Integration praktisch

Lange Debatten, wenig Ergebnis: Ob wir Deutschen uns abschaffen, reicht als Fragestellung nicht aus. Wer Lösungen möchte, muss genauer hinsehen. Über Regel und Ausnahmen, falsche und richtige Erklärungsansätze, sinnvolle und weniger sinnvolle Differenzierungen.


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Die Integrationsdebatte der letzten Jahre sorgte für Schlagzeilen, Aufregung, Unmut und Lippenbekenntnisse. Bedauerlicherweise vermochte sie noch nicht, neben der bloßen Diskussion („das wird man ja wohl noch sagen dürfen“) auch tatsächliche Veränderungen zu bewirken.  Jedenfalls ist noch nichts bei den Integrationsarbeitern, Migrantenvereinen und „Kopftuchmädchen“ angekommen.

Wenn man hierzulande über Probleme spricht, werden meistens die Ausnahmen nicht erwähnt. Auch dann nicht, wenn es in bestimmten Bereichen so viele Ausnahmen gibt, dass sie schon zur Regel werden. Zum Beispiel, dass über zwei Drittel der Migranten und Ausländer aus den EU-Staaten und Europa kommen. Wir könnten ja daraus lernen, dann würden wir die Probleme lösen und hätten keinen Gesprächsstoff mehr. Dieser Artikel geht einen anderen Weg: Es werden natürlich Probleme angesprochen, dabei aber die Ausnahmen nicht verschwiegen, die durchaus zur Regel werden können – wenn es auch nicht immer und jedem bequem ist.

Wir sind (k)ein Einwanderungsland

Erst 2002 erklärte sich Deutschland offiziell zu einem Einwanderungsland. Das Thema Integration stand davor überhaupt nicht auf der Tagesordnung, wenn auch die sozialen Probleme längst da waren. Die Realität hat uns mittlerweile eingeholt und zumindest das Problembewusstsein geschärft. Nach fast 50 Jahren Zuwanderung ist es eine erfreuliche Nachricht. Das Tolle daran ist aber, dass wir nicht nur ein Einwanderungsland sind, sondern es auch entgegen manchen (nicht sehr ernstzunehmenden) Stimmen bleiben müssen. Die Fertilität der autochthonen Deutschen lässt nämlich sehr zu wünschen übrig und wird sich wahrscheinlich nicht verbessern. Damit verwandelt sich das „Problem“ Zuwanderung allmählich in eine (Teil-)Lösung unseres hausgemachten demografischen Problems. Die Einwanderung also abzulehnen wäre, gelinde gesagt, sehr töricht.

Verkümmertes Wertesystem

Es wäre der Albtraum eines jeden Freundes der deutschen Kultur, wenn das im Buchtitel des Werks von Herrn Dr. Sarrazin angedeutete Szenario sich verwirklichte: Irgendwann werde es keine Deutschen mehr geben. Das liege daran, dass die Einwanderer Deutschland durch Geburtenraten eroberten. Da sie überwiegend islamisch geprägt seien, wird überdies von einigen unterstellt, dass statt Goethe nur noch der Koran gelesen und der Kölner Dom in eine Moschee verwandelt werde. Das sind gleich zwei Probleme auf einmal.

Nun also zur ersten Ausnahme, die bisher immer zur Regel wurde: Die Tatsache, dass die Kinderzahlen der Einwanderer in der zweiten und dritten Generation sich denjenigen der autochthonen Deutschen angleichen, sollte nicht beruhigen, sondern vielmehr Anlass zur Sorge geben. Es scheint, als wären nicht einmal die vermeintlich kinderreichen Migranten dazu in der Lage, so viel Nachwuchs zu „produzieren“, dass die bevorstehende demografische Katastrophe verhindert werden kann. Überrannt von kreischenden kleinen Menschen mit Migrationshintergrund („MenmM“) werden wir Deutschen also höchstwahrscheinlich nicht. Irgendwann stirbt eher die gesamte Bevölkerung aus.

Die zweite Ausnahme besteht darin, dass jeder Mensch mit Migrationshintergrund, der ein deutsches Abitur (besonders in Süddeutschland) erworben hat, genau so viel deutsche Kultur in sich trägt wie jeder andere „echte“ Deutsche. Und welcher von diesen, mit Verlaub, liest heute noch Goethe…?

Als Zwischenfazit lässt sich festhalten, dass jedenfalls von gebildeten MenmM keine vielbeschworene Gefahr für das Deutschtum ausgeht. Vielmehr können sie sogar dazu beitragen, die deutsche Kultur zu erhalten und weiter zu tragen. Es lässt sich nicht selten beobachten, dass MenmM mehr Interesse an Fächern wie Deutsch, Geschichte und Philosophie zeigen als ihre Mitschüler ohne Migrationshintergrund. Deutschland gilt für eine große Zahl der Migranten als das Land der Denker, Dichter und Forscher, und nicht wie für viele Autochthone als das der Autobahnen und der ewigen Schuld, was nicht gerade dem Kulturbewusstsein zuträglich ist. Das gilt übrigens unabhängig vom kulturellen Hintergrund und der Religion, womit ausdrücklich auch der Islam eingeschlossen ist.

Lernen sollten wir daraus, dass wir die kulturellen Werte verstärkt selbst leben und vermitteln müssen. Woher soll ein Migrant wissen, was „deutsch“ bedeutet, wenn die (klassischen) deutschen Autoren aus dem Schulplan genommen werden und im Flimmerkasten nur RTL läuft? Was waren noch mal die (preußischen) „Sekundär“-Tugenden, die kaum noch ein Deutscher lebt? Welcher Durchschnittsdeutsche ist in der Lage, etwas von Schiller, Rilke oder Bachmann zu rezitieren? Ein pensionierter russischer Ingenieur kann indes noch immer Puschkins Werke aufsagen, und aus meiner Schulzeit in Sankt-Petersburg ist auch einiges noch hängen geblieben. Aus den sechs Jahren Deutschunterricht in Schleswig-Holstein dagegen vor allem die Diskussionen über Grass’ SS-Vergangenheit und das Binnen-I… Es ist nicht verwunderlich, wenn sich Einwanderer nicht mit einem „Tätervolk“ (Zitat eines Geschichtslehrers), das die meiste Zeit mit Selbstgeißelung und Oberflächlichkeiten beschäftigt ist, identifizieren möchten. Dieses Dilemma müssen wir aber nun mal selber lösen.

Dass die Migranten im Übrigen nebenbei noch ihre Muttersprache lernen und gelegentlich sprechen, schadet nicht, sondern steigert im Gegenteil ihre intellektuellen und integrativen Fähigkeiten, denn: Wer viel macht, kann viel. Und wer viel kann, macht viel. Sie beherrschen den Genitiv und tragen die deutsche Kultur erfahrungsgemäß in ihre Familien, Gemeinschaften und Vereine, sie setzten sich aktiv ein für die Integration. Davon profitiert unsere gesamte Gesellschaft und nebenbei auch die Wirtschaft.

Integrationsunwilligkeit

Der Migrant an sich ist vermeintlich integrationsunwillig oder gar -unfähig, insbesondere wenn er einen orientalischem Hintergrund hat. Als Ausnahme gelten Migranten, die ihre Herkunft verleugnen und ursprüngliche kulturelle Identität ablegen. Doch kann das Integration sein? Die Antwort kann nur lauten: Nein, kann es nicht. Die Prinzipien der Aufklärung und des Rechtsstaates fordern geradezu das Nebeneinander verschiedener Meinungen, Lebensentwürfe und Anschauungen. Die überwältigende Mehrheit der ca. 16 Millionen MenmM in Deutschland, davon etwa sieben Millionen Ausländer, hält sich an alle Spielregeln unserer Gesellschaft und stellt ihre davon abweichenden eigenen Interessen in den Hintergrund, und das unabhängig von ihrer Herkunft. Sie beherrscht auch die deutsche Sprache auf einem hinreichenden Niveau. Sie tut sehr viel und manchmal auch alles für ihre Integration. Das ist die Regel.

Die Ausnahmen, die sich in der Straßenbahn prügeln, haben kein Integrationsproblem, sondern ein Unterschichtenproblem: Ausgrenzung, Bildungsdefizit, Perspektivlosigkeit. Eine gewisse mediengespeiste Realitätsferne (man muss nur zum Casting gehen, etwas singen – und der Erfolg und das Geld kommen wie von selbst) kommt hinzu. Ihre gefühlte Integrationsunwilligkeit entpuppt sich so gut wie immer als Resignation und Selbstaufgabe. Wer in Hamburg-Wilhelmsburg oder Duisburg-Marxloh aufwächst und auf die Frage nach dem Beruf seiner Eltern mit „Hartzer“ antwortet, hat weder eine Hoffnung, dass er jemals etwas anderes werden könnte, noch eine Ahnung, wie er das anstellen sollte. Die gemeinsame Sprache der Deutschen, Russen, Türken, Italiener und anderer Nationalitäten in den Hochhaussiedlungen ist nicht Deutsch, sondern die Sprache der Mehrheit im jeweiligen Block – es kann bei den genannten Gruppen auch Farsi-Dari sein, wenn die Mehrheit Afghanen sind. Die Eltern, die sich unnütz vorkommen und Achtung vor sich selbst verlieren, die bei Behördengängen auf ihre halbstarken Kinder angewiesen sind, weil ihr Deutsch zu schlecht ist (wobei auch nicht jeder Deutsche die Behörden versteht), bieten hierbei kaum eine Stütze. So avanciert ein 15-Jähriger schnell zum Familienoberhaupt und lässt sich nichts mehr sagen.

Auf der anderen Seite steht jedoch eine Integrationsunwilligkeit oder gar -unfähigkeit unserer Gesellschaft. Integration ist keine Einbahnstraße, in Deutschland existieren bisher aber kaum Gegenfahrbahnen. Ein integrationswilliger Ausländer stößt auf manchen unüberwindbaren Widerstand in Form von sturen Beamten, undurchdachten Verordnungen, opportunistisch zusammengeschusterten Gesetzen und latenter Skepsis gegenüber allem Fremdartigen. Das beginnt schon bei der Wohnungssuche, wenn er die Blocks in Richtung Integration verlassen möchte.  Mit einem türkisch oder osteuropäisch klingenden Namen ist es so gut wie ausgeschlossen, eine Wohnung in einer „guten“ Wohngegend zu bekommen. Bei anderen Migranten verhält es sich ähnlich, lediglich die rechtlichen Hürden sind durch die Staatsbürgerschaft geringer.

Beispielhaft sei hier auf Asylbewerber eingegangen: Von allen gestellten Asylanträgen wurde 2009 nur 1,6 % entsprochen, abgelehnt wurden 39,4 %, sich anderweitig erledigten 26,8 %. Bei den restlichen 32,2 % (!) lagen gesetzliches Abschiebungsverbot oder Abschiebungsschutz vor (vgl. den Migrationsbericht des BMI). Das bedeutet, dass der größte Teil aller Asylanten in Deutschland weder über eine Arbeitserlaubnis verfügt, noch irgendwelche andere Bürgerrechte wahrnehmen kann. Im Jahre 2010 waren das ca. 300.000 Personen. Nicht einmal alle Grundrechte unseres Grundgesetzes stehen ihnen zu. Diese „geduldeten“ Menschen müssen bis zu zwölf Mal im Jahr (also monatlich) ihre Duldung bei der Ausländerbehörde verlängern lassen. Ferner müssen sie jederzeit mit einer Abschiebung rechnen und sitzen sprichwörtlich auf gepackten Koffern, und das über Jahre hinweg (teilweise mehr als zehn Jahre). Sie dürfen weder arbeiten, noch eine Ausbildung beginnen, und sogar der Schulbesuch der normalerweise schulpflichtigen Kinder ist problematisch. Schlechterdings niemand kann also von ihnen erwarten, dass sie sich in Deutschland integrieren, solange die Rahmenbedingungen dafür nicht gegeben sind. Es verwundert nicht, dass ein als Flüchtling eingereister Armenier, der wie der Autor seit 13 Jahren in Deutschland lebt und ebenfalls aus einer Akademikerfamilie stammt, im gleichen Alter einen etwas anderen Lebenslauf aufweist und nur unzureichend Deutsch spricht.

Eine große Zahl der geduldeten Flüchtlinge kommt aus islamischen Ländern. So lässt sich auch eine Brücke schlagen zu unserem durch Schlagzeilen geprägten Bild eines integrationsunwilligen jungen Machos mit erhöhtem Aggressionspotenzial und orientalischem Aussehen. Doch wenn wir auf jemanden mit dem Finger zeigen, sollten wir beherzigen, dass dabei drei Finger auf uns gerichtet sind.

Die Lösung des Problems könnte darin liegen, den zu uns kommenden Menschen die Möglichkeit zu eröffnen, einen Beruf auszuüben oder zu erlernen, in dem sie sich entfalten können. Ab 2012 soll die Duldungsregelung auslaufen und nicht in der alten Form aufrecht erhalten werden, es besteht also Hoffnung auf eine Verbesserung der Lage. Da wir am (insbesondere qualifizierten) Zuzug interessiert sind, wäre es sinnvoll, diese Arbeits- oder Ausbildungserlaubnis für Asylbewerber beispielsweise vertraglich mit der Verpflichtung zu verknüpfen, eine bestimmte Zeit in Deutschland zu arbeiten, bevor sie in ihre Heimat zurückkehren. Deutsch- und Integrationskurse könnten gerade dann ihre volle Wirkung entfalten, wenn die Ausländer wissen, wofür sie sich anstrengen. Denn diese Arbeit muss sich auch für sie lohnen.

Wir sind lupenreine Demokraten

Ein kleiner Teil der MenmM und der Ausländer verfügt über kein ausreichendes Demokratieverständnis. Es fehlt ihm nicht selten die Einsicht, in einem Rechtsstaat zu leben und sich gewissen Regeln freiwillig zu unterwerfen, aber auch garantierte Freiheiten zu haben und die Freiheiten anderer zu akzeptieren. Das liegt zum Teil daran, dass in ihren Herkunftsländern oft kein Rechtsstaat existiert. Bekommt ein MenmM bei einer Behörde eine Absage, fühlt er sich sogleich ungerecht behandelt und nicht verstanden. Dabei kommt es nicht selten vor, dass er einfach nur unvollständige Unterlagen eingereicht hatte: „Die Verwaltung soll doch nicht so kleinlich sein, es ist doch nicht so wichtig, dass die Übersetzung mein Nachbar gemacht hat und sie nicht amtlich ist. Sein Deutsch ist gut, und ich bin doch ein ehrlicher Mensch!“ Dass die Behörde sich an Recht und Gesetz halten muss und dass jeder Deutsche ebenfalls eine Absage erhalten hätte wird damit abgetan, dass dieser ja keine Übersetzung brauche und nicht in diese Lage gekommen wäre. „Dieser Nazi hat meinen Antrag nur deshalb abgelehnt, weil ich einen Migrationshintergrund habe!“ So ein anderer Betreuter, der alle Fristen trotz behördlicher Erinnerung verstreichen ließ und dem Antrag mit einem grünen Schein im Briefumschlag beihelfen wollte.

Andererseits trägt auch dazu bei, dass ein nicht geringer Teil der etwa sieben Millionen Ausländer, der in der zweiten oder gar dritten Generation in Deutschland lebt, politisch keine Mitwirkungsmöglichkeiten hat. Also interessiert er sich gar nicht erst für die gesellschaftlichen Entwicklungen, die er sowieso nicht beeinflussen kann. Das führt zu Politikverdrossenheit und Entfremdung.

Auf der anderen Seite zeigten die Politik und  die Behörden lange Zeit keine besonderen Bemühungen, die Anforderungen verständlich zu machen. Durch das mehrfache Wiederholen einer zu komplizierten Anweisung wird sie nicht klarer. Sogar Einheimische haben es oft nicht leicht, die Vorschriften zu verstehen. Hier besteht akuter Handlungsbedarf, denn in aller Regel sind die Migranten und Ausländer nach einer Aufklärung dazu bereit, den Vorschriften nachzukommen – wenn sie diese denn verstehen.

Auch dies ist unter anderem eine Frage der Bildung, der politischen Bildung. Für eine erfolgreiche Integration reicht die Beherrschung der deutschen Sprache bei weitem nicht aus. Wer sich auf der Schaffung der Deutschkurse ausruht, macht es sich zu einfach. Die Regeln des Zusammenlebens, die Freiheitliche demokratische Grundordnung und die Freiheiten und ihre Grenzen müssen verständlich und klar kommuniziert werden. Das muss sofort nach der Einreise erfolgen, also in der Muttersprache der jeweiligen Person, damit sie alles tatsächlich versteht und akzeptiert. In Kindergärten und Schulen müssen von Anfang an unsere Werte vermittelt werden. Diese Aufgabe übernehmen nun verstärkt die engagierten Migranten, von denen es viele gibt, in Vereinen und anderen Organisationen, selbst. Wir sollten dies ihnen gleich tun, wenn wir mit Ausländern in Berührung kommen. Das erfordert Engagement, wir müssen auf die Zuwanderer zugehen und ihnen unser Demokratieverständnis vermitteln.

Die Sippenhaft

Jeder Mensch tendiert wohl dazu, Dinge zu vereinfachen und zu verallgemeinern. Das vereinfacht den Umgang mit den Problemen, die Lösung scheint schnell gefunden. Einige Probleme sind jedoch so kompliziert und vielfältig, dass sie nicht auf eine Ja- oder Nein-Aussage reduziert werden können. So können wir auch nicht alle Menschen mit Migrationshintergrund über einen Kamm scheren, genausowenig wie die Ausländer. Zugleich ist die Differenzierung aber auch nicht einfach vorzunehmen. Wer die Menschen nach dem Herkunftsland oder nach der Religion einteilt, ist schnell fertig, wird aber nur geringen Erkenntnisgewinn ernten und gleichzeitig das gesellschaftliche Klima vergiftet haben. Im Moment werden alle Muslime in Deutschland wegen unterstellter Demokratieunfähigkeit oder gar -feindlichkeit und vermeintlicher Aggressivität ihrer Religion in Sippenhaft genommen. In der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts waren es die Juden, die „inkompatibel“ waren. Wer wird es in Zukunft sein, vielleicht die Chinesen?

Die fundamentalistischen Muslime hierzulande sind genauso eine Minderheit unter den deutschen Muslimen wie die Anhänger der Piusbruderschaft unter den deutschen Christen. Ganz zu schweigen von den betrunkenen Jugendlichen in der Bahn, die trotz ihres orientalischen Aussehens in keine Moschee hineingelassen werden, weil sie den Älteren keinen Respekt erweisen und wahrscheinlich nicht einmal wissen, wie die Qibla (die vorgeschriebene Gebetsrichtung der Muslime) in Deutschland ist.

Lasst uns die Menschen also individuell betrachten und aus der Sippenhaft entlassen, denn es gibt andere und viel bessere Kriterien für eine Differenzierung.

Der Milieu-Ansatz als Lösung

Um die Integration zu ermöglichen, müssen wir die soziale und gesellschaftliche Situation verschiedener Zuwanderergruppen und „Communities“ unter sozialen und gesellschaftlichen Aspekten betrachten. Die wohl sinnvollsten Ansätze dazu liefert die Milieu-Studie des Heidelberger SINUS-Instituts (www.sinus-institut.de, s. auch www.milieus-kirche.de). Die praktischen Erfahrungen aus meiner über zehn Jahre langen Migrationsarbeit (Alltagsbegleitung) zeigen, dass die Probleme und Lösungen innerhalb desselben Milieus über alle anderen Merkmale hinweg dieselben sind. Ob ein Russe, Pole, Kosovare, Albaner, Türke oder Iraner – sie alle haben gleiche Bedürfnisse und Interessen, wenn sie aus demselben (in diesem Fall prekären) Milieu kommen. Sie alle fühlen sich benachteiligt und nicht in der Lage, aus eigener Kraft den Aufstieg zu schaffen. Und die Gründe dafür sind auch bei allen gleich. Unabhängig davon, ob sie in Richtung Mekka beten, in der orthodoxen Kirche Psalmen singen oder auf dem Parkplatz Vodka trinken, müssen sie an die Hand genommen und auf den richtigen Weg gebracht werden. Wir müssen ihnen also die Richtung weisen und die Fähigkeiten vermitteln, die sie brauchen, um selbständig weiter zu gehen. Dazu gehören neben Sprachkenntnissen auch unsere Werte und das Demokratieverständnis. Wir müssen ihnen immer wieder die Chance geben, neu anzufangen, solange sie die gesellschaftlichen, also unsere, Regeln beachten. Diese müssen wir ihnen aber auch klar und unmissverständlich vermitteln. Wir können es tun als ehrenamtliche Mitarbeiter, als Nachbarn,  Kommilitonen, Kollegen oder Vorgesetzte. Es gibt zahlreiche Beispiele, bei denen es hervorragend funktioniert hat, und das muss uns und sie selbst ermutigen. Und wir sollten nicht vergessen, dass auch viele unserer autochthonen Landsleute sich ebenfalls im prekären Milieu wiederfinden und derselben Unterstützung und Integration bedürfen, wie die Migranten.


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Pavel Usvatov

geb. 1983, Jurist, VDSt Straßburg-Hamburg-Rostock.

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