Grenzgänge

Westberlin im Kalten Krieg, das war vor und nach dem Mauerbau ein besonderes Biotop: Frontstadt am Schnittpunkt der Systeme, rundum bedrohte Insel; aber auch Ort einer wundersamen Kulturblüte und Anziehungspunkt für westdeutsche Studenten. Über seine Zeit dort ab dem Wintersemester 61/62 erzählt Ulrich Banniza v. Bazan.


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Das Studium begann ich nach dem verlängerten Wehrdienst im WS 59/60 in Freiburg; planmäßig nach dem SS 60 machte ich dort mein Vorphysikum. Im WS 61/62 wollte ich den Präp-Kurs 2 sowie das Praktikum in Physiologie und anschließend das Physikum ablegen. Wegen der großen Bewerberzahl für den Präp-Kurs 2 wurde eine Aufnahmeprüfung vorgenommen, in der das Wissen abgeprüft wurde, welches ich ja erst im Laufe dieses Kurses erwerben wollte. Ich hatte bei dieser Aufnahmeprüfung einen exzellenten Schlepper zur Seite, den Cfx Rainer W. Ich hatte alle seine richtigen Antworten abgeschrieben, aber leider auch eine falsche. Damit waren wir alle durchgefallen; dieses Praktikum fand für uns in Freiburg nicht statt. Und auch nicht im nächsten Semester: der Präp-Kurs 2 wurde nur im Winter abgehalten. Punkt.

Mit Bbr. Dieter Z., der gleichzeitig durchgefallen war, suchte ich nach Auswegen. In seinem „Wagen“, einer BMW Isetta, fuhren wir nach Homburg/Saar: auch dort war keine Chance für den Präp-Kurs 2. Wieder in Fr. eröffnete sich uns aber die Möglichkeit, diesen Kurs, aber nur diesen, an der FU Berlin wahrnehmen zu können; und so kam ich etwa Mitte November zum WS 61/62 nach Berlin, nach Westberlin.

An diese Fahrt habe ich eigentlich keine konkreten Erinnerungen, zumal sich die Erinnerung mit meinen vielen Zonen-Durchfahrten in den folgenden Jahren mischt. Aber auch diese Fahrt machte ich in der „Knutschkugel“ von Bbr. Z. – Vielleicht rühren daher meine gegenwärtigen chronischen HWS-Beschwerden.

In den vergangenen beiden Semestern hatte ich in FR die Bekanntschaft einer sehr interessanten hübschen BWL-Studentin aus Berlin gemacht, die jedoch wieder dorthin zurückgegangen war, da ihr nur 2 Semester in FR anerkannt werden konnten. Das traf sich nun gut: sie besorgte mir fürs erste eine Unterkunft in ihrer Nähe, in Dahlem, und ich hatte guten Grund, meine alten Kontakte weiterzuführen. Inzwischen sind wir seit bald 50 Jahren verheiratet.

Angekommen

Zunächst fand ich Unterkunft bei Frau Charlotte Sch. im Reichensteiner Weg 7 in Dahlem; ein Zimmer mit neu gesetztem Kachelofen, den ich aber aus Sparsamkeit nie richtig einheizte. Das Bett hatte eine tiefe Delle, die ich durch Unterfütterung mit einem Haufen alter Wäsche („Schmuwä“) aufpolsterte. Dort saß ich und klebte aus Papier ein Gehirnschnittmodell zusammen, zur Unterstützung meines Präparierkurses. Dabei lief natürlich immer das Radio. So hörte ich von einem Ostberliner Sender, dass der Import westdeutscher Medikamente in die DDR, egal in welcher Form, als Päckchen, als Mitbringsel oder sonst wie verboten sei. Als Begründung wurde die „Contergankatastrophe“ angeführt. Das war im Nov. 1961. Bei meiner späteren Berufstätigkeit als Assistent und OA von Prof. Marquardt in HD sind mir dann sehr viele Contergankinder begegnet.

Bei manchen feststehenden Begriffen musste ich umdenken: bisher galt die SBZ (später: DDR) als „drüben“; wenn Westberliner von „drüben“ redeten, meinten sie jedoch Westdeutschland, die BRD.

Das kulturelle Angebot in Berlin war überwältigend. Wir (meine Freundin und ich) besuchten beinahe täglich Konzerte, meist Kammermusik, oder Theater. Das alles wurde damals in der „Frontstadt“ sehr gefördert, gerade auch vom Bund. Einige Male waren wir auch in Ostberlin, z. B. in der Staatsoper Unter den Linden. Das Publikum dort war sehr „arbeitsnah“; zum Opernbesuch zog man sich nicht großartig um. – Zur Fahrt nach Ostberlin benutzten wir die S-Bahn; die „Einreise“ nach „Berlin, Hauptstadt der DDR“ erfolgte immer über den S-Bahnhof Friedrichstraße. Hier kreuzen sich die alte „Stadtbahn“ mit Verlauf West-Ost und die unterirdisch geführte Nord-Süd-Strecke, zusätzlich eine U-Bahnstrecke. Alles ist miteinander über viele Treppen, Gänge, Keller verbunden. Hier fanden die Grenzkontrollen statt, unterirdisch. Bei einer Heimfahrt verirrten wir uns in den Gängen dieses Termitenbaus und fragten dann bei einer Schaffnerin an der Bahnsteigsperre (die waren damals noch überall üblich, auch im Westen!): „Wir möchten gerne nach Lichterfelde-West, wo geht es dahin?“ – „Det möcht ick ja ooch gerne, aber mir lassen se ja nich“, war die Antwort, „jehn se da rechts die Treppe runta“.

Über die Grenze

Die Fahrten durch die Zone mit dem PKW konnten Zeit und Nerven kosten. Von Dahlem aus konnte man über die Clay-Allee, Zehlendorf, Potsdamer Str. zur Autobahnauffahrt zum Grenzkontrollpunkt Dreilinden/Babelsberg fahren. Oft stand dort auf der Autobahn schon eine lange Wartespur, die einen nicht mehr hereinließ. Deshalb versuchte man es als Dahlemer immer schon über die Auffahrt Hüttenweg; meistens konnte man sich dann auf der Fahrt nach Zehlendorf in die Wartespur einreihen. Bei stärkerem Verkehrsandrang half einem auch das nicht: man fuhr zum AVUS-Nordtor und schob sich nach einiger Zeit am Hüttenweg vorbei, eine Stunde später an der Auffahrt Zehlendorf. Wenn es noch hell genug war, konnte man links einen russischen Panzer T 34 sehen, danach eine Weile „Grenzsicherungsanlage“ = Mauer; in Wirklichkeit durchfuhr man schon Gebiet der DDR. Dann kam Dreilinden, Westberliner Kontrolle und wieder DDR-Gebiet. In Drewitz war ein breiter „Parkplatz“ angelegt, alle Fahrzeuge mussten sich einordnen: LKW/PKW jeweils zur Einreise in die DDR oder zur Durchreise in die „BRD“, Omnibusse … Die PKW-Spur für die Bundesrepublik war natürlich immer die längste Schlange; hier konnte man nochmals lange warten; aber das ging meistens noch viel schneller als in Marienborn, an der Grenze zur BRD. Dort konnte man noch mal bis zu 3 Stunden warten oder auch länger. – In Marienborn wurde man nach langer Wartezeit gründlich, penibel oder schikanös kontrolliert. Damals fuhr ich in einem VW-Standard (Bj. 1954, ein Juwel von Auto!). Alles Gepäck war in Koffern und Kartons hautsächlich auf der Rücksitzbank verstaut. „Bauen Sie mal die Rücksitzbank aus!“ Ich hatte dort keinen Flüchtling versteckt. Es fing an zu nieseln. Der Grenzer, „Moment mal“, stellte sich unter. Das Gepäck, die Kartons weichten ein. Nach gebührender Pause kam der Grenzer wieder: „Was ham se denn in den Gardon da drinne, packen se mal aus!“ Man duckte sich, man sagte nichts, man wollte ja noch vor Mitternacht zu Hause sein …

Andere Verkehrswege waren freilich auch nicht einfacher: auf allen S-Bahn- und Reichsbahnstrecken und Bahnhöfen in Westberlin hatte die DDR das Sagen! Bis zum Mauerfall konnte die Stasi dort Leute festnehmen und nach Ostberlin verschleppen, ohne durch die Westberliner Polizei oder durch die Westalliierten gehindert zu werden! Nicht nur für aktuelle Flüchtlinge eine immanente Gefahr, sondern auch für alle, die auf der Liste der DDR standen, z. B. aktive oder ehemalige Fluchthelfer.

In der S-Bahn kontrollierten „Vopos“ (Volkspolizisten) Reisende auf Westberliner Gebiet und konfiszierten unerwünschte Zeitungen und Druckschriften. So erzählte mir die Putzfrau meiner Wirtin (die täglich mit der S-Bahn fuhr), dass ein Vopo ihr den Lore-Roman (oder etwas Ähnliches) abgenommen habe; sie sagte ihm: „Ick fahr ja täglich die Strecke, Sie könn’ ma ja bei Gelegenheit den Schluss erzählen!“

Leben mit der Mauer

Zu Sylvester 1961 hatte meine Wirtin mir gekündigt; nach einer Feuerzangenbowle auf dem Haus in Zehlendorf hatte ich zu lautstark mein Bett aufgesucht. Mein nächster Wohnungsgeber wohnte Unter den Eichen 118, gegenüber der westlichen Grenze des Botanischen Gartens. Zum Leben hatte er sicher weit weniger als Hartz IV; seine Wohnung war ofenbeheizt; gegen die Kälte hatte er die Fenster mit dicken Wolldecken verhängt. Auf der Toilette hing neben der Klopapierrolle eine Tafel: Nur für den Untermieter und seine Besucher! Für seinen Eigenbedarf hatte er zerschnittene Zeitungen.

Von erfolgreichen Fluchtversuchen durch die Mauer las man damals in der Zeitung; unmittelbaren Kontakt zu Fluchthelfern hatte ich noch nicht. Nach Abschluss dieses Semesters ging ich wieder zurück nach Freiburg und legte dort im Oktober das Physikum ab. Gleich zum WS 62/63 ging ich wieder nach Berlin. Erst in diesem Semester, und zwar an seinem Ende, bekam ich Kontakt zu einem Fluchthelfer. Der schon oben genannte Bbr. Z. (Knutschkugel) klärte mich damals über eine Methode der Fluchthelfer auf, die bei B. Veigel (s. u.) als „Doppelgängertour“ beschrieben wird. Grundsätzlich waren hierfür mindestens 3 Westdeutsche in zwei PKW erforderlich. Am Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße umfuhr man im Zickzack zwei versetzt aufgestellte Mauern und parkte den PKW auf der rechten Straßenseite neben anderen PKW auf der Längsseite einer Baracke. Diese betrat man an deren vorderem Ende. In einem schmalen Vorraum waren an dessen Längsseite mehrere Schalter, die aber nur durch einen Schlitz erkennbar waren. Dort hindurch schob man seinen Ausweis (und wahrscheinlich einen Antrag auf Erteilung eines Tages-Visas; „Visa“ ist DDR-Diktion!) nebst Gebührenquittung. Hinter der Wand wurde der Ausweis/Antrag mit Fahndungslisten etc. abgeglichen; nach einer bedrückenden Weile kam der Ausweis mit abgestempeltem „Visa“ zurück. Von hier aus ging man in den nächsten, größeren Raum; hier gab es einen niederen Tisch, auf den man sein Handgepäck zur Kontrolle abstellte. Am anderen („östlichen“) Ende gab es einige Schautafeln mit Propaganda. Der erste Durchreisende (er hatte seinen Personalausweis und einen gültigen Passierschein) drückte sich hier eine Weile herum, bis der zweite Durchreisende (der eigentliche „Doppelgänger“) kam. Beide studierten die Propaganda, der zweite übergab dabei dem ersten seinen Personalausweis mit Passierschein. Beide trollten sich zu den geparkten Autos zurück; der erste fuhr mit einem Auto (und jetzt mit 2 Persos und Passierscheinen) nach Ostberlin weiter. – Der Zweite, jetzt ohne Ausweis, gesellte sich zu dem 3., der gerade ausstieg. Beide betraten den (westlichen) Eingang der Baracke; dabei übergab der 3. an den 2. einen neuen Perso., dieser reiste jetzt noch einmal ein. Dieser neue Perso. hatte natürlich einen anderen Namen etc., und das Bild sah anders aus (Frisur, Brille usw.). Und der 3. kam ganz normal hinterher. Am Ende waren 3 Männer (oder 3 Frauen) mit 2 PKW und 4 Ausweisen und Passierscheinen eingereist. In Ostberlin wurden die Bilder in einem Ausweis „umgehängt“, danach konnten 4 Personen ausreisen.

Das Verfahren ist hier sehr vereinfacht dargestellt. Tatsächlich waren immer viel mehr Personen beteiligt, aus Camouflage-Gründen und um die Grenzer abzulenken. Nach B. Veigel wurde jede derartige Schleusung vom Westen aus beobachtet, um notfalls optische Signale geben zu können. In der Tat hat dieses Verfahren gut funktioniert, bis etwa Febr./März 1963. Seit damals nahm ein Wachposten an der ersten Mauerdurchfahrt den Einreisenden die Ausweise ab und brachte sie von Zeit zu Zeit in die Kontrollstelle. Damit war die Doppelgängertour gestorben. Man versuchte sie noch einmal gelegentlich der Leipziger Messe. Mein Freund Dieter Z. hatte mich dazu motiviert. Ich drückte mich Anfang März eine Weile in Siegen bei Bundesbrüdern herum, statt nach Hause zu fahren, und wartete auf das Startsignal. Stattdessen kam von Dieter eine Absage: es sei zu riskant; und tatsächlich sind bei der Leipziger Messe einige Westdeutsche bei einem solchen „Doppelgänger“-Versuch festgenommen und verknackt worden.

Während des ganzen Kalenderjahres 1963 war ich in der Studentenvertretung der FU. Damals habe ich auch Burkhart Veigel kennengelernt, als Kommilitonen ungefähr im gleichen Semester. Erst im August 1963 erfuhr ich von Veigels Fluchthilfeaktivität; er wohnte im Studentendorf in Schlachtensee, das unter der Aufsicht des Rektors der FU (Prof. Ernst Heinitz) stand. Veranlasst durch die DDR, versuchte dieser damals, Veigel aus dem Studentenheim hinauszuwerfen – für den Rektor der Freien Universität Berlin, 15 Jahre nach ihrer Gründung und nur wenige Wochen nach dem Besuch des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy ein bemerkenswertes Verhalten.

 

Empfehlenswerte Literatur:

Burkhart Veigel:  „Wege durch die Mauer – Fluchthilfe und Stasi zwischen Ost und West“. Edition Berliner Unterwelten, 2011. ISBN 978-3-943112-09-2


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