional aufgeladen, gerade im Vergleich mit den entsprechenden Symbolen etwa der USA. Ohne kulturell geprägte Identitätsangebote fehlt es Europa allerdings nicht nur als Idee, sondern auch als sozial prägender Kraft an innerer Überzeugung.

In vielfältigen Diskussionen hat der Begriff „Kultur“ eine inflationäre Bedeutung erlangt, um Unterschiede menschlichen Zusammenlebens zu erklären. Mit dem Ziel, Fremde aus der eigenen Gesellschaft auszuschließen, hat der Verweis auf kulturelle Unterschiede und unvereinbare Lebensweisen den diskreditierten Rassebegriff sogar ersetzt. Man spricht daher auch von Kulturalismus oder Neorassismus. Viel spricht jedoch dafür, mit dem Begriff vorsichtiger zu sein, da auch Kultur meist nur eine Teilerklärung bieten kann.


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Philipp Haug

geb. 1984, Ethnologe, VDSt Bonn.

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