Europäische Sozialmodelle

Eine Vergleichende Betrachtung


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Wirtschafts- und handelspolitisch bildet die Europäische Union einen festen Block. Sozialpolitisch tut sie das nicht. Es fällt nämlich auf, dass es da einerseits eine Gruppe von Ländern gibt, die zumindest heute nur eine – höflich formuliert – sehr zurückhaltend ausgeprägte Sozialpolitik haben. Dazu gehören in Europa vor allem das Vereinigte Königreich Großbritannien und die Republik Irland. Eine weitere Gruppe betont auch heute noch recht stark das Sozialwesen im gesellschaftlichen und politischen Gefüge. Hierzu zählen insbesondere die skandinavischen Staaten, es wurde in diesem Fall Schweden exemplarisch herausgegriffen. Eine weitere Gruppe ist im Bereich der Reformstaaten zu suchen. Es sind dies ehemalige Ostblockländer, die zwar heute zur Europäischen Union gehören, die sich aber immer noch ein Stück weit mit dem wirtschaftlichen Transformationsprozess auseinandersetzen müssen. In einigen Studien ist auch von so genannten mediterranen Staaten die Rede, deren soziale Ausprägung eindeutig stärker ausgeprägt ist als in jenen Ländern nördlich des Ärmelkanals, aber doch weniger als im Norden Europas.

Großbritannien – ein angelsächsisches Modell

Wenden wir uns somit zunächst dem Vereinigten Königreich Großbritannien zu, welches noch vor etwa drei Jahrzehnten als der Sozialstaat schlechthin gegolten hatte. Da herrschten auf der Insel aus heutiger Sicht noch geradezu paradiesische Zustände: auch wenn fortlaufend irgendwo gestreikt wurde, konnte niemand entlassen werden, die Löhne stiegen über viele Jahre im zweistelligen prozentualen Bereich und seit Ende der 1940er Jahre ist die medizinische Versorgung – auch heute noch – weitgehend kostenlos. Warum gibt es dieses Sozialparadies, in dem jedermann Ansprüche auf so ziemlich alles hatte, bloß heute nicht mehr? Das Land rutschte, verstärkt durch die beiden Ölschocks in den 1970er Jahren, immer tiefer in die Krise. Die Inflation lag um 1975 bei fast 25 %, die Binnenverschuldung der öffentlichen Hände, wie auch die Außenhandelsverschuldung, stieg unaufhörlich an, während das Land aufgrund einer immer schwächer werdenden Wettbewerbssituation über den Außenhandel umso mehr einem ausgeprägten wirtschaftlichen Schrumpfungsprozess ausgesetzt war. Eine erhebliche Mitschuld ist den britischen Gewerkschaften während dieser Zeit zu geben, deren Macht über mehrere Legislaturperioden hinweg ausdrücklich regierungsseitig auch noch gefördert wurde. Zugleich wurden weite Teile der britischen Wirtschaft verstaatlicht. Was man vielleicht damals, also vor etwa einem halben Jahrhundert, noch nicht so richtig wusste: der Staat ist naturgemäß ein ganz schlechter Unternehmer. Auch wenn es zu dieser Zeit noch einen sehr weitgehenden Kündigungsschutz gab, so stieg dennoch die Massenarbeitslosig¬keit ab 1973 rapide an. Wie ja weithin bekannt ist, gab es 1979 einen radikalen Kurswechsel, der als „Thatcherism“ in die Geschichte eingegangen ist. Die dazu den Namen gebende „Eiserne Lady“ machte sich mit nachhaltiger Vehemenz daran, das Land von Grund auf umzubauen und scheute dabei auch nicht den harten Kampf mit den Gewerkschaften. Zugleich aber entließ man den Bürger, mit Ausnahme des noch heute sehr umfänglichen, fast rein steuerfinanzierten Gesundheitsfürsorgesystems, ziemlich abrupt wieder in die Selbstverantwortung, was gerade in den ersten Jahren der Regierungszeit von Margaret Thatcher zu erheblichen sozialen Verwerfungen führte. Auch wenn 1997 mit Tony Blair wieder ein, dem Parteinamen nach, sozialistischer Premierminister in die Downingstreet 10 in London Einzug hielt, so war dieser jedoch klug genug, die in der Thatcherzeit durchgeführten Reformen nicht mehr rückgängig zu machen. Das Wirtschaftswachstum belief sich im Durchschnitt der letzten zehn Jahre auf knapp 3 %; für deutsche Verhältnisse ein Traumwert. Die Arbeitslosenquote lag in den letzten Jahren bei meist weniger als 5 % – dies ist angesichts einer nur noch gering vorhandenen Sozialunterstützung auch besonders wichtig. Die Inflationsrate betrug gleichzeitig im Durchschnitt nur noch 1,5 bis 2 %. Ein Problem tut sich aber aktuell auch sehr schmerzlich auf: der ab etwa 1980 so radikale Abbau des produktionswirtschaftlichen Sektors, den man wirtschaftlich als hoffnungslos überholt ansah, und das starke Setzen auf den Finanzdienstleistungssektor bringt das Königreich gegenwärtig in eine bedrohliche Abhängigkeit von Geld und Kapital: die gewiss nötigen Reformen auf diesem Gebiet (eben schärfere Aufsichtsregeln) werden durch Lobbyarbeit stark angegriffen. Das Motto: Großbritannien sollte sich nicht einem Diktat aus Brüssel unterwerfen – und wenn doch: dann wird eben das Finanzgeschehen von London weg nach woandershin verlagert. Beileibe eine bedrohliche Vorstellung für ein Land mit einem nur gering ausgeprägten unternehmerischen Mittelstand und einer einseitig auf das Geld- und Kapitalmarktgeschehen hin ausgerichteten Ökonomie.

Schweden – ein nordisches Modell

Vielen Menschen gilt Schweden als ein Ort der sozialen Sicherheit, jedoch auch als ein Land mit hohen Steuern und Abgaben im Bewusstsein. Auch die letztgenannte Assoziation zu Schweden kommt nicht von ungefähr, denn führwahr spielt der schwedische Staat im Wirtschaftsleben des Landes immer noch eine starke Rolle: Die Steuer- und Abgabenquote liegt mit über 50 % noch um ein Viertel höher als in Deutschland. Die Ausgaben des Staates für Güter und (soziale) Dienste machen mehr als 30 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) aus; Schwerpunkte sind dabei Bildung, Erziehung und das staatliche Gesundheitswesen. Über 20 % des BIP werden als direkte Transferzahlungen zur sozialstaatlichen Umverteilung verwandt. Strukturelle Stärken der schwedischen Volkswirtschaft sind eine gut ausgebaute Infrastruktur, eine hohe Investitionsbereitschaft in Humankapital, Forschung und Entwicklung sowie die moderate Besteuerung von Unternehmen. Ihre Schwächen: fehlende Arbeitsangebotsanreize infolge hoher marginaler Einkommensteuersätze, ein hoher Krankenstand unter den Beschäftigten sowie ein überhöhtes Preisniveau durch die Marktmacht weniger großer Firmen (hier vor allem beim Bau und bei Lebensmitteln) und staatlicher Monopole (hier insbesondere: Alkoholwaren und Apotheken).

Bereits 1932 setzte in Schweden eine Politik ein, die auf ausgesprochen sozialen Ausgleich gerichtet war. Diese Politik machte sich unter dem Slogan des Volksheimes für alle dort lebenden Bürger, d.h. das Anbieten von öffentlicher Hilfe in allen Lebenslagen für jedermann, zum Ziel. Bedingt durch die beiden Ölschocks in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts und die bis dahin aufgelaufenen Staatsschulden bei zugleich drückend hoher Steuerlast, ließ sich diese Politik so nicht mehr weiter fortsetzen. Dennoch ist auch heute noch der Staat in weiten Bereichen des wirtschaftlichen Geschehens sehr präsent und der Glaube der Bevölkerung an die grundsätzliche Richtigkeit ist mehrheitlich noch immer ungebrochen.

Polen – ein Reformstaatenmodell

Polen genoss neben Ungarn in Ostblockzeiten immer eine etwas positivere Wahrnehmung als die übrigen Satellitenstaaten dieses Systems und natürlich erst recht im Vergleich zur Sowjet-Union selbst. Polen nahm man als ein Land mit einem etwas menschlicheren Kommunismus wahr. Das um 1980 einsetzende Ringen um die Freiheit des Landes ging zeitgleich einher mit einer sehr tiefgreifenden Wirtschafts- und Sozialkrise, die zudem einen erheblichen Versorgungsmangel nach sich zog. Um einem Einmarsch der Sowjetarmee zuvorzukommen, entschied sich die damalige polnische Regierung zur Ausrufung eines landesweiten Notstandes. In Polen kam 1989 erstmals seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs – im seinerzeit noch existierenden Ostblock – ein frei gewählter Premierminister ins Amt. Ihm und seinen Nachfolgern stand eine kaum lösbare Aufgabe bevor: wie  kann der Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft wirtschaftlich und sozial gelingen!? Polens Bilanz nach rund 1 ½ Jahrzehnten Transformation von der Plan- zur Marktwirtschaft fällt überwiegend positiv aus. Dies ist umso bemerkenswerter, als die Ausgangsbedingungen mit großen binnen- und außenwirtschaftlichen Ungleichgewichten (unter anderem Hyperinflation, das heißt Preissteigerungsraten von über hundert Prozent, und Auslandsverschuldung) extrem schwierig waren. Die Schock-Therapie von Leszek Balcerowicz, dem Chefarchitekten der polnischen Transformationspolitik, schuf mit Unterstützung des Internationalen Währungsfonds (IWF) und ausländischer Berater in relativ kurzer Zeit die wichtigsten Voraussetzungen für eine funktionierende Marktwirtschaft. Die „Übergangsrezession“, das heißt der Produktionsrückgang in der ersten Transformationsphase, verlief zwar tiefgreifender und länger als erwartet, doch kann Polen als erstes Transformationsland seit 1992 ein stetiges Wirtschaftswachstum verzeichnen. Das Sozialprodukt lag 2008 um fast die Hälfte über dem Niveau vor der Transformation (1989). Es konnten auch im monetären Bereich (Inflation, Staatsverschuldung) und in der Außenwirtschaft (Exportdynamik) beachtliche Erfolge erreicht werden. Zugleich geben die hohe Arbeitslosigkeit (2008: circa 17 %), das immer noch schwachbrüstige öffentliche Gesundheitssystem (das private ist für viele unerschwinglich) und die spärliche Versorgung der Rentner Anlass zur Sorge.

Europa à la carte

Nach dieser ausführlichen Darstellung fragt man sich natürlich, was denn daraus zu lernen ist. Es gibt nämlich auch eine systematisierte Betrachtung des „Europa à la carte“, welche etwas abweichend von der gezeigten Schematisierung in insgesamt vier verschiedene Gruppen unterteilt. Es sind dies das nordische, das angelsächsische, das rheinische und das Mittelmeermodell. Diese Modelle kann man mit Punktbetrachtungen in ein Koordinatensystem einbringen, in dem das Wohlstandsniveau wie auch der Beschäftigungsgrad abgebildet werden.

Dem nordischen Modell gehören, wie schon gesagt, die skandinavischen Staaten und im Ganzen auch Österreich und die Niederlande an. Dieses Modell ist gekennzeichnet durch ein hohes Beschäftigungsniveau und eine ausgeprägte Sozialpolitik. Die Arbeitsmärkte sind relativ flexibel, es wird viel in die Bildung investiert und die insgesamt mächtigen Gewerkschaften wirken konstruktiv mit. Diese Länder haben allesamt ein hohes Beschäftigungsniveau. Es liegt deutlich über dem EU-Durchschnitt von 66 %; Österreich erreicht an dieser Stelle 68 % und Schweden sogar 72 %. Zugleich liegt man auch in der Wohlfahrtsmessung (EU-Durchschnitt: 85 %) an der Spitze: Österreich kommt hier auf 87 % und Schweden sogar auf 89 %; fast eine Spitzenposition.

Zum angelsächsischen Modell zählen Großbritannien und Irland. Es ist wirtschaftlich gesehen sehr effizient, aber die Sozialpolitik spielt nur eine sehr untergeordnete Rolle; auch der Einfluss der Gewerkschaften ist gering. In die Bildung wird nur vergleichsweise wenig investiert. Blicken wir auf das Schema und die erwähnte Statistik, so sehen wir, dass diese Länder immerhin auf vergleichbar gute Beschäftigungswerte, eindeutig oberhalb des EU-Durchschnitts, kommen. Dagegen befindet man sich aber auch erkennbar unterhalb des Wohlfahrtsmittels (GB: 82 % und Irland sogar nur 79 %).

Dem an dieser Stelle so bezeichneten rheinischen Modell gehören neben Deutschland auch Belgien und Frankreich an. Es ist dies gewissermaßen die spiegelbildliche Situation zum angelsächsischen Modell: Einer vergleichsweise ausgeprägten Sozialpolitik steht eine merkliche wirtschaftliche Ineffizienz gegenüber. Die Arbeitsmärkte sowie tarifrechtliche Strukturen sind unflexibel und es gibt in allen Bereichen eine Vielzahl von Vorschriften und Reglementierungen. Die Gewerkschaften sind sehr mächtig und bringen sich nicht konstruktiv in einen gesellschaftlichen Gesamtkonsens ein. Hier zeigt sich ein überall nur geringes Beschäftigungsniveau (Deutschland: 65 % und Belgien sogar nur 60 % – Frankreich liegt dazwischen) und ein (noch) einigermaßen vorhandener Wohlfahrtslevel. Deutschland und Belgien liegen mit gut 85 % noch knapp über dem Durchschnitt, Frankreich kommt immerhin auf 88 %.

Dem Klub der Mittelmeermodelländer gehören, wenig überraschend, Staaten wie Italien, Spanien und Griechenland an. Hier paaren sich eine geringe wirtschaftliche Effizienz mit einer eher gering ausgeprägten Sozialpolitik. Der Arbeitsmarkt ist starr und die Gewerkschaften vertreten partikularistisch ihre Interessen. Aus der Statistik wissen wir, dass das Beschäftigungsniveau ähnlich gering ist wie in der Gruppe des rheinischen Modells, zugleich liegt aber das Wohlfahrtsniveau im EU-Vergleich ebenfalls niedrig. Das Beschäftigungsniveau bewegt sich bei 60 % und darunter, in der Wohlfahrtsmessung werden Werte von um die 80 % erreicht.

Doch nun sollte nicht vergessen werden, dass es schließlich auch so etwas wie Lebensqualitäten und ein menschliches Glücksempfinden gibt. „Nicht nur vom Brot allein“ – wie es ja schon in der Heiligen Schrift treffend heißt – lautet die Devise. Besonders erwähnenswert ist eine Datenbank eines niederländischen Forschers namens Ruut Veenhoven – hier wird versucht, Glücksparameter auf der Basis vieler Umfragen in der Bevölkerung abzubilden. Zu den Glück bringenden Faktoren, so die Studie, gehören vor allem Demokratie, persönliche und wirtschaftliche Freiheit, bürgernahe Behörden und ein intaktes, persönliches Umfeld. Zu den größten Hemmnissen, die dem Glück im Wege stehen, gehören Arbeitslosigkeit, Armut und schwierige private bzw. berufliche Verhältnisse. Dagegen sind im Glücksempfinden ein hoher Intelligenzquotient, eine überdurchschnittliche Ausbildung oder Kinder eher neutral in der Wahrnehmung. Nach dem bisherigen Stand von annähernd dreitausend Umfragen aus aller Welt belegen skandinavische Staaten Spitzenplätze, dagegen liegt Deutschland nur im Mittelfeld. Fast scheint es, als gäbe es eine zumindest ansatzweise Korrelation zur Studie des Europas à la carte! Das skandinavische Modell, zu dem ja auch Österreich hintendiert, scheint auch an dieser Stelle einen gewissen Vorsprung im Sinne des gesellschaftlich und sozial Empfehlenswerten zu haben.


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Johannes Engels

geb. 1958, Dr. rer. pol., VDSt Köln.

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