Erinnern – gedenken – denken

Einhundert Jahre nach Kriegsausbruch ringen die Nationen Europas wieder und immer noch um ihr Bild vom Ersten Weltkrieg. Heftig diskutiert wird nicht nur in Deutschland, auch in England. Ein Blick in drei Bücher mit interessanten Einsichten.


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Erinnern und gedenken, gedenken und denken. Gibt es Gedenken überhaupt ohne narzisstischen Schub? Enthält nicht jedes Gedenken ein Element der Selbstbespiegelung? Und leben wir nicht im Paradoxen? Gilt das Gebot zu vergessen ebenso wie die Unabweisbarkeit des Erinnerns?

Nationen und Staaten, wie auch die Kirche oder auch eine Firma, haben kein Gedächtnis (im Unterschied zur individuellen Person), sie machen sich eines. Sie „bedienen sich dafür memorialer Zeichen und Symbole, Texte, Bilder, Riten, Praktiken, Orte und Denkmäler“. Dadurch entsteht Identität. Nietzsche fasst den perspektivischen Charakter des Gedächtnisses unter dem Begriff des Horizontes als einer standpunktabhängigen Eingrenzung des Sichtfeldes. Er versteht unter der ‚plastischen Kraft’ des Gedächtnisses „die Fähigkeit, im Dienste der Identitätsbildung und Handlungsorientierung eine Grenze zwischen Erinnern und Vergessen aufzubauen und damit zwischen Wichtigem und Unwichtigem, Lebensdienlichem und nicht Lebensdienlichem zu unterscheiden“. Dem nationalen Gedächtnis, das sei angemerkt, geht es um „jene Bezugspunkte in der Geschichte, die das positive Selbstbild stärken“ und eine positive Bewertung der eigenen Nation ermöglichen. Dabei lassen sich Siege leichter erinnern als Niederlagen.

Damit ist der Unterschied bezeichnet, der die Erinnerung und das Gedenken des Ersten Weltkriegs bei den beteiligten Nationen ausmacht.

Für Frankreich und England hat der Erste Weltkrieg eine weitaus höhere Bedeutung als er in Deutschland besitzt. La Grande Guerre oder The Great War besitzen eine nie unterbrochene Gegenwärtigkeit in Frankreich und England. In Deutschland haben der Zweite Weltkrieg und der Holocaust ihn seit 1945 überschattet. Beide Kriege freilich erscheinen in England als Stationen ein und desselben Kampfes: des Kampfes für Freiheit und gegen deren Feind: das Deutsche Reich. Dieser Blick zurück verklärt die eigene Rolle, erlaubt das anheimelnde Gefühl, Diener einer guten Sache gewesen zu sein. In diesem Sinne wird auch im Gedenkjahr 2014 des hundertsten Jahrestages des Kriegsausbruchs gedacht, auch wenn die sehr nationalkonservative Sicht heute nicht mehr die alleinige ist.

Historiker müssen es sich schwerer machen. Gerade englische Historiker haben in den letzten Jahren Untersuchungen vorgelegt, die aufhorchen lassen, stellen sie doch lange geglaubte Gewissheiten und Überzeugungen in Zweifel.

Ferguson und die Schuldfrage

Es sei ein Blick auf die Untersuchungen von Niall Ferguson (Oxford/Harvard), Margaret MacMillan (Oxford) und Christopher Clark (Cambridge) geworfen.

Niall Ferguson (Jg. 1964) ist der erste unter ihnen, der die lange geglaubte These von der Alleinschuld Deutschlands beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs (so Artikel 231 des Friedensvertrags von Versailles, 1919) in Frage stellte. Der die Tradition des schottischen Dissent nicht verleugnende britische Historiker, der in Oxford und Harvard lehrt, hat vor einigen Jahren dem historisch interessierten englischen Publikum viel zugemutet, als er in seiner großen Studie über den Ersten Weltkrieg, The Pity of War, am Ende kühl (im letzten Satz) bilanziert: „It was nothing less than the greatest error of modern history.“

Die Provokation war umso größer, als er vorher argumentiert hatte, dass ein Sieg Deutschlands Europa viel erspart und wahrscheinlich heute eine funktionierende Europäische Union hervorgebracht hätte. In der kleinen Schrift über die Motive der Mächte, den Krieg nicht zu verhindern, was sie alle gekonnt hätten, 1914: Why the World Went to War, wird er noch deutlicher. So legt er dar, dass Asquith, Grey und Churchill (anders als die Mehrheit des Kabinetts und des Parlaments) den Krieg wollten, als er denn in greifbare Nähe gerückt war, wobei die Frage der Invasion Belgiens den willkommenen moralischen Schleier bereitstellte, hinter denen das wirkliche strategische Interesse des liberalen Kabinetts (wie auch handfeste innenpolitische Gründe) vor den Augen der Öffentlichkeit verschwinden konnten. Der Eintritt Englands machte den europäischen Krieg zu einem Weltkrieg. Deutschland hatte nun einen Weltkrieg zu führen, ohne Weltmacht zu sein. Die strategischen Ziele Bethmann-Hollwegs dagegen – nach einem deutschen Sieg in einem europäischen Krieg eine europäische Zollunion unter milder deutscher Führung – nennt Ferguson nicht unvernünftig (far from unreasonable): „Deutschlands europäisches Projekt war nicht eines, mit dem England und sein auf Seemacht gegründetes Empire nicht hätten leben können.“

Es ist nicht uninteressant, dass Ferguson, ganz nebenbei, die im deutschen Journalismus und in vielen deutschen Schulstunden noch vorgebrachten Thesen von Fritz Fischer von der Alleinschuld Deutschlands (Griff nach der Weltmacht) als Unsinn bezeichnet. Das Kapitel Why Britain Fought in dem kleinen Buch ist ein Meisterstück illusionsloser, scharfsinniger Analyse. Der schon 1992 erschienene Aufsatz Germany and the Origins of the First World War hatte die Revision des bisherigen Geschichtsbildes eingeläutet.

MacMillan und die Logik des Krieges

Margaret MacMillan, (Jg. 1943), Urenkelin des britischen Kriegspremiers David Lloyd George, lehrt an der Universität Oxford das Fach Internationale Beziehungen und ist zugleich Warden des St Antony’s College. (Einer ihrer Vorgänger als Warden war Ralf Dahrendorf.) Im Jahre 2001 legte sie mit Paris 1919: Six Months That Changed the World eine umfassende Darstellung der Friedenskonferenz von Versailles vor, 2013 folgte The War That Ended Peace. The Road to 1914.

Ihr Buch folgt den Pfaden klassischer britischer Geschichtsschreibung. Die diplomatischen Züge der beteiligten Mächte werden klar und stringent dargelegt in einer Sprache, die großen Vorbildern der Prosa folgt. Sie hat ein waches Auge für die Spiele des Zufalls in diesem immer undurchsichtiger werdenden Spiel der Mächte. So gelingen ihr, in souveräner Verarbeitung der unabsehbaren Literatur, Kapitel großer Anschaulichkeit. So sehr die Vorkriegszeit auch heute noch vielerorts als geradezu „goldenes Zeitalter“ in Erinnerung ist, so weist Margaret MacMillan doch unübersehbar darauf hin, dass ein Krieg mit dieser Zerstörungswut nicht aus einem solchen Zeitalter entstehen kann, es gebe tieferliegende Gründe für den Zusammenbruch des Fortschrittsglaubens und der optimistischen Weltbilder (vgl. Florian Illies: 1913 und Charles Emmerson: 1913: The World before the Great War). Margaret MacMillan gibt einen Überblick über die Krisen in den Jahren vor dem Krieg, sie arbeitet überzeugend heraus, dass die europäische Öffentlichkeit gerade weil sie die Erfahrung gemacht hatte, dass die Mächte am Ende immer eine Lösung fanden, sie die Gefahr der Juli-Krise 1914 grob unterschätzte, ebenso wie die Staatsmänner. Hinzu kam, dass die handelnden Eliten selbst in einem Land sich nicht einig waren, wie sie zu handeln hätten und manchmal, in dem Glauben, es werde sich schon alles richten, geradezu hilflos zusahen, wie ihnen das Spiel aus den Fingern glitt. Dass der Krieg dann endlich kam, hatte dann geradezu etwas von Logik an sich.

Margaret MacMillan vermeidet die direkte Antwort auf die berühmte Frage nach der Schuld, die nach dem Krieg soviel Unheil anrichtete. Das „blame game“, wie es sich englisch reimt, lässt sich jedoch schwer vermeiden. Man bekommt ein Gefühl für ihre Einstellung, wenn man sich vor Augen hält, dass am Ende doch das Gefühl entsteht, dass das Deutsche Reich die anderen Mächte provoziert habe und diese mehr oder weniger nur reagiert hätten. Über Kaiser Wilhelm kann man mehr Kritisches lesen als über die anderen Staatsmänner zusammen. Die Pläne Russlands, Frankreichs, Großbritanniens, Italiens und Österreich-Ungarns bleiben dagegen etwas blass. Die Thesen von Fritz Fischer sind im Hintergrund erkennbar. In den Vorträgen, die Margaret MacMillan in englischsprachigen Ländern über den Ersten Weltkrieg hält, wird die Einstellung noch deutlicher. Hier ist oft schon am Anfang ihrer Ausführungen davon die Rede, dass der Great War ein Krieg gewesen sei, „for which Germany is largely responsible“.

Margaret Macmillans Buch The War That Ended Peace ist ein Buch, das mit Gewinn zu lesen ist, einige ihrer expliziten wie impliziten Thesen sind jedoch auch kritisch zu sehen. Sie sind auch bereits in Frage gestellt worden.

Clark und das verschlungene Gewebe

Der australische Historiker Christopher Clark (Jg. 1960) ist Professor für Neuere europäische Geschichte an der University Cambridge und Fellow des St. Catharine’s College. Sein besonderes Interesse gilt der deutschen Geschichte. Im Jahr 2000 erschien sein Buch Kaiser Wilhelm II., 2006 legte er mit Iron Kingdom: the Rise and Downfall of Prussia, 1600–1947 eine vielbeachtete Studie zu Preußen vor. Sein letztes Werk gilt dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs: The Sleepwalkers: How Europe Went to War in 1914 (2012).

Christopher Clark nennt in seiner Besprechung des Buches von Margaret Mac-Millan zwei Gründe, die den Ersten Weltkrieg so einzigartig machen:

„First, the war unleashed the demons of political disorder, extremism and cruelty that disfigured the 20th century. It destroyed four multiethnic empires (the Russian, the German, the Austro-Hungarian and the Ottoman). It killed at least ten million young men and wounded at least twenty million more. It disorganised the international system in immensely destructive ways. Without this conflict it is difficult to imagine the October Revolution of 1917, the rise of Stalinism, the ascendancy of Italian Fascism, the Nazi seizure of power or the Holocaust. It was, as the historian Fritz Stern put it, ‘the first calamity of the 20th century, the calamity from which all other calamities sprang’. It is hard to imagine a worse initial condition for the modern era of which we are the inheritors.“

Der zweite Grund liegt nach Christopher Clark darin, dass die Krise im Juli 1914 in ihren Konstellationen und Ablauf so verschlungen und vielschichtig war, dass die Spieler den Zusammenhang und den Überblick verloren, so dass sie die Zügel nicht in der Hand behalten konnten.

„To make matters worse, the executives of these states were anything but unified. There was uncertainty (and has been ever since among historians) about where exactly the power to shape policy was located within the respective governments. The chaos of competing voices is crucial to understanding the periodic agitations of the European system during the years leading up to the war. It also helps explain why the July Crisis of 1914 became the most opaque political crisis of modern times.“

Christopher Clark untersucht das verschlungene Gewebe der Machtbeziehungen in und zwischen den Staaten, stellt neue Fragen, eröffnet neue Kontexte, erweitert die Blickwinkel und kommt zu neuen Einsichten. Die Geschichte, die schon verschwunden schien, hinter Begriffen wie Imperialismus, Nationalismus, Militarismus oder einer vagen Allumklammerung wie „instabiles Staatensystem“ wird wieder zurückgeholt, indem Clark die Akteure auf die Bühne stellt und ihre Befürchtungen, Wünsche und Bewegungen ins Licht rückt.

Damit rückt Clark einiges zurecht. So sei das englisch-deutsche Flottenrüsten von den Briten nie wirklich ernst genommen worden, außerdem sei es bereits 1908 entschieden gewesen, mit einem Vorteil für England. Und wenn die Deutschen von Einkreisung gesprochen hätten, so gab es dafür gute Gründe. Freilich, gleichzeitig seien die Bündnissysteme in halber Auflösung gewesen. So habe Deutschland in den Balkankriegen 1912/13 Österreich die Unterstützung versagt, während England begann, sich über Russland mehr Sorgen zu machen als über Deutschland. Doch diese mögliche „Entspannung des bipolaren Systems“, wie es Gustav Seibt nennt, trug zur Verschärfung der Julikrise 1914 bei: keiner der Akteure wollte am Ende allein dastehen und setzte so seine Partner unter Druck. Für Clark sind Frankreich und Russland die Hauptkriegstreiber, hier zitiert er erstaunliche Dokumente. Doch warum war es der Balkan, auf dem die Lunte gezündet wurde? Russland sah nach dem Verlust des Krieges gegen Japan und der russisch-britischen Einigung nur an seiner Westgrenze Möglichkeiten der Bewegung, außerdem richtete es sein Augenmerk auf den Bosporus. 1911 hatte mit der Eroberung Libyens durch Italien unter wohlwollender Begleitung Frankreichs und Englands die Aufteilung des Osmanischen Reiches begonnen. Ebenso wurde die Überlebensfähigkeit des Kaiserreichs Österreich-Ungarn bezweifelt. Clark nennt Serbien in diesem Zusammenhang einen Schurkenstaat, in dem Terrororganisationen und Staat zusammenarbeiteten. Das Attentat von Sarajewo ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Das österreichische Ultimatum sei keinesfalls exzessiv gewesen, nicht zuletzt, wenn man es mit dem Nato-Ultimatum von Rambouillet 1999 vergleicht. Gustav Seibt benennt die Vorteile der Methodik von Christopher Clark:

Clarks Geschichte spielt sich fast ausschließlich in einer Elite von Entscheidungsträgern ab, die nur ein paar hundert Köpfe zählte. Deren Gedanken, Obsessionen, Ambitionen und Ängste zeichnet sein Buch mit bisher unerreichter Plastizität nach. Bizarre Gestalten wie der eitle französische Botschafter in St. Petersburg, Maurice Paléologue, stehen neben Sonderlingen wie dem englischen Außenminister Grey oder dem hektischen Kaiser Wilhelm. Vor allem zeigt Clark die Zerstrittenheit der Apparate: Jedes Land hatte seine Tauben und Falken, und nirgendwo war die Öffentlichkeit über die Entscheidungsprozesse hinreichend informiert.

Und so lösen sich die Schuldfragen nicht auf, aber sie werden kleinteilig und unverrechenbar. Dieses Drama hat keinen Hauptschurken, und wenn Clarks Funde und Argumente nur zur Hälfte stimmen, sollte man auch die These von der Hauptverantwortlichkeit des Deutschen Reichs wieder begraben. Dessen Lage war objektiv höchst prekär, unter anderem auch, weil es anders als seine Mitbewerber kaum Kolonialbesitz als ausgleichende weltpolitische Tauschmasse hatte – wieder so ein interessantes Strukturargument von Clark.

So kommt Christopher Clark zu der Erkenntnis: Es gab zahlreiche (plausible) Ursachen für den Ersten Weltkrieg, aber zwangsläufig war er nicht.

„Der Erste Weltkrieg“, sagt Christopher Clark, „ist das worst-case scenario des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Welt von 1913 mit ihrem globalen Handel, ihrem kulturellen Austausch, ihren friedlichen Veränderungen wird zertrümmert, vergeudet. Man kann sich keinen schlechteren Start für das Jahrhundert vorstellen. Der Stalinismus mit all seinen Opfern, Hitler, der Holocaust, die Zerstörung der deutschen Städte im Luftkrieg: Das meiste davon kann auf die Giftdosis zurückgeführt werden, die dieser Krieg Europa injiziert hat.“

Was bleibt?

Die Vergangenheit ist kein fester unverrückbarer Block, ebensowenig die Geschichte. Insofern gibt es auch keinen ewig feststehenden Sinn. Durch Deutung wird das Vergangene zu Geschichte. Geschichte ist immer bedenklich. Es gibt keine deutungsfreie historische Erfahrung. Aber es gilt auch: „Wir, die wir [Geschichte] „konstruieren“, sind als deren Konstrukteure vorab immer schon von ihr konstruiert worden.“ Erinnerung ist auf Erfahrung bezogen, wie immer auch diese ausformuliert wird; ohne Erfahrung bliebe Erinnerung Phantasie oder Fiktion. So muss die Geschichtswissenschaft neben das Geschichtsbild treten, um das Wirkliche von der Fiktion, die Wunschvorstellung von den ermittelbaren tatsächlichen Gegebenheiten zu trennen. Und die Frage des Erinnerns ist immer auch die Frage des Vergessens, denn nicht alle Vergangenheit wird Geschichte. Geschichtsbilder werden mit Gefühlen ausgestattet, die die kollektive Identität benötigt zum Zwecke des Zusammenhalts, sie zeugen von der „heißen“ Lebendigkeit der Vergangenheit. Die Geschichtswissenschaft dagegen ist eine „kalte“ Angelegenheit objektivierenden methodischen Denkens. Geschichte muss so zum Zwecke ihrer „Lebensdienlichkeit“, wie Nietzsche sagte, immer wieder erzählt werden, „dass sich eine Zukunftschance des menschlichen Handelns erschließt, die mit Hoffnung aufgeladen werden kann, ohne dass die Bedeutungsschwere der historischen Erfahrung eingeschränkt oder gar verneint wird.“

In allen Zukunftsentwürfen der Gegenwart ist die Vergangenheit lebendig. Nationale Geschichtsbilder sind immer noch national konzipiert, das gilt gerade und nicht zuletzt für den Ersten Weltkrieg. Nationale Erinnerungen im Gedenkjahr 2014 werden unterschiedlich ausfallen. Das versöhnlich gemeinte Wort von der „europäischen Urkatastrophe“ (George Kennan) reicht nicht aus, die nationalen Geschichtsbilder zusammenzufügen, nicht im Sinne einer gemeinsamen europäischen Meistererzählung, die im idealistischen Impuls die Unterschiede nur unter den Tisch kehrt, sondern in einer fruchtbaren Spannung, die erlaubt zu differenzieren, zu korrigieren und den jeweils anderen zu respektieren. „Es ist das (Selbst-) Verständnis der Gegenwart, das über die Bedeutung des Sachverhalts der vergangenen Geschehnisse entscheidet.“

Die britischen Historiker Niall Ferguson, Margaret Macmillan und Christopher Clark haben zum Gedenkjahr 2014 erheblich dazu beigetragen, die nationalen Geschichtsbilder hin zum Europäischen zu öffnen.

Was geht uns der Erste Weltkrieg heute noch an? Lassen wir Jacob Burckhardt sprechen: „Was einst Jubel und Jammer war, muss nun Erkenntnis werden.“ Der 2014, nach hundert Jahren, erneut vor Augen gerückte Schrecken des Ersten Weltkrieges könnte von den nationalen Geschichtsbildern, ebenso selbstbewusst-reflektiv wie selbstkritisch-fragend, durchgearbeitet werden, dass er zu seinem Gegenteil würde: die Handlungsmotivation für ein geeintes Europa. Die europäischen Nationen haben alle historische Differenzerfahrungen. Sie anzuerkennen, denn die Logik der Zugehörigkeit heißt Abgrenzung, und sie mit einer europäischen zu verbinden, würde zu einer Einheit in der Vielfalt führen. „Ohne die geistige Währung dürfte die ökonomische auf Dauer nicht auskommen und die politischen Prozesse der europäischen Einigung bürokratisch austrocknen.“

Wilhelm Hausenstein, der badische Europäer, der intime Kenner der französischen Kultur und der erste Botschafter der Bundesrepublik in Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg, hat die (immer mögliche) Ersetzung des Schreckens durch sein Gegenteil „die beglückende Fermate des Europäischen“ genannt. Freilich, sie muss von den Europäern gewollt werden. Damit sind wir wieder in der unmittelbaren Gegenwart der Europäischen Union.

Margaret Macmillans letzter Satz in ihrem Buch zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges lautet: „There are always choices.“ Der Satz könnte auch von Niall Ferguson und Christopher Clark stammen.

Tatsächlich, wir haben (auch heute) die Wahl.


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Dieter Jakob

geb. 1941, Anglist und Germanist, VDSt Erlangen.

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