Ich teile, also bin ich

Wir alle sind Zeugen einer digitalen Revolution. Google, Facebook, Twitter & Co. haben unser Leben tiefgreifend verändert. Doch erst für die Generation der nach 1980 Geborenen – die sogenannte Generation Y – wurde der Umgang mit den neuen Medien zu einer Selbstverständlichkeit. Sie lamentieren nicht, sie nutzen die sich ihnen bietenden Chancen. Philipp Riederle erklärt uns, warum wir uns vor dem Web 2.0 nicht zu fürchten brauchen.


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Kennt Ihr die Situation? Euer Kind kommt von der Schule nach Hause, setzt sich an den Computer, noch bevor es am Esstisch gesehen wurde, hackt wild in die Tasten, und auf dem Bildschirm flimmern Fotos und Nachrichten im Sekundentakt vorbei. Und so geht es offenbar den ganzen Tag weiter. Tagein, tagaus.

Ihr fragt Euch: „Was macht mein Kind eigentlich? Schwebt es da in dieser virtuellen Welt herum? Und warum geht es nicht mal raus vor die Tür, fährt mit dem Fahrrad um den Block?“ Ihr habt Angst, dass Euer Kind gar nichts mehr vom „echten“ Leben mitbekommt, wenn es offenbar alles nur noch durch die Scheibe des Bildschirms wahrnimmt? Aber vor der eigentlichen Antwort verschließt Ihr Euch. Sie lautet: Social Media sind keine „virtuelle Welt“, sie sind nicht etwas Fremdes, Bedrohliches, sondern ein neues Kommunikationsinstrument wie vor ein, zwei Jahrzehnten das Mobiltelefon.

Willkommen bei der Generation Y, der Generation Z oder der Generation C – C wie Connected. Uns sind schon so viele Generationenbezeichnungen übergestülpt worden, da sollte man sich nicht festlegen. Schließlich kann es uns auch egal sein. Die vom kanadischen Schriftsteller Douglas Copland aus der Wiege gehobene Generation X definierte sich noch über das gepflegte Slackertum, die gespielte Verzweiflung angesichts der lähmenden Multi-Optionen, die die Gesellschaft zu bieten hat. Wir nutzen sie. Mehr als Ihr vermutet. Unsere Leitfrage lautet: „Was ist für uns relevant?“

Mehrere Branchen verlieren gerade den Kontakt zur jungen Generation. Und dabei geht es darum, die Jungen nicht nur als Kunden zu gewinnen und zu halten, sondern gleichermaßen auch als Auszubildenden oder Mitarbeiter. Darunter auch so wichtige Wirtschaftszweige wie die Automobilindustrie, die damit zu kämpfen hat, dass ein Auto nicht mehr unbedingt ein Statussymbol ist und dass immer weniger Jugendliche den Führerschein machen.

Es ist aber nicht nur für die Digital Immigrants, die technologisch weitgehend unbeleckten digitalen Einwanderer, schwer, sich in der neuen Welt zurechtzufinden. Auch für uns Digital Natives ist es nicht immer leicht, uns zu orientieren. Wir sind schließlich die erste Generation, die in einer völlig neuen Medienwelt groß wird – in einer Medienwelt, die dabei ist, viele Bereiche des Lebens grundlegend zu verändern. Und als wäre das nicht schon schwer genug, kommen die Rahmenbedingungen auch noch aus einer anderen Zeit.

Die Spaghetti-Theorie: Von der Wand in den großen Topf.

Das so genannte Web 2.0, oft und vielfach als Raketentechnik behandelt, ist für uns ein Kommunikationsmedium, mit dem wir groß geworden sind – das für uns schon immer allgegenwärtig war. Das Neue, Revolutionäre, Gefährliche, Bedrohliche oder Großartige an diesem Medium: Die Grenzen zwischen Sender und Empfänger, Anbieter und Verwender verschwimmen. Früher gab es eine Handvoll großer Medienanstalten, die als „Gatekeeper“ die begrenzte Sendezeit oder Publikationsfläche verwalteten. Diese Medienunternehmen waren der einzige Sender und somit der einzige Weg zum großen Publikum. Ohne eigenes Medienunternehmen, ohne Produktionsteam, millionenschwere Technik und ein hinreichendes Budget schien das Erreichen eines medialen Publikums unmöglich.

Im Web 2.0 ist man nicht mehr Anbieter oder Nachfrager. Jeder ist Partizipant. Jeder Teilnehmer kann publizieren, kommunizieren, und weltweit Menschen erreichen. Im Internet findet jeder auch ohne Einflussnahme von oben sein Publikum, und sei es noch so klein. Manchmal wird es aber auch ganz groß: Die ersten Gesangsaufnahmen von Justin Bieber im zartesten Kindheitsalter sorgten für Furore – ebenso wie der Mathematikstudent, der eine schwierige Aufgabe auf YouTube für alle verständlich löst, der Blogger, dessen Meinung plötzlich unzählige Follower findet, oder auch der Diktator, der trotz massiver Attacken gegen die eigene Bevölkerung schließlich vor der Basisdemokratie des Mediums kapitulieren muss.

Mit einem Smartphone kann ich heute hochauflösendes Videomaterial produzieren, wie es vor wenigen Jahren nur im Kino zu sehen war. Bezeichnenderweise bringt heute kein Mensch mehr seine Filme zum Fotoladen an der Ecke und wartet auf die teuren Resultate, sondern fertigt einen beachtlichen Teil der privaten Filme und Fotos auf dem Smartphone an. Die Technologie ist hochausgereift, die Qualität hervorragend, und alles ist jederzeit machbar und kostenlos.

Ob ausgebildeter Journalist, Spaziergänger, Hobbyfotograf und -filmer oder Kameramann: Die Grenzen fallen. Die Qualität ist druckreif. Die Aussage macht den Unterschied. Content is king.

Und nicht nur deswegen haben wir unendlich viel Input, der jederzeit zur Verfügung steht: Millionen von Websites, Foren, Blogs, Wikis, Wissensspeichern, Content – und im Schnitt vierhundert bis fünfhundert Facebook-Freunde (1). Deshalb sind wir von Kindesbeinen an mit der Notwendigkeit aufgewachsen, zu selektieren, bis es uns in Fleisch und Blut übergegangen ist. Was ist relevant für mich? Womit will ich mich beschäftigen? Was ist es wirklich wert? Das Schöne daran ist ja: Wenn man etwas wirklich sucht – einen Begriff, eine Erklärung, ein Produkt –, dann sucht man nicht, man findet es. Sofort. Das Gleiche gilt für Zitate, für verschollene Bücher, seltene Kräuter oder Quellen ganz anderer Art.

Unsere Freundschaften sind intensiver

Von älteren Generationen kommt jedoch der Vorwurf: „Ihr habt doch in Wirklichkeit gar keine Freunde mehr! Ihr hackt doch nur noch in die Tasten, schaut auf leuchtende Farbpunkte und wisst gar nicht, mit wem ihr gerade kommuniziert! Das hat doch mit Freundschaft, so einer zum Pferdestehlen, nichts mehr zu tun!“

Ich habe mich lange mit diesem Einwand beschäftigt – oder vielmehr: Er hat mich beschäftigt, denn wenn man einmal vom Phänomen Facebook-Party absieht, bei dem man plötzlich und versehentlich mehr Freunde hat, als einem lieb ist (wenn man seinen Account nicht echten Freunden vorbehält), geht es den Usern um ernsthafte und, wenn es sich ergibt, auch enge Bekanntschaften. Verschiedene Studien kamen zu dem überraschenden Ergebnis, dass Facebook & Co. die User nicht apathisch oder einsam macht, sondern geselliger und umtriebiger. „Online-Freundschaften vertiefen und erhalten in aller Regel Offline-Freundschafen“, sagt der Sozialpsychologe Prof. Dr. Jaap Denissen von der Berliner Humboldt-Universität. Die Social Media bewirken, dass man sich öfter im richtigen Leben trifft als ohne Zugang zum Netz. In einem „Tal der Ahnungslosen“ in Ostdeutschland, wo es bis vor kurzem keinen Netzzugang gab, stellten die Wissenschaftler fest, dass die Annahme von Ehrenämtern, kommunalpolitische Aktivitäten oder Verabredungen zu Oper, Kino und anderen geselligen Dingen wesentlich seltener vorkamen als in vernetzten Regionen. (2)

Die Generation Facebook hat offenbar viel mehr „Freunde“ als früher. Das ist zunächst nicht weiter erstaunlich, und der Begriff „Freunde“ ist auch durchaus diskutierbar. Aber jetzt kommt’s: Unsere Beziehungen zu unseren Freunden dauern länger und sind wesentlich intensiver und gefestigter als die der Generation vor uns.

Damit ist keineswegs gemeint, dass Internet-User öfter chatten, sich auf Facebook oder per E-Mail austauschen – und dass das dann eine „wahre Freundschaft“ darstellt. Laut einer offiziellen Studie aus den USA (3) pflegen 56 Prozent der Nicht-Internet-Nutzer Freundschaften und Kontakte zum Beispiel durch Vereinsarbeit, Mitgliedschaften in Clubs und anderen Gemeinschaften, bei frequenten Social-Network-Usern sind es hingegen 82 Prozent, die sich offline engagieren, Freunde treffen, sozial unterwegs sind! Und ihr wollt mir erzählen, wir seien durch das Netz desozialisiert. Pah.

Man kann aber auch eine weiterführende Frage stellen: Wie kommt es eigentlich, dass unsere Generation überhaupt auf die neuen Medien so abfährt? Wieso wollen wir per Twitter, SMS oder auf Facebook kommunizieren, wo wir uns doch ohnehin den halben Tag in der Schule treffen? Dafür gibt es sogar eine biologische Antwort: Elektronischer Kontakt ist wie Kuscheln. Beim digitalen Kommunizieren wird ein Hormon freigesetzt, das uns ein ähnliches Gefühl gibt, wie wenn wir uns sinnlich, zärtlich und geborgen fühlen: das Kuschelhormon Oxytocyn (4, 5). Wer kennt es nicht, dieses anmachende Brausen, das in uns aufsteigt, wenn wir als Absender einer tollen Nachricht eine angenehme Person wahrnehmen?

In vernetzten Strukturen liegt die Zukunft. Sicher werden noch viele Probleme zu lösen sein – unter anderem die Frage des Urheberrechts, der Schutz vor persönlichen Attacken und der Missbrauch des Internets für politische oder kriminelle Zwecke. Grundsätzlich hat die zunehmende Vernetzung aber zu einer Annäherung zwischen den Menschen geführt – wenn wir wollen, sind wir mittendrin und nicht nur dabei. In diesem Wirkungskreis sind wir nicht einem Medienansturm ausgeliefert, sondern können uns orientieren: kein reiner Konsum mehr, sondern den eigenen Interessen folgen, keine Heuchelei, sondern Authentizität, keine definierten Zielgruppen, sondern soziale Einheiten, die sich unter einem Dach einer geteilten Passion finden und vermehren – Fans. Die Auflösung fester oder gar verkrusteter Strukturen führt aber nicht nur zu einem neuen Medienverhalten, sondern sie färbt auf unsere Lebensgewohnheiten ab. Vielleicht ergibt sich so ein neues Selbstverständnis oder gar eine neue Lebensform in der modernen „flüssigen Welt“.

Also: Wir wollen nicht nur empfangen, wir wollen dabei sein – nicht nur konsumieren, sondern aufgeklärt entscheiden, auch über Informationen und darüber, was uns gefällt und nicht gefällt. Nicht nur senden und empfangen, sondern sehen, hören, das Gute posten und uns selbst immer verbessern. Unseren Senf nicht nur beim Bier hinter Butzenscheiben unter Gleichgesinnten zum Besten geben, sondern ihn mit der globalen Community teilen und sich hinsichtlich der entscheidenden Dinge einig fühlen. Wir wollen nicht alles hinnehmen, was alte Medien uns zu sagen haben, sondern uns integriert fühlen. Wir wollen uns an uns selbst orientieren.

Willkommen im Club.

 

Zitierte Quellen:

(1) Arbitron, Edison Research, „The Infinite Dial 2012 – Navigating Digital Platforms“, 04/2012 (http://www.edisonresearch.com/wp-content/uploads/2012/04/Edison_Research_Arbitron_Infinite_Dial_2012.pdf, p.50)
(2) „Wo ist die Party? Hier ist die Party!“, in: Süddeutsche Zeitung Wissen v. 26.10.2012, S. 16
(3) PewResearchCenter,„The social side of the internet“, 01/2011 (http://www.pewinternet.org/~/media//Files/Reports/2011/PIP_Social_Side_of_the_Internet.pdf)
(4) Penenberg, Adam, „Social Networking Affects Brains Like Falling in Love“, 01.07.2010, FastCompany (http://www.fastcompany.com/1659062/social-networking-affects-brains-falling-love)
(5) Zak, Paul, „Trust, morality – and oxytocin“, 07/2011, Vortrag bei TEDGlobal2011 (http://www.ted.com/talks/lang/de/paul_zak_trust_morality_and_oxytocin.html)


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Philipp Riederle

geboren 1994, gilt als einer der bekanntesten Vertreter der Generation Y. Zuletzt erschien von ihm das Buch „Wer wir sind und was wir wollen: Ein Digital Native erklärt seine Generation“ (Droemer Knaur, 2013, 272 S., 12,99 Euro)

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