Gibt es einen moralischen Markt?

Susanne Schmidts Rückblick auf die Finanzkrise gewährt interessante Einblicke in die Welt der Banker, in London und überall auf der Welt.


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Susanne Schmidt ging 1979 entgegen ihrem eigentlichen Berufswunsch, als Volkswirtin Karriere im Filialsystem der Deutschen Bank zu machen, nach London. Als Tochter von Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt wollte sie damit dem wegen der RAF-Terrorgefahr in Deutschland auferlegten ständigen Begleitschutz entgehen. In London – zunächst auch bei der Deutschen Bank – stieg sie auf in leitende Funktionen des Finanzmarkts. Sie erlitt aber dann während der Krise der Schwellenländer 1998/99 das Schicksal eines normalen Arbeitnehmers. Durch einen Telefonanruf ihres Chefs während ihres Urlaubs verlor sie am darauffolgenden Tag ihren Job, wurde Opfer des „Marktes ohne Moral“. Die spätere Weltfinanzkrise 2008/2009 mit den schnellen Wertverlusten der Wertpapiere erzeugte bei ihr regelrechte Existenzangst. Trost spendete ihr der Gedanke an den eigenen Garten. Er lag außerhalb der City und wäre groß genug, um Nahrungsmittel anzubauen und gar „Hühner und zwei Schweine“ zu halten. Diese Erfahrungen, insbesondere die erwähnte Arbeitslosigkeit, gaben den Anstoß, die Ursachen zu untersuchen und ihre Beobachtungen und Überlegungen in einem Buch festzuhalten.

Durch die lebensnahe und unterhaltsame Schreibweise sollten sich im Wirtschafts- und Finanzsystem fachkundigere Leserinnen und Leser nicht dazu verleiten lassen zu glauben, dass die wirtschaftlichen und finanziellen Zusammenhänge nur anekdotisch behandelt werden. Nach dem ersten Kapitel „Der Schauplatz: Die Londoner City“ bieten die nächsten Kapitel eine Analyse des Verhaltens der Akteure im Finanzsystem beim Kauf und Verkauf sowie bei der Erzeugung ihrer „Finanzprodukte“ und eine Beschreibung und Analyse der Entwicklung zur Weltfinanzkrise. Abschließend folgen Überlegungen zur Überwindung der Krise. Die Nutzer des Buches können sich aus der Fülle der Fakten selbst ein Bild machen über die Rolle der Moral auf den Märkten und im persönlichen Umgang miteinander.

Die Autorin widmet sich besonders engagiert den „Investmentbankern“. Sie fühlen sich als die Elite unter den Bankern und sind hoch spezialisiert, unter anderem auch auf die Bündelung und Restrukturierung von Krediten zum Weiterverkauf. Das sind die „strukturierten Produkte“. Die Vorstände der Finanzinstitute verstehen meistens gar nicht, wie die Autorin berichtet, was die Investmentbanker ihnen, gestützt auf komplizierte mathematische Modelle, anbieten. Solange sich der Erfolg einstellt, ist das Qualitätsbeweis genug. Als Orientierung dient der kurzfristige schnelle Gewinn. Daran bemisst sich auch das persönliche „Leistungseinkommen“, insbesondere der zusätzliche Bonus. Diese „Geschäftsmoral“ bildete eine wichtige Triebkraft für die Entstehung der „Finanzblase“ und führte schließlich zur Finanzkrise. Die gelobte „Globalisierung“ globalisierte auch den „Markt ohne Moral“. Die Autorin berichtet mit drastischen Formulierungen von ihren eigenen Erfahrungen mit dem Arbeitsklima. Wie im „Haifischbecken“ fühlte sie sich.

Nach dem beschriebenen Muster der Investmentbanker entstand eine Art weltweites „Schneeballsystem“. Um immer genug „Schnee“ nachkommen zu lassen, schuf die Fantasie der Finanzelite ständig neue „strukturierte Produkte“ durch Bündelung immer riskanterer – heute „giftig“ genannter – Vermischungen unterschiedlicher und immer schlechterer Risiken. Je größer eine Bank war, desto größer schien auch das Vertrauen der Kunden und Käufer in die Seriosität ihrer Geldanlage zu sein. Die Wirklichkeit beschreibt die Autorin eher als „Spielcasino“. Der „Herdentrieb“ und ein großer materieller Erfolg ersetzten Moral und Verantwortungsbewusstsein. Reichlich vorhandenes Geld – entgegen der Vermutung weltweiten Kapitalmangels – umrundete elektronisch in Sekundenschnelle den Erdball auf der Suche nach schneller Anlage und schnellem Gewinn, unabhängig von den Finanzierungserfordernissen der Realwirtschaft. Das weltweite Handelsvolumen soll nach neueren Schätzungen 2009 schon wieder bei 4.400 Billionen US-Dollar liegen. Dies übersteigt die jährliche weltweite Wirtschaftsleistung um das 70fache. Die Autorin spricht von einer „Finanzialisierung“. Das erinnert an das Schlagwort der „Kommerzialisierung“ für die Einbeziehung nicht ökonomischer Leistungen, wie Bildung und Kultur, in das Marktsystem.

In einem durch die Geldpolitik des Staates in den USA geförderten Eigenheimboom für Bürger mit kleinem und mittlerem Einkommen heizten die Banken den Boom an mit leichtfertig hoher Kreditfinanzierung und Absicherung mit Hypotheken auf die Immobilien. Nach dem erwähnten Muster wurden daraus neue „strukturierte“ Finanzprodukte geschaffen und verkauft. Viele neue hoch verschuldete Hauseigentümer gerieten nach Nichterfüllung der vorgegaukelten hohen zukünftigen Einkommenserwartungen in Zahlungsunfähigkeit. Daraus entstand eine Kettenreaktion. Am Ende kam auch die Realwirtschaft der Welt ins Trudeln, weil die Kreditversorgung nicht funktionierte. Da spätestens schlug in den weltweit wichtigsten Industrieländern die Stunde des Staates. Banken wurden verstaatlicht oder mit riesigen Summen unterstützt. Ebenso riesige staatliche „Konjunkturprogramme“ sollten zur Belebung der Realwirtschaft führen. Die Staatsschulden explodierten. Das reichlich vorhandene Geld im Finanzsystem konnte sich nun in staatliche Anleihen als sichere Anlage drängen statt risikoreiche Kredite an die reale Wirtschaft zu geben, was in besonderem Maße auf den Finanzplatz Deutschland zutraf.

Die von den USA ausgehende Kettenreaktion möchte die Autorin lediglich als Auslöser der Weltfinanzkrise sehen, nicht aber als eigentliche Ursache. „Die Wurzel allen Übels“ sei die durch die Wirtschafts- und Sozialordnung begünstigte „moralische Versuchung“ (moral hazard), große wirtschaftliche Risiken ohne angemessene Haftung mit eigenem Kapital einzugehen. Wenn das Unternehmen nur groß genug, d. h. „systemisch“ ist (siehe auch in der Realwirtschaft der Fall Opel), dann steht ein staatlicher Schutzschirm bereit. Das Buch begründet mit dem „moral hazard“ den Titel „Markt ohne Moral“. Bereits der Untertitel „Das Versagen der internationalen Finanzelite“ signalisiert aber bereits, dass diese Elite ohne Moral ist, nicht der Markt. Neues Vertrauen in sie und die Banken zu schaffen, was das Buch bereits im Vorwort als Zukunftsaufgabe voranstellt, erfordert aber eventuell wieder den Staat, wenn man liest: Notfalls „werden wir von der Politik verlangen müssen, dass sie härter durchgreift, als das von der Sache her möglicherweise notwendig wäre“.

Diese Schlussfolgerung bereits im Vorwort des Buches könnte ein Vorurteil andeuten in Bezug auf die „Sachlichkeit“ des Staates. Die Autorin warnt vor Bürokratisierung und Überregulierung, obgleich Schritte dahin noch kaum erkennbar sind. Was helfen dann aber alle die kenntnisreich berichteten Maßnahmen zur Reform des bestehenden Finanzsystems angesichts der Warnung vor der undurchschaubaren Vernetzung der mächtigen Lobby des Finanz- und Wirtschaftssystems mit den politischen Verantwortungsträgern? Die Autorin fordert deshalb schnelle Eingriffe unter Nutzung des entstandenen Volkszorns und bedauert, die Krise könnte aus dieser Sicht schon zu schnell überwunden worden sein. Daraus ließe sich folgern, dass zunächst nicht Vertrauen in die Banken und ihren „Markt ohne Moral“ begünstigt werden müsste, sondern anhaltendes Misstrauen.

Die „moralische Versuchung“ (moral hazard) als „Wurzel allen Übels“, konsequent weiter gedacht, stellt unsere gesamte Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung auf den Prüfstand. Die Umweltprobleme entstehen durch „moralische Versuchung“, den Staat dafür zahlen zu lassen. Dasselbe gilt für die Arbeitslosen wegen mangelnder privatwirtschaftlicher Rentabilität. Der Staat übernimmt die Aufgabe, „Lohnersatz“ zur Sicherung der menschenwürdigen Existenz zu zahlen. „Arbeitsersatz“ als öffentlicher Arbeitgeber zu gewähren, verbietet offenbar das Vorurteil aus dem marktwirtschaftlichen Ideal. Die geschätzten ca. 100 Milliarden Euro Aufwand jährlich für Arbeitslose würden einen ansehnlichen Fonds oder eine „Stiftung Arbeit“ speisen können, um die dringend notwendigen nicht privatwirtschaftlich rentablen „öffentlichen Arbeiten“ ohne zusätzliche Steuern zu finanzieren.

Die privatwirtschaftlich organisierten Teilnehmer am „Markt ohne Moral“ kennzeichnen „Gesellschaften mit beschränkter Haftung“ (AG, GmbH, GmbH & Co KG). Auch die Bürger formieren sich unter marktwirtschaftlichem Ideal als „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“. Der Staat wird gefordert, aber nicht gefördert, wenn Steuerzahlung als Diebstahl am persönlichen Einkommen gilt und der Staat als „Steuerstaat“. Schuldenberge sind die Folge. Darüber sollte man ernsthaft in Wissenschaft und Politik nachdenken.

Das wäre eine wichtige Ergänzung der von der Autorin in einem eigenen Abschnitt in Kapitel IX „Was kann, was muss sich ändern?“ gestellten „grundsätzlichen Frage“: „Wie groß soll der Finanzmarkt eigentlich sein?“ Einen solchen Denkanstoß hörte man bisher bei allen Überlegungen zur Vermeidung zukünftiger Finanzkrisen in Deutschland noch nicht. Der Ansatzpunkt ist die erwähnte „Finanzialisierung“. Es gibt dazu in GB und den USA Empfehlungen, den von der Größe und Marktdominanz abhängenden „moral hazard“ durch Zerschlagung der Großbanken zu reduzieren. Ein im Hinblick auf das deutsche Bankensystem interessanter Vorschlag empfiehlt die Abspaltung von „Utility Banks“. Die Autorin übersetzt das mit „Versorgerbank, im Sinne von Elektrizitäts- und Wasserversorgern“. In der gegenwärtigen Politik droht denen aber auch mehr und mehr die Privatisierung. Dies bedeutete wieder Auslieferung an den „Markt ohne Moral“ und Flucht aus der politischen Verantwortung. Eher ließe sich an die erwähnte Mischung im deutschen Banksystem von privaten Banken, Sparkassen, Volksbanken und staatlichen Banken denken. Gegen diese hegt die Autorin aber entsprechend dem traditionellen Vorurteil aus dem marktwirtschaftlichen Ideal nicht nur Misstrauen, sondern sie lehnt sie wegen Ineffizienz ab.

Alle Reformideen brauchen zur Durchsetzung ein starkes unabhängiges politisches System, das missverständlich mit der Kurzformel „Staat“ umschrieben wird. Die deutsche soziale Marktwirtschaft ist ein solches Leitbild. Es wird jedoch durch die von Wirtschaftsverbänden finanzierte „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ wieder in die Richtung des marktwirtschaftlichen Ideals interpretiert. Der Zorn der Wähler, auf den die Autorin setzt, muss deshalb schon sehr groß oder noch größer sein, wenn die im Buch wiederholt angeführte enge Vernetzung zwischen Finanz- und politischem System überwunden werden soll. Es stimmt in Deutschland nicht hoffnungsvoller, wenn im Buch erwähnt wird, dass der Chef der Deutschen Bank Präsident eines weltumspannenden und sehr mächtigen internationalen Bankenverbandes ist.

Dem Buch von Susanne Schmidt ist zu wünschen, dass es viele Leserinnen und Leser findet und so den Zorn der Wähler wenigstens in Deutschland nährt, vergrößert oder zumindest längerfristig erhält.

 

Susanne Schmidt: „Markt ohne Moral. Das Versagen der internationalen Finanzelite“, Droemer Verlag München 2010, 208 Seiten.


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Reinhard Blum

geb. 1933, Professor für Volkswirtschaft, VDSt Greifswald.

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