Explosive Dynamik

Brasilien ist unverkennbar auf dem Weg zur Großmacht. Aber bis zum Erreichen westlicher Rechts- und Umweltstandards ist es noch ein weiter Weg; und nach wie vor ist die Armut groß.


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Nach jedem Besuch in Brasilien sehe ich, dass das Land gewachsen ist und sich verändert hat. Langsame Änderungen werden eher einem regelmäßigen Besucher sichtbar. Von diesen Änderungen möchte ich hier berichten. Mal ist es ein neuer Stadtteil in meiner Heimatstadt, der einen Berg bedeckt, mal hat eine Metropole eine neue 100.000- Einwohner-Marke angebrochen. Die Veränderungen sind kolossal. Kaum eine Stadt ist älter als 500 Jahre, aber jede neu gegründete Stadt hat binnen zehn Jahren mehr Einwohner als ein typisches Dorf in Deutschland, das tausend Jahre lang besteht und trotzdem keine Großstadt geworden ist. Brasilien hat eine ganz andere Dynamik als Deutschland.

Die Zahl der Brasilianer ist aber nicht die auffälligste Veränderung, es ist das Stadtbild. Die Menschen haben mehr und mehr Geld, die Stadt wächst, die Immobilienpreise steigen – in einigen Städten haben sie sich binnen drei Jahren verdoppelt. Wo vor 30 Jahren noch Wald stand, vor 20 Jahren einfache Plastik- oder Backsteinhütten vor einer Staubstraße gebaut wurden, ist die Straße heute geteert, und stehen dort schon die ersten Hochhäuser. Wichtigere Städte sind in einigen Vierteln bereits heute von sehr hohem Lebensstandard geprägt, mit reichlich Lebensmitteln, guten Privatschulen, Krankenhäusern, relativer Sicherheit; und hohen Preise.

Wirtschaft

Die brasilianische Wirtschaft blüht! Im letzten Jahr ist das Bruttoinlandsprodukt um 7,5% gewachsen, was eine deutlich höhere Rate als in den letzten Jahren darstellt (3-5 % p. a.). Einen Großteil der Nachfrage generiert der Binnenmarkt. Wenn viele Familien noch nie Fernseher, Kühlschrank oder Auto besessen haben, versteht es sich von selbst, dass die interne Nachfrage sehr hoch ist. Das fördert nicht nur Industrie und Handel, sondern auch das Kreditwesen. Sobald der Brasilianer Geld verdient, wird es ausgegeben, und zwar in Raten. Der Energieverbrauch nimmt rasant zu, besonders im Sommer, wenn Klimaanlagen und Kühlschränke auf volle Leistung gedreht werden müssen. Der Strom entsteht hauptsächlich in Wasserkraftwerken, besonders in Itaipu, dem größten der Welt, das etwa 20 % des brasilianischen Strombedarfs liefert.

Die Agrarfläche nimmt jährlich zu, besonders durch die Rodung des Regenwalds. Aus ökologischer Sicht ist es natürlich eine Katastrophe, aber vor 20 Jahren hieß Urbarmachung nutzlosen Urwalds noch Fortschritt. Dabei hat der Regenwald nur eine dünne, fruchtbare Humusschicht und ist von ihr abgesehen ein unfruchtbarer, sandiger Boden, der nach wenigen Jahren bereits nichts produziert. Dass ein so reiches Biotop dort existiert, ist auf einen geschlossenen Ressourcenkreislauf zurückzuführen, den menschliches Eingreifen unwiderruflich zerstört. Das führt leider nicht zu Umdenken, sondern zu noch mehr Rodung für besseren Acker. Wer gegen die Zerstörung des Urwalds ist, kann beim eigenen Teller anfangen, denn die Körner werden in den Vereinigten Staaten und Europa als Tierfutter verbraucht. Dank versetzter Jahreszeiten in der südlichen Hemisphäre ist der Export von Soja und anderen Agrarprodukten ein wichtiger Teil der brasilianischen Wirtschaft. Ebenso ist es der Anbau von Zuckerrohr zur Ethanolgewinnung, welches seit den 80er Jahren zu 25 % dem Benzin beigemischt wird.

Im letzten Jahrzehnt hat die Regierung auf den Export gesetzt, der sich zwischen 2003 und 2008 sich mit 200 Milliarden US-Dollar fast verdreifacht hat. Das gelang mit einer Abwertung der Währung und einer gezielten Exportförderung der Regierung. Der daraus entstehende Handelsüberschuss führte dazu, dass Brasilien sich einen Devisenpuffer aufgebaut hat und damit die Weltwirtschaftskrise relativ unbeschadet überstehen konnte. Lediglich die Exporte sind 2009 um etwa 20 % im Vergleich zum Vorjahr zurückgegangen, aber 2010 erholten sie sich bereits und erreichten wieder das Vorkrisenniveau. Es wird weiter auf Export gesetzt. Ein deutliches Zeichen dafür ist der Ausbau mehrerer Häfen entlang der brasilianischen Küste, wie zum Beispiel in Itajaí, Bundesland Santa Catarina, dessen Wirtschaft binnen zwei Jahren um 980 % gewachsen ist.

Die wichtigsten Handelspartner Brasiliens sind die Nachbarländer, die sich zu einer freien Handelszone, dem Mercosul, vereint haben und zwischen denen sehr gute Beziehungen herrschen (über hundert Jahre Frieden). Daneben stehen die Vereinigten Staaten und Europa. Dabei gelten europäische Länder als zuverlässiger Partner, während die USA, besonders unter Intellektuellen, als ein eher arroganter, unwillkommener Partner gelten, der Südamerika wie den eigenen Hinterhof sieht. Besonders die Jahre der Bush-Regierung sorgten für Unmut – sie erinnerten an vergangene Regierungen der USA, die mit zahlreichen Interventionen weltweit unfreundliche Regierungen stürzten und sich in fremde Angelegenheiten einmischten.

Kultur

Das Wachstum verändert aber nicht nur die Wirtschaft, sondern auch das Gesamtbild des Landes und die Gewohnheiten der Leute. Hausfrauen verschwinden, sind oft vollzeitbeschäftigt, also wird viel auswärts gegessen. Damit stirbt das Leibgericht der Brasilianer – Reis mit Bohnen – langsam aus, wird nur noch selten zu Hause zubereitet und nun durch Nudeln ersetzt, die schneller zubereitet werden können. Im Süden wird der Matetee eher am Abend verzehrt, selten noch vor dem Frühstück, ersetzt durch Kaffee. Spießbraten genießt wiederum steigende Beliebtheit in ganz Brasilien, obwohl dessen Zubereitung mehrere Stunden beansprucht.

Brasilien ist als ehemalige Kolonie Portugals sehr katholisch geprägt. Die katholische Kirche erlebt aber in den letzten Jahrzehnten einen starken Mitgliederschwund. Charismatische Kirchen werben Katholiken ab, indem sie Heilungen und Geistervertreibungen im Fernsehen zeigen, was sehr beeindruckt und die Angst der Menschen vor Geistern und dunkler Magie besänftigt. Diese evangelikalen Kirchen breiten sich sehr rasch aus, bilden große Gemeinden und haben im Gebrauch der Medien einen entscheidenden Vorteil gegenüber den traditionellen Kirchen.

Mehr Menschen haben nun durch die Entwicklung der letzten Jahre Zugriff auf kulturelle Veranstaltungen oder Tourismus im eigenen Land. Vor wenigen Jahren war Tourismus noch Luxus, meist auf das Ausland beschränkt, von der alten Gewohnheit der Mittelschicht, den Sommer am Strand zu verbringen, einmal abgesehen. Veranstaltungen wie der Karneval von Rio de Janeiro locken Touristen der ganzen Welt an, und zunehmend beginnen auch die Brasilianer, die Sehenswürdigkeiten und wundervolle Natur im eigenen Land zu entdecken.

Herausforderungen

Brasilien erfüllt die Voraussetzungen, um unter den Großmächten mitzuspielen: Es ist ein großes Land, hat eigene Rohstoffvorkommen, Erdöl, eine zentralisierte Regierung, moderne Gesetze und gute Beziehungen zu den Nachbarländern. Nun stehen auch enorme Herausforderungen an, um im 21. Jahrhundert zu bestehen. Die Probleme sind eng miteinander verwoben, sind also auch nur als Ganzes zu bekämpfen.

Den Anfang muss eine Justizreform bilden. Ein gut funktionierender Staat muss effizient und gerecht bestrafen, die Leute müssen hre Rechte einfordern können. Brasilien hat sehr moderne Gesetze, aber ein ineffizientes Gerichtswesen. Eventuell werden zwar Urteile ausgesprochen, aber das geschieht nicht zeitnah. Das ist ein fundamentales Defizit, das alle spüren lässt, dass besonders die Reichen nicht zur Rechenschaft gezogen werden.

In den 90ern gab es einen Fall, der das gut verdeutlicht. Vom Pharmakonzern Schering AG wurde eine neue Verpackungsmaschine mit Mehlpillen getestet; Packungen mit wirkungslosen Pillen kamen versehentlich als Verhütungsmittel auf dem Markt, was zu vielen unerwünschten Geburten führte. Gegen den Konzern wurde deswegen geklagt, eine Verurteilung erfolgte aber nicht, obwohl das Unternehmen den Fehler öffentlich zugab. Teile der betroffenen Familien wurden nicht entschädigt, und die Kinder sind mittlerweile 13 Jahre alt. Viele haben sogar aufgegeben, denn ein so langes Gerichtsverfahren ist für die Betroffenen auch mit Kosten verbunden, die arme Familien nicht tragen können.

Die ineffizienten Gerichte kommen gar nicht erst den Steuerhinterziehern, Finanzbetrügern, korrupten Politikern und anderen Gaunern hinterher, ganz zu schweigen von den Drogenhändlern und Mördern. Ein Gefühl der Straflosigkeit entwickelt sich und erzeugt Unmut und mindert das Vertrauen der Bürger in den Staat. Unter diesen Bedingungen ist auch der Wettbewerb nur eingeschränkt möglich, denn ein ehrlicher Unternehmer kann mit einem Steuerhinterzieher nicht konkurrieren. Warum sollte man auch die gesamte Steuerlast tragen? Das Steuerrecht ist sehr komplex, hat viele Lücken, und der Staat kommt mit der Prüfung nicht hinterher. Brasilien hat theoretisch eine der höchsten Steuerlasten der Welt, kann die Steuern aber weder effizient eintreiben noch ausgeben. Nur ein völliger Idealist würde alle Abgaben pflichtbewusst zahlen, denn ein Großteil der Einnahmen geht wegen Korruption verloren – der Bundestagsabgeordnete Julio Redecker sprach vor einigen Jahren noch von knapp der Hälfte. Das Ergebnis ist, dass der Staat über keine Mittel für die wichtigen Projekte des Landes verfügt und sich dazu noch verschuldet.

Die nächste Herausforderung wird die Armutsbekämpfung sein. Diese erfolgte in den letzten Jahren bereits durch Wachstum und sinkende Arbeitslosigkeit. In einigen Bundesländern ist die Arbeitslosenquote bereits unter 1 % gesunken und wird zur Wachstumsbremse. Beispielsweise stehen Baustellen still, wenn viele Arbeiter für einen anderen Bau abgeworben werden. Die Regierung unterstützt die Armutsbekämpfung mit Maßnahmen wie Mindestlohn (derzeit ca. 200 €), Zuschuss für arme Familien (ca. 25 €), Inflationskontrolle und dem öffentlichen Gesundheitswesen.

Dennoch bleibt Armut ein Problem, für dessen Lösung noch mindestens zwei Jahrzehnte benötigt werden. Es ist nicht nur eine Frage von Einkommen und Gesundheit, sondern auch Bildung. Man ist immer noch ein wenig der Willkür im öffentlichen Dienst ausgesetzt und man kann das eigene Recht kaum einfordern. Damit die Bürger lernen, ihre Regierung zu kontrollieren, ist ein Umdenken gefragt. Erst mit Vertrauen in das Staatswesen kann von einer echten Demokratie gesprochen werden. So lange wird die Regierung hoffentlich die richtigen Maßnahmen zum Wohlstand auch unbeaufsichtigt ergreifen.


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