Europa nostra: ein künftiges Imperium?

Im Aufbau des europäischen Vielvölkergebildes findet sich manche Parallele zu frühren europäischen Großreichen. Aus dem historischen Vergleich drängt sich eine Frage auf: Bleibt es beim homogenen Kleineuropa – oder wird Europa Imperium?


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Als EU-Kommissionspräsident Barroso nach Fernzielen und Identität der EU gefragt wurde, bezog er sich auf die von Peter Sloterdijk geprägte Formulierung eines „Non-imperial Empire“, das zwar Dimensionen eines Imperiums hat, aber keine zentralistische Struktur mit Allmachtsansprüchen. Ich möchte diese Äußerungen zum Anlass nehmen, über vielleicht neue Ideen nachzudenken. Zur EU gehören heute die Territorien des ehem. deutschen Kaiserreiches – ohne das Königsberger Gebiet, aber mit dem Memelland, der ehem. multiethnischen Donaumonarchie – ohne das heute ukrainische Lemberger Gebiet und die Bukowina; Kroatien steht vor der Aufnahme, Bosnien unter EU-Verwaltung – und die imperialen Demokratien Britannien und Frankreich. Die Traditionen dieser noch vor 100 Jahren bestehenden Imperien müssen neu durchdacht werden.

Alan Posener, Sohn eines deutsch-jüdischen Berliner Architekturhistorikers und einer englisch-schottischen Mutter, aufgewachsen in London, Kuala Lumpur und Berlin, plädierte in dem 2007 erschienenen Buch „Imperium der Zukunft. Warum Europa Weltmacht werden muss“ für eine Neubewertung des Imperiums. Er sieht darin einen konzeptionellen und praktischen Ausweg, um die kontroverse Diskussion über Staatenbund und Bundesstaat als Endziel zu überwinden. Er unterscheidet eine offene großeuropäische von einer defensiven kleineuropäischen Variante, wobei er erstere befürwortet:

„Großeuropäer sehen in der imperialen Expansion eine Herausforderung, die Europa in seiner Sinnkrise neubeleben kann. Kleineuropäer befürchten imperiale Überdehnung, Verwässerung des ursprünglichen Europa-Gedankens, Verlust des auf weitgehender ethnischer und kultureller Homogenität beruhenden Zusammenhalts, kurz Verstärkung der Krise. Großeuropäer wollen, Kleineuropäer fürchten das Ende der Dominanz der Kernländer Deutschland und Frankreich. Großeuropäer beschwören die Instabilität und potentielle Illoyalität eines ausgedehnten Gürtels von Klientenstaaten; Kleineuropäer fürchten um die Stabilität eines Imperiums, das riesige soziale, ethnische und religiöse Differenzen umfasst. Großeuropäer sehen Europa als universell, Kleineuropäer als eine partikulare Macht. Für Großeuropäer bedeutet die Vorstellung, dass ein Bewohner Istanbuls, Kiews, ja Tel Avivs oder Casablancas eines Tages stolz sagt: ‚Civis europaeus sum’. Den Sieg europäischer und zugleich universeller Ideale über enge ethnische, nationale und religiöse Loyalitäten. Kleineuropäer erfüllt gerade diese Vision mit Verlustängsten. Großeuropäer fordern Entgrenzung und ‚new frontiers’, Kleineuropäer wollen Einhegung und feste Grenzen.“

Im deutschen Sprachbereich gibt es zunächst die Schwierigkeit, dass Imperium im Sinne von imperialistisch weithin als unterdrückende Herrschaft gesehen und die britische Idee eines liberalen Imperiums mit langfristiger zivilisatorischer Wirkung als fremd empfunden wird. Die Vorstellung der EU als Imperium entwickelte zuerst 2002 der britische Diplomat Robert Cooper, ein enger Mitarbeiter Javier Solanas: „In der postmodernen Welt sind Worte wie Empire und Imperialismus zu Schimpfworten geworden, obwohl die Notwendigkeit der Kolonisierung vielleicht genau so groß ist wie im 19. Jahrhundert. Die Schwachen brauchen noch die Starken, und die Starken brauchen eine Welt der Ordnung.“  Ich lege die pointierten diskussionswürdigen Kernaussagen Poseners in von mir nummerierten Thesen dar.

These 1: Das Römische Reich und das British Empire waren liberale Schutzmächte. „Das Imperium Romanum ist auch deshalb ein liberales Imperium, weil es seine Existenzberechtigung aus seinem Nutzen für das Gemeinwohl und den einzelnen Bürger begründet.“ Der Zusammenbruch West-Roms nach 500 Jahren Herrschaft ist das Ergebnis einer misslungenen Zuwanderungs- und Integrationspolitik und der Unfähigkeit Roms, seine imperiale und zivilisatorische Ordnung über den Limes hinaus nach Osten auszudehnen. Heute ist das Bild Roms überwiegend negativ, auch durch die sehr populären französischen ‚Asterix’-Bändchen, in denen die Römer als dekadent und dumm dargestellt werden.

These 2: Das in der Nachkriegszeit als Vorbild herausgestellte Reich Karls des Großen hat seit 1989 als geopolitisches Modell ausgedient, aber als Organisationsmodell hat es neue Aktualität, zumal die verwirrende Subsidiarität gerade die Stärke des alten Reiches ausmachte. In Deutschland aber phantasierte man sich als Ersatz für den untergegangenen Nationalstaat einen europäischen Superstaat; stattdessen sollten die Leistungen und das erstaunlich lange Leben des alten Reiches als Vorbild für die EU stärker herausgestellt werden. Gerade in den östlichen EU-Ländern wird eine westliche Neuauflage der zentralen Sowjetmacht abgelehnt und ein „neo-mittelalterliches“ Modell für die EU mit verschiedenen Graden von Zusammenarbeit und Integration befürwortet. Mit dem Beitritt Bulgariens und Rumäniens kommt auch Byzanz, das fast 1500 Jahre überdauerte, als weitere Quelle unserer Zivilisation wieder ins Bewusstsein. Damit erhält das Geheimnis der Langlebigkeit früherer Imperien neue Aktualität. Die langlebigsten Imperien waren das Imperium Romanum, das byzantinische Reich und das Heilige Römische Reich deutscher Nation. Der in Oxford lehrende polnische Politologe Jan Zielonka stellt dem nach 1648 ausgebildeten Westfälischen Superstaat das neo-mediävale Imperium als Zukunftsmodell gegenüber (Europe as Empire. The Nature of the Enlarged European Union. 2006):

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These 3: Europas Handlungsfähigkeit ist nicht abhängig von einer engeren Union, sondern von der Klarheit über die künftige Rolle der EU. Imperiale Projekte waren bereits bei der Süderweiterung und insbesondere der Osterweiterung sowie den Aktionsplänen der Nachbarschaftspolitik erkennbar. Die EU ist fast unbemerkt dabei, die Geburtsfehler in der Außen- und Verteidigungspolitik zu überwinden. Mit dem Kongoeinsatz 2006, der schnellen und superschnellen Eingreiftruppe und dem Aufbau eines europäischen diplomatischen Dienstes beginnt sie eine imperiale Stabilisierungs- und Zivilisierungsmacht zu werden. „Gerade die europäische Finanzpolitik ist ein Musterbeispiel dafür, dass sich zwischen Zentrum und Peripherie eine imperiale Struktur ausbildet“.

These 4: Antiimperialimus ist die wichtigste Waffe des Antimodernismus. Roosevelt machte die rasche Liquidierung des Empire zur Voraussetzung für die US-Hilfe gegen Deutschland im 2. Weltkrieg. Das Empire wurde daher überstürzt abgewickelt mit dem Ergebnis, dass die groß angelegte Entkolonialisierung weder Frieden noch Demokratie, sondern eher Chaos und Krieg brachte! Posener kommt daher zu der Schlussfolgerung: „Junge Briten hätten heute allen Grund, auf die Geschichte des Empire stolz zu sein. Die imperiale Vergangenheit spielt für junge Briten eine Rolle, die mit der Rolle der Nazi-Vergangenheit für junge Deutsche durchaus vergleichbar ist.“ Er empfiehlt, sich zu fragen, wie der wichtigste Erfolg des Empire, der Export angelsächsischer Werte und Normen, von Europa wiederholt werden kann.

These 5: Eine imperiale Mission ist der EU von Anfang an eingeschrieben, wobei die Suezkrise 1956 der Schlüssel für den imperialen Subtext ist. Jean Monnet, der in den beiden Weltkriegen das britisch-französische Aufrüstungsprogramm leitete, plante kurz vor der Verstaatlichung des Suezkanals durch Nasser einen französisch-britischen Superstaat, um die nordafrikanischen Kolonien halten zu können. Mit Frankreich als Gründungsmitglied der EWG wurden im März 1957 10 Millionen algerische Muslime eingebracht. Wenn Frankreich den Algerienkrieg gewonnen und nicht 1962 die Unabhängigkeit Algeriens zugestanden und die Ausweisung einer Million nicht-muslimischer Algerier toleriert hätte, wäre Algerien längst EU-Mitglied! Bereits 1963 schloss die EWG ein Assoziierungsabkommen mit der Türkei. Europa kehrte also mit leisen Sohlen in den Mittelmeerraum zurück! Der Ökonom John Maynard Keynes, der die britische Regierung bei den Versailler Friedensverhandlungen beriet, schlug bereits 1919 eine europäische Kohlebehörde und einen europäischen Freihandelsverband unter der Ägide des Völkerbundes als notwendige Nachfolgerin europäischer Imperien vor. Leider obsiegten die Ideen von Wilson und Clemenceau!

These 6: Der amerikanische Evolutionsbiologe Peter Turchin stellt heraus, dass Gesellschaften mit hohem Zusammenhalt (Asabiya) entlang „metaethnischer Bruchlinien“ entstehen: das römische Imperium entlang der Bruchlinie zu den Kelten, die EU entlang der Bruchlinie zwischen westlicher Welt und Sowjetherrschaft; bis 1945 waren der Rhein und bis 1989 die Elbe Bruchlinien. Die neue Bruchlinie zum Islam auf dem Balkan, im Nahen Osten und besonders in unseren Metropolen – Europäisierung als langfristige realistische Möglichkeit, dem Islam erfolgreich zu begegnen – wird noch nicht als imperiale Ordnungsfunktion für Europa gesehen. Sie bietet aber eine große Chance, ein neues Selbstwertgefühl zu entwickeln.

Stellungnahme:

Das großeuropäische Plädoyer Poseners fordert ebenso heraus wie seine These, dass Europas Handlungsfähigkeit nicht von einer engeren Union, sondern von der Klarheit der künftigen Rolle der EU abhängt. Es lohnt sich aber, diesem oben angerissenen und zunächst provozierenden Gedanken einmal intensiver nachzugehen und eingefahrene Vorstellungen zu hinterfragen. Schon das Wort Imperium provoziert. Es werden aber das römische und das britische Imperium als liberal und positiv dargestellt; sie waren eben nicht nur ausbeuterisch, sondern auch investierend und schützend. Dass Rom an seiner Integrations- und Zuwanderungspolitik scheiterte, ist eine interessante These mit sehr aktuellem Bezug. Posener fragt aber gerade nach der langen Dauer von Imperien als Vorbild für die EU. Genau diese Fragestellung ist aber kaum diskutiert worden, am ehesten noch von dem bekannten britischen Historiker Nial Ferguson 2004 in dem Penguin Book „How Britain made the modern World?“

Wahrscheinlich halten wir Deutsche so zäh an der Vorstellung eines europäischen Bundesstaates fest, weil die staatliche Einigung Deutschlands im Unterschied zu den klassischen westlichen Nationalstaaten erst verspätet erfolgte und das alte Reich weithin zu negativ gesehen wurde und wird, um ein Modell für die EU zu sein. Hiergegen stellt Posener seine Vorstellung „Heiliges Römisches Reich reloaded“.

Es besteht eine starke Befürchtung, dass über die Staaten, mit denen Nachbarschaftsabkommen geschlossen worden sind, eine Masseneinwanderung aus Nahost und Afrika in die EU erfolgt. Posener weist hier deutlich auf die aktuelle metaethnische Bruchlinie zum Islam hin und versteht den Umgang damit als eine längerfristige vorrangige europäische Aufgabe, die durch die von Sarrazin ausgelöste breite Debatte deutlicher erkannt wird. Mit den Mittelmeerländern Libanon, Libyen, Israel, Palästinensische Autonomiegebiete und Tunesien wurden bilaterale Aktionspläne im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftsgebiete (NEP) abgeschlossen. Stellen wir uns nur vor, welche Dynamik durch das Desertec-Projekt zur Nutzung der Solarenergie aus der Sahara ausgelöst werden dürfte! Mit dem Mittelmeeranrainer Türkei werden seit 2005 Beitrittsverhandlungen mit offenem Ausgang geführt. Da wegen der starken kulturellen Unterschiede ein positiver Ausgang recht zweifelhaft ist, dürfte mit einem dritten Weg zwischen Beitritt und NEP zu rechnen sein. Wenn die Türkei ihre politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zur Kaukasusregion und ihren östlichen Nachbarn ausbaut, liegt dies im Interesse der EU und bringt die Türkei näher an die EU.


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Diethelm Keil

geb. 1928, Dr. phil., VDSt Tübingen.

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