Feuertaufe der deutschen Nationalbewegung

Nach 1813 war die Idee eines deutschen Nationalstaates nicht mehr wegzudenken; dessen Verwirklichung nur eine Frage der Zeit. Bis 1871 sah die deutsche Nationalbewegung auf die große Schlacht bei Leipzig zurück, um sich ihrer selbst zu vergewissern. Auch nach zweihundert Jahren ist die Völkerschlacht ein Mahnmal für die Selbstbestimmung eines Volkes.

hambachDer halbdunkle holzvertäfelte Festsaal füllt sich. Junge Menschen aus allen Teilen Deutschlands, gekleidet in lange, enganliegende Leibröcke und weite Hosen in Schwarz, die so genannte Altdeutsche Tracht, strömen in feierlich ernster Stimmung herbei. Voran die Träger eines Schwertes und die einer Fahne in den Farben Schwarz und Rot bestickt mit einem goldenen Eichenlaub. Durch die kleinen Fenster fallen morgendliche Sonnenstrahlen auf die lebensgroßen Fürstenbilder und den verblichenen Wandschmuck aus der Renaissance. Unter den rund fünfhundert Studenten und einigen Professoren betritt Heinrich Hermann Riemann den schlichten Rednerplatz. Riemann, dreiundzwanzig Jahre jung, Theologiestudent aus Jena, ist eine zielklare Persönlichkeit. 1813 hatte er sich mit Freunden durch das französisch besetzte Sachsen nach Breslau durchgekämpft, um sich dem Lützowschen Freikorps anzuschließen. 1815 wurde er preußischer Offizier. Nun, am vierten Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig, dem 18. Oktober 1817, spricht er im Rittersaal der Wartburg zu den Studenten der Jenaer Urburschenschaft: „Vier lange Jahre sind seit jener Schlacht verflossen; das deutsche Volk hatte schöne Hoffnungen gefasst, sie sind alle vereitelt; alles ist anders gekommen, als wir erwartet haben; viel Großes und Herrliches, was geschehen konnte und musste, ist unterblieben.“

Enttäusche Erwartungen

Was Riemann in seiner Rede zum Ausdruck brachte, spiegelte seit dem Wiener Kongress (1814/15) das Empfinden des deutschen Bildungsbürgertums: Wirtschaftliche Entbehrungen, Hohn und Spott hatte dieses während der napoleonischen Herrschaft erduldet (mag diese auch mancherorts, so zum Beispiel in den Rheinbundstaaten, einen fortschrittlichen Staatsaufbau und moderne Gesetze durchgesetzt haben). Währenddessen aber schlug insbesondere in Preußen die Stunde dieses neuen Bürgertums: Seit den Stein-Hardenberg’schen Reformen (ab 1807) hatte es sich sukzessive zur staatstragenden Gesellschaftsschicht entwickelt und sich in den Befreiungskriegen – allein schon mit zehntausend Jägern die Freikorps bildend – aus eigenem Willen gegen die französische Fremdherrschaft erhoben. Nun, vier Jahre später, besaß es noch immer nicht den vom König Friedrich Wilhelm III. versprochenen einigen deutschen Staat und die per Verfassung geregelte politische Partizipation.

Seit 1815 standen die Fronten, diesmal innenpolitischer Art, erneut fest: ein Gouverneurstaat namens Deutscher Bund gegen ein umfassend gebildetes, im Sinne der Aufklärung mündiges Bürgertum. Einem hingeworfenen Fehdehandschuh gegen die fürstlichen Eliten des Wiener Kongresses glich folglich das Wartburgfest, wo sich zum vierten Jahrestag der Völkerschlacht ein Fünftel aller deutschen Studenten traf, begleitet von beherzten Professoren der Jenaer Universität.

Doch zum Sinnbild der Befreiung sollte nicht nur der Sieg gegen Napoleon werden: Im Oktober 1817 jährte sich zum dreihundertsten Male der Beginn der Reformation. Die Wartburg, wo Luther, seit jeher als Befreier von päpstlicher Herrschaft, dem vormaligen welschen Joch, gefeiert, mehrere Jahre verbrachte, unterstrich zusätzlich das von den Studenten beabsichtigte Bild einer Bewegung, die der vermoderten Herrschaftsordnung ihr nahendes Ende aufzeigen wollte – mit Riemanns Worten: „[…] dass uns nicht blenden soll der Glanz des Herrscherthrones, zu reden das starke freie Wort, wenn Wahrheit und Recht gilt.“

Doch nicht in den zahlreichen Reden, sondern an einem Nebenschauplatz, der Wartburgfeier, der erst rückblickend zum umstrittenen Höhepunkt dieses Festes geworden ist, wird die Kampfansage an die politische Ordnung des Wiener Kongresses am deutlichsten: Am Abend des 18. Oktober 1817 zogen die Studenten in einem Fackelzug zum nahe gelegenen Wartenberg: Das Lied „Des Volkes Sehnsucht flammt“ erscholl. Der Theologiestudent Ludwig Rödiger hielt eine mitreißende Rede für die Mitbestimmung über die Geschicke des Vaterlandes. Ein Bücherkorb, mehrere Insignien feudaler Ordnung und eine Mistgabel wurden anschließend gebracht. Unter Verlesen von Feuersprüchen hielten die Studenten – Luther nachahmend, der 1520 die päpstliche Bannandrohung öffentlich verbrannte – „Feuergericht“ über die Schriften und Symbole der Restauration: Neben den Apologien einer feudalen Gesellschaftsordnung verbrannten sie einen Korporalsstock, eine Ulanenuniform und einen Soldatenzopf.

Die Provokation löste eine breite publizistische Debatte aus und rief die staatlichen Behörden auf den Plan. In den folgenden Wochen folgten Polizeimaßnahmen gegen die „Demagogen“, die Geheimdiplomatie schaltete sich ein, immer enger zog sich um die Teilnehmer des Festes die Schlinge der fürstlichen Eliten zusammen. Durch die vom Bundestag rechtswidrig verabschiedeten Karlsbader Beschlüsse von 1819 wurden studentische Verbindungen verboten, und die junge Nationalbewegung musste vorerst in die Defensive weichen. Die Idee eines Nationalstaates – dieselbe Idee, die während Napoleons Herrschaft geboren und in der Völkerschlacht bei Leipzig aus der Taufe gehoben ward – aber lebte fort.

Die Begeisterung kehrt zurück

Zuvor jedoch, im Frühjahr 1819 hatte ein Ereignis die Massen bewegt wie seit 1813 nicht mehr, so der Publizist Joseph Görres. Er verglich dieses Ereignis mit einem Blitz, der in das Volk eingeschlagen war: Der Theologiestudent Carl Ludwig Sand, 1815 Kriegsfreiwilliger im Frankreichfeldzug und 1817 Fahnenbegleiter auf der Wartburg, erdolchte den Schriftsteller, Agenten des russischen Zaren, Apologeten des Absolutismus und Verächter der jungen Nationalbewegung August Friedrich Ferdinand von Kotzebue. Der unscheinbare, doch tiefsinnige Sand verstand seine Tat als Mahnruf – selbstverständlich mit Bezug zur Völkerschlacht: „[…] möchte ich wenigstens einen Brand schleudern in die jetzige Schlaffheit und die Flamme des Volksgefühls, das schöne Streben für Gottes Sache in der Menschheit, das seit 1813 unter uns lodert, unterhalten […].“

In breiten Kreisen der Bevölkerung, insbesondere im Bildungsbürgertum, aber auch in der Bauernschaft löste der „Tyrannenmord“ Zuneigung gegenüber Sand aus. Görres bezeichnete die Stimmung mit den Worten: „Missbilligung der Handlung bei Billigung der Motive“. In den Tagen nach der Ermordung Kotzebues wurden die meisten Personen aus Sands Umfeld verhaftet, vielfach unter Rechtsbruch. Andere, wie Görres, Carl Follen und Christian Sartorius, flohen ins Ausland. Die „Demagogenverfolgung“ brachte schließlich die von den Regierungen ersehnte Friedhofsruhe – freilich auf Zeit.

Schwarz-Rot-Gold

War die Nationalbewegung bis zu den Karlsbader Beschlüssen in erster Linie die Angelegenheit einer bildungsbürgerlichen Avantgarde, so änderte sich dies nur ein Jahrzehnt später. Mehr als zwanzigtausend Menschen aus ganz Deutschland – Kaufleute, Handwerker, Bauern, Bürger und Studenten – zogen am 27. Mai 1832 zur Hambacher Schlossruine bei Neustadt an der Haardt (Pfalz). Die Farben, die in den Befreiungskriegen durch die schwarzen Waffenröcke mit roten Umschlägen und goldenen Knöpfen die Lützower Jäger geschmückt, 1817 für die Studenten auf der Wartburg als Zeichen für innere und äußere Freiheit gestanden hatten, sie wurden nun zu Farben eines bevormundeten, doch nach Freiheit strebenden Volkes. Auf der Schlossruine hissten die Teilnehmer mehrere Flaggen, die die Farben Schwarz, Rot und Gold – noch in unterschiedlicher Anordnung – trugen. Auf einer davon in Fraktur eingestickt die Worte „Deutschlands Wiedergeburt“.

Was bedeutete dies? Deutschlands Wiedergeburt war nach 1806 der Name einer Zukunftsvision: Nach Napoleons Sieg bei Austerlitz (1805) und einem Diktatfrieden für Russland und Österreich löste sich 1806 das Heilige Römische Reich deutscher Nation nach rund tausendjährigem Bestehen auf. Aus diesem sagenumwobenen, deutschen Staat mit seiner heilsgeschichtlichen Bedeutung schöpfte die Nationalbewegung ihre geistige Kraft. Dieses Deutschland in neuer Gestalt zu errichten, war ihr Ziel; Deutschlands Wiedergeburt ihr Schlagwort – 1813 wie 1832: „Wer nicht mit ganzer Seele und aus allen Kräften die Freiheit und Wiedergeburt des Vaterlandes verlanget, der möge aus diesem Kreis entschlossener Vaterlandsfreunde entweichen […]“ – so schwor Franz Joseph Stromeyer, einer der Hambach-Redner, die Versammelten ein und forderte diese auf, das Vaterland „vor jeder Gewalt von innen und außen“ zu beschützen. Der misstrauische Blick nach außen – das heißt vor allem nach Frankreich – fehlte also nicht, auch wenn das Hambacher Fest ein Ehrenerweis gegenüber allen nach nationaler Souveränität strebenden Völkern war. Die in manchen Kreisen diskutierte Option eines durch Revolution erkämpften linksrheinischen Satellitenstaates oder gar eines erneuten Anschlusses an Frankreich, wie zwischen 1801 und 1815, widerstrebte den meisten Teilnehmern: Die politische Freiheit mit nationaler Einheit, nicht um deren Preis, war seit 1813 das Ziel der deutschen Nationalbewegung – nur dieses konnte das Blutopfer der Völkerschacht tilgen. Alles andere käme einer „neuen Entehrung“ gleich, so Johann Georg August Wirth, einer der Organisatoren des Hambacher Festes.

Der nach dem Hambacher Fest sowie weiteren Nationalfesten im Sommer 1832 erhoffte gewaltsame Sturz der Herrschenden durch das Volk war ausgeblieben. Der letzte Versuch, diesen herbeizuführen, scheiterte am 3. April 1833: Etwa fünfzig Personen, die meisten davon Burschenschafter, stürmten die Frankfurter Polizeiwache. Mit den beschlagnahmten Waffen planten sie, die Gesandten des Bundestages gefangenzunehmen und eine deutschlandweite Revolution auszulösen. Durch Verrat wurde die Aktion vereitelt. Erneut nutzten die restaurativen Kräfte die Gelegenheit, politische Vereine zu verbieten, die Verschwörer und Mitwisser zu verurteilen. Doch anders als nach 1819 kehrte diesmal keine Friedhofstille in Sachen Politik ein. Zu groß waren die Massen geworden, zu mächtig deren Ideen. Wie bei Massenbewegungen üblich, hatten diese nun auch ihre Torheiten – angefangen bei der unausgegorenen Idee des Frankfurter Wachensturms. In der handlungsunfähigen Paulskirche erreichten sie zwischen 1848 und 1849 – bei aller Würdigung für die deutsche Verfassungsgeschichte – ein so hohes Maß, dass die anfängliche Achtung der Absolutisten schnell verspielt war.

Flucht und Aufbruch

Was aber war fünfunddreißig Jahre nach der Völkerschlacht und mehr als dreißig Jahre nach dem Wartburgfest aus den Pionieren der Nationalbewegung geworden? Das Schicksal dieser Persönlichkeiten lässt sich in wenige Worte fassen: vom Freiheitshelden zum Staatsverbrecher. Oftmals blieb daher nur Emigration: Ludwig von Mühlenfels, einer der aktivsten Wartburgteilnehmer und Freund von Ernst Moritz Arndt, berühmt durch seine Tapferkeit als Lützower Jäger, flieht 1821 aus der Haft nach Schweden; der radikale Carl Follen, Weggefährte Carl Ludwig Sands, betätigt sich nach seiner Flucht in die USA als Abolitionist; Carl Christian Wilhelm Sartorius, 1814 Kriegsfreiwilliger, auf der Wartburg Fähnrich, setzt sich nach Mexiko ab. Manche Persönlichkeit aus der ersten Generation der Nationalbewegung findet sich unter den berühmten Ärzten und Naturwissenschaftlern des neunzehnten Jahrhunderts wieder. Einige führt die Idee eines souveränen Nationalstaates in die Politik: Prominentestes Beispiel ist Heinrich von Gagern, Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung und Angehöriger der nationalliberalen Casino-Fraktion. Weitere Mitglieder der Nationalversammlung, die sowohl in den Befreiungskriegen mitgekämpft als auch der Urburschenschaft angehört haben, sind: Heinrich Anz, August Emmerling, Carl Theodor Gier, Christian Gottlieb Schüler und Adolf Marian Constantin von Zerzog.

Der bescheidene Heinrich Hermann Riemann, als „Demagoge“ mehrfach schikaniert, Lehrer an einem Gymnasium, später an einer Gelehrtenschule sowie evangelischer Pastor, wird 1848 Abgeordneter im Landtag von Mecklenburg. 1863, fünfzig Jahre nach der großen deutschen Erhebung, ernennt ihn Wilhelm I. für Verdienste in den Befreiungskriegen zum Ritter des Eisernen Kreuzes. — Am 19. Juni 1871 ist Riemanns Gartenhaus, ebenso wie das angrenzende Neubrandenburger Tor der mecklenburgischen Stadt Friedland, feierlich bekränzt. Auf einer Leiter stehend, begrüßt der fast achtundsiebzigjährige Veteran die aus dem Deutsch-Französischen Krieg heimkehrenden Friedländer Bürger, darunter zwei seiner eigenen Söhne. Am 18. Januar 1871, als in Versailles das Deutsche Reich proklamiert wird, hat sich sein Lebenstraum von einem souveränen deutschen Nationalstaat erfüllt.


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hambachDer halbdunkle holzvertäfelte Festsaal füllt sich. Junge Menschen aus allen Teilen Deutschlands, gekleidet in lange, enganliegende Leibröcke und weite Hosen in Schwarz, die so genannte Altdeutsche Tracht, strömen in feierlich ernster Stimmung herbei. Voran die Träger eines Schwertes und die einer Fahne in den Farben Schwarz und Rot bestickt mit einem goldenen Eichenlaub. Durch die kleinen Fenster fallen morgendliche Sonnenstrahlen auf die lebensgroßen Fürstenbilder und den verblichenen Wandschmuck aus der Renaissance. Unter den rund fünfhundert Studenten und einigen Professoren betritt Heinrich Hermann Riemann den schlichten Rednerplatz. Riemann, dreiundzwanzig Jahre jung, Theologiestudent aus Jena, ist eine zielklare Persönlichkeit. 1813 hatte er sich mit Freunden durch das französisch besetzte Sachsen nach Breslau durchgekämpft, um sich dem Lützowschen Freikorps anzuschließen. 1815 wurde er preußischer Offizier. Nun, am vierten Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig, dem 18. Oktober 1817, spricht er im Rittersaal der Wartburg zu den Studenten der Jenaer Urburschenschaft: „Vier lange Jahre sind seit jener Schlacht verflossen; das deutsche Volk hatte schöne Hoffnungen gefasst, sie sind alle vereitelt; alles ist anders gekommen, als wir erwartet haben; viel Großes und Herrliches, was geschehen konnte und musste, ist unterblieben.“

Enttäusche Erwartungen

Was Riemann in seiner Rede zum Ausdruck brachte, spiegelte seit dem Wiener Kongress (1814/15) das Empfinden des deutschen Bildungsbürgertums: Wirtschaftliche Entbehrungen, Hohn und Spott hatte dieses während der napoleonischen Herrschaft erduldet (mag diese auch mancherorts, so zum Beispiel in den Rheinbundstaaten, einen fortschrittlichen Staatsaufbau und moderne Gesetze durchgesetzt haben). Währenddessen aber schlug insbesondere in Preußen die Stunde dieses neuen Bürgertums: Seit den Stein-Hardenberg’schen Reformen (ab 1807) hatte es sich sukzessive zur staatstragenden Gesellschaftsschicht entwickelt und sich in den Befreiungskriegen – allein schon mit zehntausend Jägern die Freikorps bildend – aus eigenem Willen gegen die französische Fremdherrschaft erhoben. Nun, vier Jahre später, besaß es noch immer nicht den vom König Friedrich Wilhelm III. versprochenen einigen deutschen Staat und die per Verfassung geregelte politische Partizipation.

Seit 1815 standen die Fronten, diesmal innenpolitischer Art, erneut fest: ein Gouverneurstaat namens Deutscher Bund gegen ein umfassend gebildetes, im Sinne der Aufklärung mündiges Bürgertum. Einem hingeworfenen Fehdehandschuh gegen die fürstlichen Eliten des Wiener Kongresses glich folglich das Wartburgfest, wo sich zum vierten Jahrestag der Völkerschlacht ein Fünftel aller deutschen Studenten traf, begleitet von beherzten Professoren der Jenaer Universität.

Doch zum Sinnbild der Befreiung sollte nicht nur der Sieg gegen Napoleon werden: Im Oktober 1817 jährte sich zum dreihundertsten Male der Beginn der Reformation. Die Wartburg, wo Luther, seit jeher als Befreier von päpstlicher Herrschaft, dem vormaligen welschen Joch, gefeiert, mehrere Jahre verbrachte, unterstrich zusätzlich das von den Studenten beabsichtigte Bild einer Bewegung, die der vermoderten Herrschaftsordnung ihr nahendes Ende aufzeigen wollte – mit Riemanns Worten: „[…] dass uns nicht blenden soll der Glanz des Herrscherthrones, zu reden das starke freie Wort, wenn Wahrheit und Recht gilt.“

Doch nicht in den zahlreichen Reden, sondern an einem Nebenschauplatz, der Wartburgfeier, der erst rückblickend zum umstrittenen Höhepunkt dieses Festes geworden ist, wird die Kampfansage an die politische Ordnung des Wiener Kongresses am deutlichsten: Am Abend des 18. Oktober 1817 zogen die Studenten in einem Fackelzug zum nahe gelegenen Wartenberg: Das Lied „Des Volkes Sehnsucht flammt“ erscholl. Der Theologiestudent Ludwig Rödiger hielt eine mitreißende Rede für die Mitbestimmung über die Geschicke des Vaterlandes. Ein Bücherkorb, mehrere Insignien feudaler Ordnung und eine Mistgabel wurden anschließend gebracht. Unter Verlesen von Feuersprüchen hielten die Studenten – Luther nachahmend, der 1520 die päpstliche Bannandrohung öffentlich verbrannte – „Feuergericht“ über die Schriften und Symbole der Restauration: Neben den Apologien einer feudalen Gesellschaftsordnung verbrannten sie einen Korporalsstock, eine Ulanenuniform und einen Soldatenzopf.

Die Provokation löste eine breite publizistische Debatte aus und rief die staatlichen Behörden auf den Plan. In den folgenden Wochen folgten Polizeimaßnahmen gegen die „Demagogen“, die Geheimdiplomatie schaltete sich ein, immer enger zog sich um die Teilnehmer des Festes die Schlinge der fürstlichen Eliten zusammen. Durch die vom Bundestag rechtswidrig verabschiedeten Karlsbader Beschlüsse von 1819 wurden studentische Verbindungen verboten, und die junge Nationalbewegung musste vorerst in die Defensive weichen. Die Idee eines Nationalstaates – dieselbe Idee, die während Napoleons Herrschaft geboren und in der Völkerschlacht bei Leipzig aus der Taufe gehoben ward – aber lebte fort.

Die Begeisterung kehrt zurück

Zuvor jedoch, im Frühjahr 1819 hatte ein Ereignis die Massen bewegt wie seit 1813 nicht mehr, so der Publizist Joseph Görres. Er verglich dieses Ereignis mit einem Blitz, der in das Volk eingeschlagen war: Der Theologiestudent Carl Ludwig Sand, 1815 Kriegsfreiwilliger im Frankreichfeldzug und 1817 Fahnenbegleiter auf der Wartburg, erdolchte den Schriftsteller, Agenten des russischen Zaren, Apologeten des Absolutismus und Verächter der jungen Nationalbewegung August Friedrich Ferdinand von Kotzebue. Der unscheinbare, doch tiefsinnige Sand verstand seine Tat als Mahnruf – selbstverständlich mit Bezug zur Völkerschlacht: „[…] möchte ich wenigstens einen Brand schleudern in die jetzige Schlaffheit und die Flamme des Volksgefühls, das schöne Streben für Gottes Sache in der Menschheit, das seit 1813 unter uns lodert, unterhalten […].“

In breiten Kreisen der Bevölkerung, insbesondere im Bildungsbürgertum, aber auch in der Bauernschaft löste der „Tyrannenmord“ Zuneigung gegenüber Sand aus. Görres bezeichnete die Stimmung mit den Worten: „Missbilligung der Handlung bei Billigung der Motive“. In den Tagen nach der Ermordung Kotzebues wurden die meisten Personen aus Sands Umfeld verhaftet, vielfach unter Rechtsbruch. Andere, wie Görres, Carl Follen und Christian Sartorius, flohen ins Ausland. Die „Demagogenverfolgung“ brachte schließlich die von den Regierungen ersehnte Friedhofsruhe – freilich auf Zeit.

Schwarz-Rot-Gold

War die Nationalbewegung bis zu den Karlsbader Beschlüssen in erster Linie die Angelegenheit einer bildungsbürgerlichen Avantgarde, so änderte sich dies nur ein Jahrzehnt später. Mehr als zwanzigtausend Menschen aus ganz Deutschland – Kaufleute, Handwerker, Bauern, Bürger und Studenten – zogen am 27. Mai 1832 zur Hambacher Schlossruine bei Neustadt an der Haardt (Pfalz). Die Farben, die in den Befreiungskriegen durch die schwarzen Waffenröcke mit roten Umschlägen und goldenen Knöpfen die Lützower Jäger geschmückt, 1817 für die Studenten auf der Wartburg als Zeichen für innere und äußere Freiheit gestanden hatten, sie wurden nun zu Farben eines bevormundeten, doch nach Freiheit strebenden Volkes. Auf der Schlossruine hissten die Teilnehmer mehrere Flaggen, die die Farben Schwarz, Rot und Gold – noch in unterschiedlicher Anordnung – trugen. Auf einer davon in Fraktur eingestickt die Worte „Deutschlands Wiedergeburt“.

Was bedeutete dies? Deutschlands Wiedergeburt war nach 1806 der Name einer Zukunftsvision: Nach Napoleons Sieg bei Austerlitz (1805) und einem Diktatfrieden für Russland und Österreich löste sich 1806 das Heilige Römische Reich deutscher Nation nach rund tausendjährigem Bestehen auf. Aus diesem sagenumwobenen, deutschen Staat mit seiner heilsgeschichtlichen Bedeutung schöpfte die Nationalbewegung ihre geistige Kraft. Dieses Deutschland in neuer Gestalt zu errichten, war ihr Ziel; Deutschlands Wiedergeburt ihr Schlagwort – 1813 wie 1832: „Wer nicht mit ganzer Seele und aus allen Kräften die Freiheit und Wiedergeburt des Vaterlandes verlanget, der möge aus diesem Kreis entschlossener Vaterlandsfreunde entweichen […]“ – so schwor Franz Joseph Stromeyer, einer der Hambach-Redner, die Versammelten ein und forderte diese auf, das Vaterland „vor jeder Gewalt von innen und außen“ zu beschützen. Der misstrauische Blick nach außen – das heißt vor allem nach Frankreich – fehlte also nicht, auch wenn das Hambacher Fest ein Ehrenerweis gegenüber allen nach nationaler Souveränität strebenden Völkern war. Die in manchen Kreisen diskutierte Option eines durch Revolution erkämpften linksrheinischen Satellitenstaates oder gar eines erneuten Anschlusses an Frankreich, wie zwischen 1801 und 1815, widerstrebte den meisten Teilnehmern: Die politische Freiheit mit nationaler Einheit, nicht um deren Preis, war seit 1813 das Ziel der deutschen Nationalbewegung – nur dieses konnte das Blutopfer der Völkerschacht tilgen. Alles andere käme einer „neuen Entehrung“ gleich, so Johann Georg August Wirth, einer der Organisatoren des Hambacher Festes.

Der nach dem Hambacher Fest sowie weiteren Nationalfesten im Sommer 1832 erhoffte gewaltsame Sturz der Herrschenden durch das Volk war ausgeblieben. Der letzte Versuch, diesen herbeizuführen, scheiterte am 3. April 1833: Etwa fünfzig Personen, die meisten davon Burschenschafter, stürmten die Frankfurter Polizeiwache. Mit den beschlagnahmten Waffen planten sie, die Gesandten des Bundestages gefangenzunehmen und eine deutschlandweite Revolution auszulösen. Durch Verrat wurde die Aktion vereitelt. Erneut nutzten die restaurativen Kräfte die Gelegenheit, politische Vereine zu verbieten, die Verschwörer und Mitwisser zu verurteilen. Doch anders als nach 1819 kehrte diesmal keine Friedhofstille in Sachen Politik ein. Zu groß waren die Massen geworden, zu mächtig deren Ideen. Wie bei Massenbewegungen üblich, hatten diese nun auch ihre Torheiten – angefangen bei der unausgegorenen Idee des Frankfurter Wachensturms. In der handlungsunfähigen Paulskirche erreichten sie zwischen 1848 und 1849 – bei aller Würdigung für die deutsche Verfassungsgeschichte – ein so hohes Maß, dass die anfängliche Achtung der Absolutisten schnell verspielt war.

Flucht und Aufbruch

Was aber war fünfunddreißig Jahre nach der Völkerschlacht und mehr als dreißig Jahre nach dem Wartburgfest aus den Pionieren der Nationalbewegung geworden? Das Schicksal dieser Persönlichkeiten lässt sich in wenige Worte fassen: vom Freiheitshelden zum Staatsverbrecher. Oftmals blieb daher nur Emigration: Ludwig von Mühlenfels, einer der aktivsten Wartburgteilnehmer und Freund von Ernst Moritz Arndt, berühmt durch seine Tapferkeit als Lützower Jäger, flieht 1821 aus der Haft nach Schweden; der radikale Carl Follen, Weggefährte Carl Ludwig Sands, betätigt sich nach seiner Flucht in die USA als Abolitionist; Carl Christian Wilhelm Sartorius, 1814 Kriegsfreiwilliger, auf der Wartburg Fähnrich, setzt sich nach Mexiko ab. Manche Persönlichkeit aus der ersten Generation der Nationalbewegung findet sich unter den berühmten Ärzten und Naturwissenschaftlern des neunzehnten Jahrhunderts wieder. Einige führt die Idee eines souveränen Nationalstaates in die Politik: Prominentestes Beispiel ist Heinrich von Gagern, Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung und Angehöriger der nationalliberalen Casino-Fraktion. Weitere Mitglieder der Nationalversammlung, die sowohl in den Befreiungskriegen mitgekämpft als auch der Urburschenschaft angehört haben, sind: Heinrich Anz, August Emmerling, Carl Theodor Gier, Christian Gottlieb Schüler und Adolf Marian Constantin von Zerzog.

Der bescheidene Heinrich Hermann Riemann, als „Demagoge“ mehrfach schikaniert, Lehrer an einem Gymnasium, später an einer Gelehrtenschule sowie evangelischer Pastor, wird 1848 Abgeordneter im Landtag von Mecklenburg. 1863, fünfzig Jahre nach der großen deutschen Erhebung, ernennt ihn Wilhelm I. für Verdienste in den Befreiungskriegen zum Ritter des Eisernen Kreuzes. — Am 19. Juni 1871 ist Riemanns Gartenhaus, ebenso wie das angrenzende Neubrandenburger Tor der mecklenburgischen Stadt Friedland, feierlich bekränzt. Auf einer Leiter stehend, begrüßt der fast achtundsiebzigjährige Veteran die aus dem Deutsch-Französischen Krieg heimkehrenden Friedländer Bürger, darunter zwei seiner eigenen Söhne. Am 18. Januar 1871, als in Versailles das Deutsche Reich proklamiert wird, hat sich sein Lebenstraum von einem souveränen deutschen Nationalstaat erfüllt.


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Thomas Cieplak

geb. 1981, Germanist und Historiker, VDSt Breslau-Bochum.

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