Keine Kuhglocken bitte

Wer sind die Schweizer? – Eine Reise durch das Gebirgsmassiv der kollektiven Erinnerung


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Von der Aufklärung bis zum Ende des Nachhalls von Klassik, Romantik, Realismus und Moderne (also bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts) galt es unter Gebildeten als ausgemacht, dass nicht Soziologen, Juristen und Historiker die klügsten Analytiker einer Gesellschaft und ihrer Menschen seien, sondern die Dichter, vor allem die Romanciers. Wer das bezweifelt, möge das beim Thema Geschichte an den Geschichtsdramen Shakespeares und Schillers nachweisen, – es wird ihm nicht gelingen. Oder: Gibt es ein subtileres Bild der in den Abgrund rutschenden europäischen Gesellschaft vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges als in Thomas Manns „Der Zauberberg“ (1924; Schauplatz ist Davos)? Literatur ist alles andere als lebensfern und wirklichkeitsfremd, es geht ihr nicht ‚nur‘ um Ästhetisches, auch wenn sie scheinbar nur Fiktion ist.

Diese vom Bildungsschwund vernichtete Einsicht wird von einem Mann wiederbelebt, der von sich sagt: ‚Ich bin ein Fachmann für Wörter.‘ Es ist der emeritierte Schweizer Literarturwissenschaftler Peter von Matt (Universität Zürich), der die Literatur beim Wort nimmt als klarsichtige, mit Bildern statt mit Thesen argumentierende Denkweise. Sein Thema: die Schweiz.

‚Das Kalb vor der Gotthardpost‘ heißt sein neuestes Buch, eine Sammlung verstreuter Aufsätze und Essays, von Lob- und Festreden der letzten Jahre. (Wir verdanken Peter von Matt eine Reihe schöner kluger Bücher wie ‚Liebesverrat – Die Treulosen in der Literatur‘ (1989), ‚Verkommene Söhne, missratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur‘ (1995), ‚Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist‘ (2006) und ‚Wörterleuchten. Kleine Deutungen deutscher Gedichte‘ (2011), um nur die wichtigsten zu nennen). Der jetzige Titel nimmt Bezug auf Rudolf Kollers Gemälde ‚Die Gotthardpost‘ von 1873. Das alpine Idyll, für das zugegebenermaßen Friedrich Schiller im ‚Wilhelm Tell‘ eine ideale Image-Vorlage kreierte, ist gesprengt, und das ist bis heute so, sagt Peter von Matt. ‚Die Verquickung von Fortschrittsglauben und Konservativismus, ein janusköpfiges Voraus- und Zurückschauen zugleich, ist‘, so der Autor, ‚eine Eigentümlichkeit der Schweiz im politischen wie im literarischen Leben.‘

Peter von Matt benennt die Wirklichkeiten, gespiegelt in Literatur. Von Jeremias Gotthelf über Gottfried Keller bis hin zu Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch – überall wird das kollektive Schuldigwerden einer selbstgerechten Gemeinschaft thematisiert, wird die alpine Idylle aufgelöst. Um zur Gegenwart zu kommen: Ohne auf die Einzelheiten der Finanz- und Bankenkrise einzugehen, das ist gar nicht nötig, vergleicht er das hochgehaltene alpine Idyll mit den Eigentümlichkeiten der heutigen technischen Zivilisation und spricht von dem ‚jeder einzelstaatlichen Kontrolle enthobenen Finanz- und Bankensystem der Schweiz‘, das ‚in seinen bizarren Abläufen wahnhafte Züge‘ habe. Er vergleicht es, ‚was die Plötzlichkeit und fatale Wirkung seiner Aktionen betrifft, (…) mit dem Verhalten eines freilaufenden Geisteskranken‘.

Andere Teile des Buches sind nicht minder interessant. Peter von Matt reflektiert über das ‚Deutsch in der Deutschen Schweiz‘ und die deutsche Literatur in der Schweiz – ebenso kluge wie liebenswerte Überlegungen zu einer Gemeinsamkeit, von der sich, so scheint es ihm, viele Schweizer gefühlsmäßig, da Abgrenzungswünschen geschuldet, verabschieden möchten: der Irrweg in die Selbstprovinzialisierung. Daraus ein paar Zeilen:

‚Die These, der Dialekt sei in der Deutschschweiz die Muttersprache und Hochdeutsch eine Fremdsprache, ist heute häufiger zu hören als früher. […]

Der Widerstand gegen die Aussage, die Muttersprache der Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer sei nicht der Dialekt allein, sondern Dialekt und Hochdeutsch zusammen, beruht vor allem darauf, dass man die Muttersprache spontan mit der Kleinkindersprache gleichsetzt. […]

Parallel zu diesem Prozess der Aneignung und Erweiterung der Mundart vollzieht sich in der Deutschen Schweiz auch der Prozess der Aneignung und Erweiterung des Hochdeutschen. […]

Irgendwann lernt man, was es heißt, in einem Buch, in vielen Büchern zuhause zu sein, und zu diesem Behagen, diesem Leseglück gehört auch eine wohlige Vertrautheit mit der Sprache der Bücher. Dem Hochdeutschen eben. Dass man dieser Gestalt des Deutschen, das uns zu Bürgerinnen und Bürgern der ganzen deutschsprachigen Kultur macht, neuerdings immer abschätziger begegnet, ist bedrückend. Und geradezu lächerlich ist das Argument, Hochdeutsch sei eine unangenehme Belastung, weil man seine Regeln und seine Rechtschreibung mühsam lernen müsse und dafür oft genug schlechte Noten einfange.‘

‚Fühlen ist einfacher als Denken‘ schreibt Peter von Matt hintersinnig an anderer Stelle. Ein Glanzstück unter anderen: die Festrede zum 125jährigen Bestehen der Neuen Zürcher Zeitung. Eine brillante Reflexion über die ‚Empörung‘, besser die ort- und substanzlose ‚Empörungsbereitschaft‘, eine wohlfeile, weil durch die Ortlosigkeit des Internet am weitesten verbreitete Droge der Welt, wie der FAZ-Kritiker zurecht anmerkte. Der ‚Wutbürger‘ lässt grüßen.

„Dä isch tschuld!“ weiß die alemannische Schweizer Mundart, wie jede andere Mundart auch, bemerkt der Autor. ‚Tschuld‘, so Peter von Matt, ‚ermöglicht die Empörung und damit das Rechthaben und damit das Gefühl einer geordneten Welt. Wer mir zur Empörung verhilft, gibt mir festen Boden unter den Füßen. Nicht die Religion ist das Opium des Volks, wie Karl Marx meinte, sondern die Empörung‘. Man könnte einen Aphorismus Kafkas variieren: Die Empörung zieht die Schuld an.

Die durchaus vorbildhaften Seiten der Schweiz – das sei keineswegs vergessen und darf als bekannt vorausgesetzt werden – ignoriert Peter von Matt keineswegs: er möchte nur die Balance wahren. Ein vorbildhaftes Buch eines Schweizers über die Schweiz (und ein wenig auch über Deutschland). Eine Lust zu lesen.

 

Peter von Matt: Das Kalb vor der Gotthardpost. Zur Literatur und Politik der Schweiz. Carl Hanser Verlag, München 2012, 368 Seiten, 21.90 Euro.


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Dieter Jakob

geb. 1941, Anglist und Germanist, VDSt Erlangen.

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