Ermutigung auf dem Weg zum größeren Gott

Alle Religion braucht den Stachel des Unglaubens, um nicht in Selbstgewissheit zum Fetisch zu verflachen. Fruchtbar aber kann ihr Miteinander nur sein, wenn auch der Unglaube nicht zum Dogma erstarrt, sich die Freude am Denken und den Willen zur Wahrheit bewahrt. Thomas Gutknecht über geläuterte Gläubige und fromme Atheisten.


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S010_Humanismus_1

 

Ein Gott für Erwachsene manifestiert sich gerade durch die Leere des kindlichen Himmels.

Emmanuel Levinas

Die Gottesbegegnung widerfährt dem Menschen nicht, auf dass er sich mit Gott befasse, sondern auf dass er den Sinn an der Welt bewähre.

Martin Buber

 

Gott – kann er in der Schöpfung anders anwesend sein als in der Weise der Abwesenheit? In einer paradoxen, an Meister Eckhart erinnernder Formulierung erklärt Simone Weil: Diese Welt, insofern sie Gottes gänzlich leer ist, ist gleichsam Gott selbst (1). In Warum es die Welt nicht gibt stützt Markus Gabriel mit seiner neuen Sinnfeldontologie ungerufen diese Einsicht. Sie führt ihn zu der klugen Bemerkung, Religion sei das Gegenteil einer Welterklärung (2). Zu Recht weist Gabriel darauf hin, dass die Gottesfrage sehr viel umsichtiger angegangen werden muss, als plumpe Sekten oder Neoatheisten meinen. Gott kommt im Universum schlichtweg nicht vor. Jede Religion, die das annimmt, wird zum Fetisch, verstanden als Machwerk eines allumfassenden, alles beherrschenden und ordnenden Weltprinzips. Auch der naturwissenschaftliche Szientismus, der auf seine Weise ein wissenschaftliches Weltbild kreiert, ist dergestalt ein Fetisch. Ideologie hier wie dort. Das Weltbild der Wissenschaft kennt den Menschen lediglich in der Dritte-Person-Perspektive. Schwört man der Religion ab, ist nichts gewonnen. Wird Religion zum Fetisch, ist alles aufs Spiel gesetzt und verloren. Der „falsche“ Gott, der in allem dem wahren gleicht, mit Ausnahme dessen, dass man ihn nicht berührt, verwehrt auf immer den Zugang zu dem wahren. (S. Weil)

 

Wo der Geist des Menschen sich auf etwas Unverfügbares hin öffnet, kommt eigentliche Religion überhaupt erst in den Blick und lebt als Ausdruck des Sinns und Geschmacks für das Geheimnis von Gott, Welt und Mensch. Sinnverstehen spielt im Gefüge der Trias von Mensch, Gott und Welt. Ändert sich eine „Stellschraube“, hat dies Folgen für das ganze Gefüge. Daher gibt es keine Frage des Menschen nach sich selbst ohne die Frage nach seiner Stellung in der Welt und vor Gott. Das gilt nun auch für den Atheismus. Seine jeweilige Zielsetzung, Ausprägung usw. korrespondiert immer einer bestimmten Gestalt von kritisierbarem Gottdenken im Zusammenhang mit dem Selbstverständnis des in (s)einer Welt verankerten Menschen.

Vielfalt in Glauben und Unglauben

Somit gibt es nicht nur Vielfalt im Religiösen. Der bunten Palette der Gottesbilder entspricht ein breites Spektrum an Atheismen. Sie werden in den verschiedensten Tonlagen vertreten und reichen vom kämpferischen Atheismus (zumeist ein Anti-Theismus) bis zum respektablen, bekümmerten oder frommen Atheismus (in der Nachbarschaft zum Agnostizismus). Der Atheismus begegnet zugleich als theoretischer wie praktischer. Ihn motivieren allerlei „Interessen“, etwa ein Humanismus oder Existentialismus. Oft genug ist er durch gar nichts motiviert, sondern schlicht Ausdruck geistloser Gleichgültigkeit und schieren Unverständnisses religiöser „Sachen“. Mangel an Bildung führt dazu, dass eine über Jahrhunderte gegebene Voraussetzung der Selbstkonstitution (Subjektivität) zumindest im säkularen kulturellen Westen binnen weniger Jahrzehnte verdunstet und einer Indifferenz gewichen ist, die für das Fehlen Gottes weithin kein Bewusstsein mehr hat und das als Mangel erlebt. Das hat psychische und soziale Folgen, deren Bedeutung kaum absehbar ist.

Nichtsdestoweniger gibt es ein Gespür dafür, dass etwas fehlt, was sich in Suchbewegungen ausdrückt. Nur ist der „Gott der Überlieferung“ nicht mehr gefragt. Als „Erfüllungsgehilfe“ eines egoistisch-hedonistischen Strebens spielt er keine Rolle (und hätte es auch früher aus guten Gründen nie tun sollen, sowenig ihm die Rolle des viel beschworenen Lückenbüßers hätte zukommen dürfen). Wozu Gott? – Ist das nicht schon im Ansatz die falsche Frage? Wo Not ist, und schlimmer noch, wo die sittliche Substanz einer Gesellschaft sich auszehrt, erinnert man sich gerne an Religion. Doch sie droht ihr Gesicht zu verlieren, wenn sie funktionalisiert wird, herabgewürdigt zum Wertelieferanten.

Heilige Einfalt

So einfältig mancher Gottgläubige, so ahnungslos viele Atheisten. Irrtümer über den Sinn der Rede von Gott gibt es hüben wie drüben. Ernsthafte Nachdenklichkeit, intellektuelle Redlichkeit und unbestechlicher Wahrheitswille sind auf beiden Seiten selten geworden. Zum Lob der Nichtglaubenden: Der Stachel der Bekehrungsbedürftigkeit aller Gottesrede will jederzeit scharf gehalten werden. Zu deren Mahnung: auch ungläubig-skeptischen Aufklärern tut demütige Selbstkritik not. Uninformierte Angriffe auf Gläubige sind nicht weniger ärgerlich wie unglückliche Gegenvoten für Gott. Der Spaten bestätigt so wenig die Wahrheit der Bibel wie die Physik den Atheismus beweist. Die Grenzlinie von wahr und unwahr, richtig und falsch verläuft nicht zwischen Gottlosen und Gläubigen. In allen „Lagern“ gilt es zu prüfen, wie belastbar Aussagen sind und ob sie die Folgerungen hergeben, die man aus ihnen zieht. Was hat von der Erfahrung im Licht der Vernunft und unter dem Anspruch der Wahrheit Bestand? Was sind Kriterien für die stets notwendige Kritik von Theorie und Praxis? Beweist Durst, dass es Wasser gibt? Die Unsterblichkeit eines Gerüchts, dass etwas dran sein muss? Folgt aus Wünschen, dass sie von vornherein als Indiz für den illusionären Charakter des Gewünschten zu nehmen sind?

Gott für Erwachsene

Wozu der „liebende Kampf“ zwischen den Gläubigen und Nichtglaubenden, die doch alle in Gefahr stehen, sich selbst misszuverstehen? Ich meine, er ist nötig als Dienst füreinander im Interesse der (größeren) Wahrheit. Weil, wie Klaus Müller formuliert, der mögliche „Anspruch eines Unbedingten immer nur als Echo im Medium unserer endlichen Vernunft“ (3) vernehmbar ist, braucht es deren fortwährende „Reinigung“, und zwar für den Glauben, nicht durch den Glauben. Es braucht um des Gottesglaubens willen die Läuterung durch die atheistische Kritik. Meine These: Jeder Atheismus ist ernst zu nehmen, wenn er vom Wahrheitswillen bewegt ist. Aber auch jeder ihn explizierende Glaubensinstinkt. Man braucht nicht um die Existenz oder Nichtexistenz Gottes zu streiten. Der Streit gilt der Frage: Von welchem Gott ist die Rede? Diese Frage setzt nicht die Existenz Gottes als gegeben und instrumentalisiert die Atheismen! Sie fragt, im Glaubensmut angefochten, dialogoffen: Welches Gottdenken hält sich auf der Spur zum Gott für Erwachsene?

Gerade Nietzsche ist ein hervorragendes Beispiel für diesen Weg. Er rekonstruierte den Atheismus als Folge der religiösen Zucht zur Wahrheit, von der er sagt, dass sie am Schlusse sich die Lüge im Glauben an Gott verbietet. Er sagt nicht: den Glauben verbietet! Er spricht von der „Lüge im Glauben“. Das bekräftigt er an einer großartigen Stelle im Zarathustra (IV., Abschnitt „Außer Dienst“). Es geht in einem Gespräch Zarathustras mit dem „Letzten Papst“ um die Parteinahme für den „göttlicheren Gott“: „– ‚Was höre ich!’ sprach hier der alte Papst mit gespitzten Ohren; ‚o Zarathustra, du bist frömmer als du glaubst, mit einem solchen Unglauben! Irgendein Gott in dir bekehrte dich zu deiner Gottlosigkeit. Ist es nicht deine Frömmigkeit selber, die dich nicht mehr an einen Gott glauben lässt? …’“

Frommer Unglaube

Tatsächlich verläuft also die Front der Glaubenden und Ungläubigen nicht zwischen theistischen oder atheistischen Bekenntnissen, nicht zwischen Religiösen und Säkularen, nicht zwischen Kirche und Wissenschaft, vielmehr quer zu allen wortreich verteidigten Positionen, zwischen jenen nämlich, die das Denken lieben, und denen, die Gedanken lieben, um einen Aphorismus von Hans Kudszus zu bemühen: „Wer Gedanken liebt, wiederholt sich, wer das Denken liebt, widerspricht sich.“ (4) Gedanken lieben: Dogmen, Welterklärungen, große Erzählungen, fides quae. Fides qua dagegen meint Beweglichkeit im Denken, das auf der Spur und bei der Sache bleibt. „Wer sein Leben in seinen Glauben an Gott setzt, kann seinen Glauben verlieren. Aber wer sein Leben in Gott selbst setzt, der wird ihn niemals verlieren.“

Die nie getaufte, aber Christus nächst gekommene Simone Weil, an Jahren jung, aber im Glauben früh erwachsen, wusste: Gewiss kann man Gott nie genug widerstehen, wenn es aus reiner Sorge um die Wahrheit geschieht. Christus liebt es, dass man ihm die Wahrheit vorzieht, denn ehe er Christus ist, ist er die Wahrheit. Wendet man sich von ihm ab, um der Wahrheit nachzugehen, so wird man keine weite Strecke wandern, ohne in seine Arme zu stürzen. Oder: „Von zwei Menschen ohne Gotterfahrung ist der, welcher ihn leugnet, ihm vielleicht am nächsten.“ Wenig Unterscheidungsgabe genügt, um zu sehen, dass manche (Selbst-)Zuschreibung wie „Gläubiger“ / „Ungläubiger“ oder Christ / Atheist irrend geschieht und auf Täuschung hinausläuft. Wie oft verirrt sich „Glaube“ in Eigenliebe, wie oft sieht man andererseits „Atheisten“ sich verschwenden über alle Selbsterhaltung hinaus und Richtung nehmen auf ein Du hin, sich einschwingend in die Bewegung des Liebens!

Der falsche Gott, der in allem dem wahren gleicht, mit Ausnahme dessen, dass man ihn nicht berührt, könnte auf immer den Zugang zu dem wahren verwehren. Wo, frage ich, lebt man also gefährlicher: im Milieu der Trachtenvereinschristen oder unter den suchenden Zweiflern? Deutlich wird Tatjana Goritschewa in ihrem Buch mit dem so schön zweideutigen Titel Von Gott zu reden ist gefährlich: der Gefahr des äußeren Freiheitsentzugs im Sowjetregime war sie entkommen, aber im Westen lauerte eine noch größere Gefährdung: „Es gibt so viele schöne Dinge, Dinge, die einen mitreißen – wenn man nicht genügend auf den Himmel ausgerichtet ist. Die Erde kann dich hier auf ewig an sich ziehen.“ (5) Einige Jahrzehnte gelebter Konsumismus konnten dem Christentum mehr zusetzen als siebzig Jahre Kommunismus. Gefährlich vor allem die Rede, die folgenlos bleibt oder gar Gott herabwürdigt zum verlängerten Arm der eigenen Herrschaftsansprüche, zur Prothese, die die eigenen Defizite kompensieren soll, zum lieben großväterlichen Alten, der sich in seiner Gutartigkeit am Sichfreuen der Seinen freut – anspruchslos bis zur Banalität.

Es gibt viele Zeugnisse eines rechtschaffenen Atheismus. Schon Epikur rückt im Brief an Menoikeus zurecht: „Nicht der aber ist gottlos, der die Gottesvorstellung der großen Menge zu beseitigen sucht, sondern wer den Göttern die Ansichten der großen Menge anhängt. Denn was die große Menge von den Göttern aussagt, entspricht nicht wahren Vorstellungen, sondern trügerischen Vermutungen.”

Langlebige Irrtümer

Was hat sich seither geändert? In einer kritischen Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Atheismus konzentriert sich Gerhard Lohfink (6) auf acht Argumente, die in Varianten und verschiedenen Verbindungen den Verzicht auf den Gottesglauben nahelegen. In Kürze besagen sie: dass Gott niemals gesehen worden sei (a), es sich um eine Projektion des Menschen handele (b), die Evolutionslehre einen Schöpfergott entbehren könne (c), die Moralität evolutionär begründet werden könne und somit das sogenannte Gute einen Gott nicht benötige (d), das unsägliche Leid dem Gottesglauben Hohn spotte (e), besonders der Monotheismus gewaltförmig sei und Religionen damit das Humanum gefährden (f), insbesondere das biblische Gottesbild verführerisch primitiv und abstoßend sei (g) und dass schließlich der aufs Jenseits gelenkte Blick abhalte, die diesseitigen Aufgaben einer Veränderung zum Besseren hin zu unternehmen (h).

Diesen Argumenten ist leicht zu begegnen und sie können teilweise aus dem bisher Gesagten entnommen werden. Weitere Ideen dazu: Das Licht will sichtbar machen und ist nicht da, um gesehen zu werden (zu a). Im theomorphen Einfall Gottes namens Mensch ist die Sinnfrage aufgebrochen (zu b). Die Evolutionslehre handelt von innerweltlichen Zusammenhängen, nicht vom „Dass“ der Gabe namens Welt (zu c). In der Tat brauchen wir keinen Gott, um gut zu sein. Doch sind wir gut, geben wir IHM ein Gesicht (zu d). Die leidempfindliche Vernunft spottet nicht und verwandelt die Theodizee der Beobachterperspektive in die Anthropodizee einer Teilnehmerperspektive (zu e). Gewaltförmig sind Fetischismus und Ideologien, der Terror kennt keinen Gott (zu f). Die Bibel macht das Religiöse artikulationsfähig; man braucht ihren Reichtum und ihre poetische Tiefe selbst vor Kindern nicht zu verstecken, sondern sollte ihre Schätze heben lehren. Fernab von Indoktrination ruft das Gotteswort im Menschenwort trotz aller Gebrochenheit in die Freiheit und zur Mündigkeit (zu g). Glaube blickt nicht ins Jenseits, sondern sieht im Diesseits den Vorschein des Ewigen, das dem Zeitlichen Sinn gibt (zu h).

Plausible Antworten – oder eher nicht? Da es auch eine Geschichte von Irrtümern des Theismus gibt, irrender Theologien zumal, setzen wir sie einem kritischen Anwalt, einem Atheismus von Gottes Gnaden aus, der Front macht gegen eine selbstgefällige Gottesgewissheit, die in Gottes Namen in der Welt schalten und walten, sie benützen und Menschen beherrschen will. Wer die Welt nur als das zu Benützende kennt, kennt auch Gott nicht anders. Es geht nicht um die Widerlegung atheistischer Einwände, sondern um die demütige Bereitschaft, das eigene Gott-Denken und den zur Lebenspraxis gewordenen Glauben in Frage stellen zu lassen. So gesehen wird man mit Kant sagen: nicht dass uns widersprochen wird, ist schlimm; schlimm wäre, einander nicht mehr zu verstehen. Alle sind wir auf unterschiedlichsten „Kanälen“ Hörer des Worts. Das Reden und Denken der Zweifler zu erlernen ist gerade für (schon) Gläubige ein guter Kompass, ja Wegführer zum je größeren, sich auf wundersame, ganz persönlichste und überraschende Weise selbst bekundenden – Gott.

 

Anmerkungen

(1) Zu Simone Weil siehe vor allem: Schwerkraft und Gnade. Mit einer Einführung von Gustave Thibon, München 1952. Um vorliegenden kurzen Essay nicht mit wissenschaftlichem Apparat zu überfrachten, verzichte ich auf Belege bei klassischen und bekannten Texten wie Buber, Eckhart, Epikur, Nietzsche, Weil usw. – Ein umfangreicheres Manuskript zum Thema bei gutknecht@praxis-logos.de.

(2) Markus Gabriel, Warum es die Welt nicht gibt, Berlin 2013 (5. Auflage), S. 211.

(3) Vgl. Klaus Müller mit Bezug auf Richard Schaeffler, in: ders., Atheismus als Gegenreligion. Die Gottesfrage als öffentlich-politisches Thema – und was Theologie daraus zu lernen hat, in: Wiederkehr des Atheismus. Fluch oder Segen für die Theologie? Hrsg. Von Magnus Striet, Freiburg 2008, S. 29-58, das Zitat S. 50.

(4) Hans Kudszus, Das Denken bei sich. Aphorismen, Köln 2002.

(5) Tatjana Goritschewa, Von Gott zu reden ist gefährlich, Freiburg 1984 (Vgl. den Tagebucheintrag vom 20.8.1980, S.112f.)

(6) Gerhard Lohfink, Der neue Atheismus, Stuttgart 2015 (3. Aufl.).


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Thomas Gutknecht

geb. 1973, Philosoph und Theologe, Gründer und Vorstand des Philosophischen Vereins Logosclub.

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