Elite

Ist von Elite die Rede, wird auch stets versichert, es dürfe sich auf keinen Fall um Herkunftseliten handeln, sondern man wolle Leistungseliten oder Werteliten. Was aber verbirgt sich hinter all diesen Begriffen? Welche Personen führen eine Gesellschaft, wie tun sie das und woher kommen sie?


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Die Renaissance des Elitebegriffs begann nach dem Jahrtausendwechsel und fällt in die Jahre der Regierung Schröder und die Zeit des wirtschaftlichen Abschwungs. Mit dem „Dann wird man das doch endlich mal wieder sagen dürfen“ wurde über viele frühere Reizworte diskutiert – über Leitkultur, Patriotismus, Sozialabbau und Eliten. Das Etikett Machtmissbrauch und Nepotismus sollte nun endlich überwunden werden, welches mit der ideologischen Grundlage für Faschismus und Führerprinzip in Italien und Deutschland auf ewig verbunden schien. Nun betonte man mit der Auswahl der Besten den Leistungsaspekt und strickte daraus ein politisches Programm. Mit dem Aufbau einer Elite wollte man im Kampf um die besten Köpfe wieder Anschluss an die Weltspitze finden.

Diese umfassende Neubestimmung fußte auf einem Jahrzehnte andauernden Prozess. Nach dem Zweiten Weltkrieg vermied man die alleinige Gegenüberstellung von Elite und Masse und besann sich zurück auf eine Wertelite, bestehend aus einer Minderheit mit herausragenden moralischen und ethischen Überzeugungen. Dieses Verständnis erwies sich jedoch als empirisch wenig praktikabel, so dass man in den Sozialwissenschaften relativ schnell dazu überging, eine funktionalistische Definition von Eliten anzuwenden.

Zu ihnen zählen die Vertreter – jeweils natürlich mit der höchsten Position – aus Politik (Bundes- und Landesregierung, Fraktions- und Parteivorstände), Verwaltung (Staatssekretäre, Ministerialdirektoren, Präsidenten wichtiger Behörden), Wirtschaft (Vorstände und zum Teil Aufsichtsratsmitglieder großer Unternehmen, Präsidenten und Vizepräsidenten großer Verbände), Justiz (Bundesrichter), Medien (Eigentümer, Herausgeber, Geschäftsführer, Intendanten, Direktoren und Chefredakteure der wichtigen Medien), Wissenschaft (Hochschulrektoren und Leiter der außeruniversitären Forschungseinrichtungen) und Militär (Generalität und Admiralität).

Aber wer darf es denn nun sagen?

In jüngster Zeit trennte sich diese Einheit jedoch wieder auf, und gerade Angehörige des akademischen Bürgertums vertraten ein Verständnis, das auf der Teilung in eine Elite und eine ihr gegenüberstehende Masse fußt. Darunter wird jedoch nicht eine einfache Zweiteilung der Gesellschaft verstanden, sondern vielmehr mehrere Teileliten. Diese unterschieden sich vom Rest der Bevölkerung dadurch, dass sie aufgrund ihrer jeweiligen Spitzenpositionen in der Lage seien, die gesellschaftliche Entwicklung maßgeblich zu beeinflussen. In diese Positionen seien sie dabei allein aufgrund ihrer individuellen Leistung gelangt. Es handele sich also um leistungsabhängige Elitepositionen.

Risse bekommt diese Vorstellung aufgrund verschiedener Einschränkungen. Durch Umstrukturierungen der Medienlandschaft wird diese heute in allen führenden Industriestaaten von großen Kapitalgesellschaften (wie Bertelsmann, Disney oder Time-Warner) oder Individuen (wie Berlusconi oder Murdoch) dominiert. Öffentlich-rechtliche Institutionen werden immer stärker von politischen Interessen beherrscht. Das Gewicht der militärischen Elite ist generell erheblich schwächer geworden. Daneben steht die Wissenschaftselite in einem klaren Abhängigkeitsverhältnis zu Wirtschaft und Politik. Die Machtfülle ist also sehr unterschiedlich verteilt. Lediglich die Spitzenvertreter aus Wirtschaft, Politik, Verwaltung und Justiz können als die entscheidenden gesellschaftlichen Eliten gelten. Gerade die Wirtschaft konnte dabei ihren Einfluss durch die Globalisierung deutlich ausbauen. Wird heute im allgemeinen Sprachgebrauch nach Vertretern oder Kennzeichen für Elite gefragt, werden vor allem Köpfe der Wirtschaft sowie Geld, Vermögen und Beziehungen genannt.

In der Realität trifft man dieses Idealbild natürlich kaum an. Tatsächlich klafft ein erhebliches Ungleichgewicht in der Gesellschaft. Maßgebliche Faktoren zu deren Unterteilung stellen Einkommen und Vermögen dar. Beide Kriterien wären für das Idealbild jedoch keine zwingende Grundlage, um zu einer Elite gezählt zu werden – man denke nur an soziale Initiativen, Vereine, Betriebsräte et cetera. Gerade das Vorhandensein großer Vermögen widerspricht der Grundannahme für eine funktionierende Demokratie, nach der – theoretisch gesehen – jeder Mensch die gleichen Chancen und Risiken besitzen sollte. Deutlich wird jedoch, dass sich eine Elite grundsätzlich nicht selbst definieren kann. Die gesamte Gesellschaft bestimmt, wer dazu gezählt wird und wer nicht.

Der Mythos von den Leistungseliten

Michael Hartmann wertete in seiner groß angelegten Untersuchung 6.500 Lebensläufe von Ingenieuren, Juristen und Wirtschaftswissenschaftlern der Promotionsjahrgänge 1955 bis 1985 aus. Seine These bestand darin, dass Kinder aus Arbeiter- und Angestelltenfamilien mit Erlangen des Doktortitels als höchstem Bildungsabschluss in Deutschland dasselbe Maß an Eignung und Mühe bewiesen hätten wie Mitstudenten aus bürgerlichen Familien. Es stellte sich jedoch heraus, dass diese Hochqualifizierten sehr unterschiedliche Karriereverläufe aufwiesen. Nicht die Qualifikation, sondern vor allem die soziale Herkunft entschieden über den beruflichen Aufstieg. Trotz des bereits im Vorfeld stark sozial selektierten Promovierens machten Mittelschichtkinder gerade in der Wirtschaft wesentlich seltener Karriere als Kinder aus Familien des gehobenen Bürgertums und Großbürgertums. 85 % der Vorstandsvorsitzenden der 100 größten deutschen Unternehmen entstammten diesen beiden Gruppen, die zusammen lediglich 3,5 % der deutschen Gesellschaft ausmachten. Etwas weniger stark, aber immer noch dominant zeigten sich Verwaltung und Politik, obwohl letztere lange als gute Aufstiegsmöglichkeit galt.

Es bleibt die Erkenntnis, dass Wohlstand und Einfluss in einer Gesellschaft ungleich verteilt sind. Auch vereinfacht der Begriff „Elite“ die Gesellschaft radikal in nur zwei Lager – die tatsächliche vielstufige, komplexe Schichtung wird verschleiert. Gerade der Gegensatz macht aber den Reiz des Elitebegriffs aus. Und warum sollte das Vertrauen in eine gleich wie auch geartete Führung verkehrt sein? Gibt es nicht sogar direkt eine Sehnsucht nach Eliten, die über einen starken Willen verfügen? Fern vom „Lebensborn“-Programm der SS und den „Napolas“, in denen eine „Elite für den Führer“ herangezogen werden sollte, bedeutet Elite in einer Demokratie stets geteilte Macht. Gerhard Schröder forderte „soziale Marktwirtschaft braucht wieder Elite“ und Annette Schavan bewertete Elite als Schlüsselbegriff in der Bildungsdiskussion. Doch wer soll, wer darf führen? Anhand welcher Kriterien? Wer stellt diese auf und überwacht sie? Und wie schützt man sich vor der „Verführbarkeit und Benutzbarkeit sogenannter Funktionseliten“ wie in der Weimarer Republik (Roman Herzog)?

Gerade Vertreter der Wirtschaft bevorzugen die Schaffung einer „Leistungsgesellschaft“. Führungskräfte antworten auf die Frage nach ihrem Erfolg mit Leistung und Fleiß, Eigeninitiative und Durchsetzungsvermögen sowie Bildung und Ausbildung. Kaum genannt werden Geld, Vermögen und Beziehungen. Daher erscheint es folgerichtig, das Konzept für den eigenen Erfolg auf die gesamte Gesellschaft zu übertragen. Entsprechende Hoffnungen verbanden sich daher auch mit der Exzellenzinitiative und der Ausrufung der „Elitehochschulen“. Der Wettbewerb solle das deutsche Hochschulsystem von Gleichheit auf Elite umpolen.

Die Fähigkeit, das Vorgegebene kritisch zu überprüfen und neue Räume des Wissens aufzustoßen, ist für eine Gesellschaft zwingend erforderlich. Gerade Privatschulen und Privatuniversitäten kritisieren, dass sich das Bildungssystem am Mittelmaß ausrichte. Wahre Gerechtigkeit hieße, jeden nach seinen Fähigkeiten zu fördern, den Guten zu fordern und den Schwachen zu fördern.

Anhand von Hartmanns Untersuchung zeigte sich jedoch, dass die Exzellenz des einzelnen gut begründet werden kann, dies für eine ganze Gruppe aber misslingt und eher mit dem Begriff der Machtverhältnisse erklärt werden kann. In diesem Lichte wird die Forderung nach einem Wettbewerb der Besten als vorgeschobene Begründung entlarvt, um die Wahrung der privilegierten Positionen gegenüber der Gesellschaft gut begründen zu können. „Mit dem ständigen Verweis auf das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit werden nicht nur die entscheidenden Karrierevorteile, die Bürgerkinder aufgrund ihrer Herkunft besitzen, vollkommen ignoriert, sondern es wird zugleich versucht, die daraus resultierenden, immer krasser werdenden Unterschiede in Macht und Einkommen öffentlichkeitswirksam zu legitimieren.“ (Michael Hartmann)

Die andere Elite

Am Ende bleibt die Erkenntnis, dass der Begriff „Elite“ eher unscharf ist; derjenige, der sich selbst damit bezeichnet, degradiert ihn sogar zu einem reinen Marketingschlagwort. Die Frage, ob man die Eliten nun fördern soll oder nicht, kann daher nicht beantwortet werden. „Elite“ kann heißen, dass bereits Kinder durch den Besuch entsprechender „Elite“-Schulen in Elite und Masse eingeteilt werden. Es kann undurchsichtige Auswahlregeln bedeuten, die Garantie einer guten Ausbildung gegen Bezahlung, ein Kontaktnetz, das eine schnelle Karriere sichert. Oder auch schlicht die Einteilung der Gesellschaft in Gewinner und Verlierer. Es bleibt aber auch die Frage, wie sich diejenigen verändern, die mit dem Etikett „Elite“ versehen werden.


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Philipp Haug

geb. 1984, Ethnologe, VDSt Bonn.

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