Lehrjahre der Demokratie

Das Deutsche Kaiserreich wird heutzutage gerne allgemein als ein rückständiger Obrigkeitsstaat wahrgenommen – ein Bild das vor allem beim Versuch politisierender Historiker entsteht, die deutsche Geschichte in ein einfaches Schema zu quetschen, das am Ende unweigerlich auf den Fixpunkt Drittes Reich hinführt.


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201007lehrjahreDem setzt die Geschichtsprofessorin Margaret Lavinia Anderson in ihrem neuen Buch ein wesentlich differenzierteres Bild entgegen. Die Autorin geht von keinem politologischen Ansatz aus, sie erhebt nirgendwo den moralischen Zeigefinger. Sie präsentiert vor allem Fakten. Das Buch enthält eine wahrhaft beeindruckende Sammlung an Quellen (darunter sehr viele Primärquellen), die in lobenswerter Sorgfalt zusammengestellt wurden.

Trotz des wissenschaftlichen Stils ist das Buch durchaus lebendig geschrieben. Die politische Kultur wird nicht in abstrahierenden Ansätzen beschrieben, sondern in der exemplarischen Darstellung von Begebenheiten. Aus vielen kleinen Mosaiksteinchen ergibt sich so ein Gesamtbild. Es gelingt der Autorin, nicht nur die formalen Bestimmungen und bedeutenden Ereignisse zu erklären, sondern auch den schwer zu greifenden Geist der Zeit spürbar zu machen. Beim Lesen der Berichte, die manchmal wie anekdotenhafte Plaudereien daherkommen, kann sich der Leser direkt in das Kaiserreich hinein versetzt fühlen. Bei dieser Art der Darstellung lässt es sich nicht vermeiden, dass das Buch teilweise etwas unstrukturiert wirkt. Zum besseren Verständnis hätte es sicher nicht geschadet, an den Beginn des Buches eine prägnante Zusammenfassung der damaligen gesetzlichen Grundlagen und der Meilensteine ihrer Entwicklung zu stellen. Indem der Schwerpunkt ganz auf der politischen Kultur liegt, kommen diese Grundlagen, die zum Verständnis unbedingt notwendig sind, oft zu kurz, wodurch die Lektüre deutlich erschwert wird. Nicht selten sah sich der Verfasser dieser Zeilen genötigt, zum Verständnis des Genannten im Originaltext der Reichsverfassung nachzuschlagen. An einigen Stellen wirkt das Buch unpräzise, z.B. wenn erklärt wird, ein Vorteil der Regierung habe in ihrer Macht bestanden, den Reichstag aufzulösen. Ein Blick auf Artikel 24 der Reichsverfassung zeigt dagegen, dass dies nur mit Zustimmung des Bundesrates möglich war.

Rückständiger Obrigkeitsstaat?

Es zeichnet sich das Bild eines Landes, das ohne Zweifel noch keine Demokratie im heutigen Sinne war, aber in dem wichtige Grundlagen für den bis zum Ersten Weltkrieg fortdauernden Demokratisierungsprozess gelegt wurden. Im Vergleich zur Weimarer Zeit und zur Bundesrepublik waren die Rechte des Parlaments wesentlich stärker eingeschränkt. Der Reichskanzler wurde nicht gewählt, sondern vom Kaiser ernannt. Dadurch waren Legislative und Exekutive strikt getrennt. Wahlberechtigt für die Reichstagswahlen waren alle Männer über 25 Jahren, nicht jedoch Soldaten, verurteilte Straftäter und Männer, die der staatlichen Fürsorge zur Last fielen. Das Frauenwahlrecht wurde erst mit der Weimarer Verfassung eingeführt. Die Reichstagswahlen fanden zunächst in dreijährigem Abstand und ab 1888 in fünfjährigem Abstand statt. Es wurden keine Parteien nach dem Verhältniswahlrecht gewählt, sondern einzelne Kandidaten in den Wahlkreisen. Offiziell war das Wahlrecht zum Reichstag allgemein, gleich, direkt und geheim. In der Praxis war die Geheimhaltung zunächst jedoch in vielen Fällen nicht gewährleistet. Es gab damals noch keine Stimmzettel zum Ankreuzen wie heute, sondern man warf mitgebrachte Stimmzettel ein, auf denen nur der Name des gewählten Kandidaten stand. Die Wahlzettel wurden vor der Wahl von den Parteien verteilt. Dabei legten es einige Parteien ganz bewusst darauf an, die Wahlzettel so zu gestalten, dass sie auch in gefaltetem Zustand deutlich von den anderen zu unterscheiden waren. Dies taten die Parteien, die in der jeweiligen Region die größte wirtschaftliche Macht hatten (Konservative oder Nationalliberale) und infolge dessen häufig die lokalen Honoratioren stellten, die den Wahlvorstand bildeten. Es gehörte schon eine gehörige Portion Mut dazu, vor deren Augen einen nicht erwünschten Stimmzettel einzuwerfen. In der Folge entwickelte sich ein regelrechter Wettkampf der Parteien, im äußerlichen Nachahmen der Stimmzettel auf der einen Seite und „fälschungssicheren Gestalten“ auf der anderen Seite. Dieses Spiel fand ein jähes Ende, als 1903 Stimmzettelumschläge und Wahlkabinen eingeführt wurden. In der Folge bestand der Trick dann darin, die Urnen so zu konstruieren, dass die Umschläge sauber gestapelt einfielen und man am Ende nur die Reihenfolge abzählen musste. Die Initiative der Reichsregierung, diesen Missstand aufzuheben, folgte erst zehn Jahre später und kam vor dem Ersten Weltkrieg nicht mehr zur Anwendung. Eine weitere Problematik bei Reichstagswahlen war der Zuschnitt der Wahlkreise. Dieser wurde nämlich nie geändert, was angesichts des Städtewachstums unbedingt notwendig gewesen wäre. So hatte 1912 der bevölkerungsreichste Wahlkreis 25 mal mehr Bewohner als der bevölkerungsärmste. Die Landtagswahlen wurden durch die Länderverfassungen geregelt und waren im Gegensatz zu den Reichstagswahlen zumeist weder gleich noch geheim. In Preußen galt bis zum Ende des Kaiserreichs das Dreiklassenwahlrecht. Das bedeutete, dass die Bürger nach Steueraufkommen sortiert in drei Klassen aufgeteilt wurden, die jeweils ein Drittel des Gesamtsteueraufkommens umfassten. Jede Klasse besaß jeweils die gleiche Stimmgewalt. Gewählt wurde nicht durch Abgabe von Stimmzetteln, sondern in öffentlichen Wahlveranstaltungen, wo die Bürger einzeln aufgerufen wurden und ihre Stimme mündlich abgaben.

„Reichsfeinde“: Katholiken und Sozialdemokraten

Dabei wurden sie natürlich genau von ihren Arbeitgebern beobachtet und bei Abgabe einer unerwünschten Stimme gegebenenfalls entlassen. Diese Praxis konnte nicht gerichtlich unterbunden werden. In den Städten waren es die Industriellen, die so den Ausgang der Wahlen bestimmten, in den ländlichen Regionen waren es die Gutsbesitzer. In Ostelbien war deren Macht über ihre Untergebenen noch dadurch gesteigert, dass viele Güter als Gutsbezirke eigenständige Verwaltungseinheiten mit eigener Polizeigewalt und Rechtsprechung in der Hand des Gutsherrn waren. Diese Umstände führten mit dazu, dass die Konservativen in Preußen eine starke Stellung behalten konnten, was insbesondere wegen der preußischen Sperrminorität im Bundesrat von großer Bedeutung auch für das Reich insgesamt war. Die politische Auseinandersetzung im Kaiserreich war vor allem geprägt von den Gegensätzen zwischen der Reichsregierung auf der einen Seite und dem katholischen Zentrum und den Sozialdemokraten auf der anderen Seite. Viel stärker als heute war das Wahlverhalten von der Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Gruppe bestimmt. Durch die Reichsgründung 1871 waren die Katholiken in den neuen deutschen Grenzen zu einer Minderheit geworden, sie stellten nur noch 36 % der Bevölkerung. In dieser Situation begannen die katholischen Geistlichen, sich intensiv in die Politik einzumischen und für die Zentrumspartei zu werben. Bismarck antwortete mit dem “Kanzelparagraphen“, einem 1871 beschlossenen Gesetz, das die Redefreiheit der Geistlichen zu politischen Themen stark einschränkte. So begann der Kulturkampf, in dem die Reichsregierung mit aller Macht versuchte, die politische Macht der katholischen Kirche zu brechen, was jedoch nicht gelang. Die Haftstrafen, die auf Basis des Kanzelparagraphen verhängt wurden, machten die betroffenen Geistlichen zu Märtyrern und festigten so noch den Zusammenhalt der Katholiken. In den 1880er Jahren beendete Bismarck den Konfrontationskurs mit der katholischen Kirche; die Rivalität bestand jedoch fort und der politische Katholizismus blieb bis zum Ende des Kaiserreichs eine prägende Kraft. Der Argwohn, dem die Katholiken ausgesetzt waren, lag letztlich darin begründet, dass sie in der Zeit des stark ausgeprägten Nationalismus eher den Papst als den Kaiser als ihr Oberhaupt ansahen.

Schwindender Rückhalt für Reichsregierung

Noch prägender für die politische Kultur im Kaiserreich war jedoch die Auseinandersetzung mit den Sozialisten bzw. ab 1891 Sozialdemokraten. Hier wählte Bismarck das Prinzip „Zuckerbrot und Peitsche“. 1883 wurde die Krankenversicherung eingeführt, 1884 folgte die Unfallversicherung und 1889 fand die Sozialgesetzgebung mit der Invaliditäts- und Alterssicherung ihren vorläufigen Abschluss. Auf der anderen Seite unterdrückte Bismarck mit den 1878 beschlossenen und mehrmals bis 1890 verlängerten Sozialistengesetzen jegliche Form der Organisation sozialdemokratischer Gruppierungen. Da jedoch weiterhin Sozialdemokraten als Einzelkandidaten bei Reichstagswahlen antreten konnten, erhöhte sich auch in dieser Zeit deren Stimmenanteil im Reichstag. Insgesamt verlor die Reichsregierung im Verlauf der Zeit immer mehr an Zustimmung im Reichstag. Wurden 1871 noch 56,5 % der Sitze von Parteien belegt, die der Regierung wohlgesonnen waren, so sank der Anteil bis zur letzten Wahl vor dem Ersten Weltkrieg auf 25 %. Dabei muss noch berücksichtigt werden, dass die Sozialdemokraten stark dadurch benachteiligt waren, dass die Wahlkreise nicht den sich ausdehnenden Städten angepasst wurden. Sehr aufschlussreich sind die Betrachtungen zu den Wahlverstößen im internationalen Vergleich. Hierzu ist zunächst festzustellen, dass das allgemeine Wahlrecht international noch keine Selbstverständlichkeit war. In England konnten 1911 nur ca. 59 % der männlichen Erwachsenen wählen. Weder Gewalt, noch Bestechung, noch Stimmenfälschung spielten bei Wahlen im Kaiserreich eine nennenswerte Rolle. Was Gewalt im Zuge der Durchführung von Wahlen angeht, stand Deutschland damit im starken Gegensatz nicht nur zu Italien, Spanien, Griechenland und Irland, sondern auch zum angeblichen Musterland der Demokratie: den USA. Dort ging es in jener Epoche bei Wahlen selbst im Osten mitunter zu wie im wilden Westen. Auch was die Stimmenfälschung anbelangt, waren die USA in dieser Zeit das Land der Superlative. In Deutschland sind dagegen kaum Fälle dazu bekannt. Bestechung war vor allem in England weit verbreitet – und allgemein akzeptiert. Das Wahlrecht wurde teilweise verstanden als Lizenz zum verkaufen.

„Milchkuh-Republik“ Frankreich

Aus Deutschland sind dagegen fast nur anekdotische Fälle kleineren Ausmaßes bekannt, z.B. dass im Wirtshaus, in dem die Wahl stattfand (Wahllokal in wörtlicher Bedeutung!) alle Wähler eines bestimmten Kandidaten ein Bier ausgegeben bekamen. Frankreich erwarb sich den Spitznamen der „Milchkuh-Republik“. Hier fand der Stimmenkauf regelmäßig in der Form statt, dass die Regierung bei infrastrukturellen Maßnahmen und sonstigen die Kommunen betreffenden Entscheidungen jene Kreise bevorzugte, die „richtig“ gewählt hatten. Nicht nur bei den Wahlverstößen als solchen, sondern auch bei der juristischen Behandlung derselben zeigen sich interessante Unterschiede: In England waren Klagen wegen Wahlverstößen Teil des Privatrechts. Das bedeutete, dass zur juristischen Anfechtung, aber auch zur Verteidigung eines gewonnenen Mandats, sehr hohe Gerichts- und Anwaltskosten anfielen. In der Folge kam es eher selten zu Klagen und das Parlament wurde zu einem Club sehr reicher Herren. In Deutschland fielen Klagen wegen Wahlverstößen in das öffentliche Recht und die Kosten wurden vollständig vom Staat getragen. Anfechtungen fanden regelmäßig statt und sorgten stets für großes öffentliches Interesse. Das größte Problem bei Wahlen in Deutschland bestand in der Wahlbeeinflussung – durch Agitation, Ausnutzung von Abhängigkeitsverhältnissen und in einigen Fällen auch willkürliche Blockade. Dabei ist jedoch festzuhalten, dass die Initiative dazu stets von privaten Initiatoren oder niederen Staatsbediensteten ausging (wie im Falle des Hannoveraner Polizisten, der die konfiszierten Stimmzettel reumütig zurückgab, nachdem ihm sein Vorgesetzter erklärt hatte, dass dies eine freie Wahl sei).

Zartes Pflänzchen Demokratie

Es kam nicht vor, dass die Regierung versuchte, eine Wahl zu manipulieren. Das Fazit der Autorin fällt in etwa so aus: Die Wahlen im Deutschen Kaiserreich waren definitiv noch weit von unserem heutigen rechtsstaatlichen Standard entfernt, aber sie schufen eine Kultur, in der die weitere Demokratisierung vonstatten gehen konnte. Im internationalen Vergleich war das Kaiserreich, was seine demokratische Kultur angeht, alles andere als rückständig. Gesellschaftliche Konflikte wurden durch die Wahlkämpfe kanalisiert und auf diese Weise letztlich entschärft. Bei allen Anstrengungen der Regierung ihre Gegner zu schwächen, wie im Kulturkampf oder durch die Sozialistengesetze, blieben die rechtsstaatlichen Grundsätze erhalten, auf geltendes Recht konnte man sich verlassen, es gab keine staatliche Willkür. Dass die Revolution 1918 vergleichsweise unblutig und geordnet verlief, ist darauf zurückzuführen, dass sich in Deutschland bereits eine demokratische Kultur entwickelt hatte, die die Revolutionäre dazu veranlasste, das System nicht vollkommen umzustoßen, sondern lediglich zu reformieren.

 

Margaret Lavinia Anderson: Lehrjahre der Demokratie – Wahlen und politische Kultur im Deutschen Kaiserreich. Aus dem Englischen von Sibylle Hirschfeld, Franz Steiner Verlag, September 2009, 562 Seiten, Abbildungen, gebunden, 29.90 Euro Originalausgabe: Practicing Democracy: Elections and Political Culture in Imperial Germany, 2000 Princeton University Press


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Johannes Schwarze

geb. 1984, Verfahrenstechniker, VDSt Freiberg.

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